Strichlisten

„Und bei dir?“
Wir sitzen am Frühstückstisch und unterhalten uns über den vor uns liegenden Tag.
„Heute ist es ganz entspannt“, beantworte ich die Frage von Herrn Weh mit vollem Mund. In den letzten Tagen haben die Erstklässler mir ausnahmslos Freude bereitet. Ich schlucke einen Bissen Marmeladenbrötchen herunter. „In Mathe kommen Strichlisten dran, das sollte eigentlich kein Problem sein.“ Zur Freude meiner Kinder recke ich die Faust in die Luft und beschwöre gestenreich die Kraft der Fünf. Das Miniweh tut es mir umgehend nach: „Ja, die Kraft der Fünf… fünf was eigentlich, frage ich mich?“ Es nimmt die kleine Hand wieder herunter, kratzt sich hinter dem Ohr (sofortiger Läusescan: negativ!) und schaut fragend das größere Wehwehchen an. Welches – was wirklich ungewöhnlich am frühen Morgen ist – erstaunlich guter Dinge die Stimme zu einem geheimnisvollen Raunen senkt und dem Geschwister beschwörende Worte ins Ohr flüstert: „Wiggle wiggle! Die Kraft der Füüüühüüüünf“
Ach, hätte ich zu diesem Zeitpunkt doch schon über das Wissen verfügt, das ich bei der nächsten Familienmahlzeit anbringen kann… 11 Stunden später:
„Und wie war es mit der Kraft der Füüüüünf?“
„Pfft, frag besser nicht! Ein Drittel hat nicht zugehört und einfach wie wild Striche nebeneinander gesetzt. Und untereinander. Übereinander. Durcheinander! Das zweite Drittel hat einfach eine waagerechte Linie durch alle senkrechten Striche durchgezogen.“
„Und das dritte Drittel?“, fragt das größere Wehwehchen stirnrunzelnd; offensichtlich hat es mitgezählt. „Das dritte Drittel? Na, das war im entscheidenden Moment auf dem Klo.“
Tatsächlich war das mit den Strichlisten viel schwerer, als zuvor angenommen. Das Zählen an sich bereitet den Erstklässlern gar nicht mal so große Probleme. Was haben wir nicht alles gezählt an diesem Morgen: Kakaoflaschen (19), Cocktailtomaten (5), geringelte Strümpfe (4), Brillen (ebenfalls 4), Bohnen im Glas (da schwankten die Ergebnisse zwischen 29 und 136, wir prüfen das noch nach), große Brüder (5) und Spinnen auf der Mädchentoilette (2). Alles easy-peasy. Aber das korrekte Anfertigen einer Fünferbündelung? Allgemeine Verunsicherung und große Augen. Was will die Frau da vorne von uns? Dabei habe ich mir solche Mühe gegeben. Super Tafelbild, nette Rahmengeschichte. Tja, war wohl nix!
„Wo müssen die Fische hin?“, fragt mich also Tim und hält mir sein Mathebuch unter die Nase. Sehr erfolgreich hat er alle Meerestiere durchgestrichen, die roten, die grünen und die blauen auch. Aber keinen davon in die dazugehörige Liste übertragen. Ganz im Gegenteil zu Leonie, die auch das zu zählende Gemüse auf der Folgeseite in die Fischtabelle eingespeist hat. „Na, die müssen ja auch was essen“, entgegne ich mit einer Mischung aus Resignation und Galgenhumor, den Radiergummi schon im Anschlag.
Nach der Stunde treffe ich eine Kollegin aus dem 2.Schuljahr und erzähle vom erfolglosen Strichlistenversuch. „Oh, hör bloß auf! Das können meine zum Teil immer noch nicht. Da denkst du, das ist das Einfachste auf der Welt so ein paar Dinge zu zählen und Striche zu ziehen und dann hauen die dir die wildesten Kritzeleien um die Ohren.“
Immerhin dabei scheinen die Erstklässler deutlich begabter zu sein, als die Zweitklässler. Beim nachmittäglichen Nachsehen finde ich neben besagten Strichzeichnungen auch die korrigierte Fassung von Tim. Säuberlich hat er Fisch für Fisch in die Tabelle gezeichnet.
Alle 23.
Mit Luftblasen.

6 Kommentare zu „Strichlisten

  1. Oh je, aber die 23 Fische mit Luftblasen sind doch auch süß. Das sieht man natürlich nur von außen so. Aber interessant, dass solche Strichlisten offenbar einiges an Abstraktionsvermögen voraussetzen

  2. Liebe Frau Weh,
    ich muss immer wieder schmunzeln oder mitunter lauthals lachen, wenn ich deine treffenden Artikel lese. Großartig. Meine Bande ist gerade in die 2. Klasse „aufgestiegen“. Und ich freue mich daran, was sie dieses Jahr in der 1. Woche alles schon können (oder an welchen Alltäglichkeiten es gerade scheitert). Jeden Nachmittag, wenn ich die Schule verlasse, muss ich daran denken, welche Schreie ich am liebsten vor genau einem Jahr von mir gestoßen hätte – weil so „EINFACHE“ sachen einfach nicht klappten – das begann mit dem Beantworten der Frage, was überhaupt der Bleistift ist (mit dem alle anderen bereits seit 10Minuten arbeiten) und hörte bei besagten Strichlisten auf.
    Liebe Grüße und viel Kraft und Freude jede Tag

  3. Liebe Frau Weh….ich bin schon so lange stumme Mitleserin hier. Als LAA in den Anfängen finde ich es super spannend, wie dieses Chaos, das tagtäglich über mich hereinbricht, von „gestandenen“ Lehrerinnen erlebt wird. Und was ich hier lese, ist so herrlich vertraut und trotzdem irgendwie erfrischend. Ich kann nur sagen „same here“, mit der Ausnahme, dass man in meinem Fall (1.Klasse Sonderschule Geistige Entwicklung) zwischendurch auch immer noch mal wickeln und Sabber abwischen muss 😉 und egal, was für tolle Dinge ich für meine Unterrichtsstunden geplant habe, egal wie simpel sie mir erscheinen, sie werden immer zunichte gemacht von der spannendsten Erstklässler-Frage überhaupt: „Fraaauuuuu Beeeeeeeeeh? Wann gibt es Mittagessen?“ 😀

  4. Eins zu eins wie Matheunterricht am Gymnasium 🙂 — Wann immer ich denke „das sollte eigentlich kein Problem sein“ und mit wohlüberlegter Geschichte und Strukturiertergehtesnichttafelbild aufwarte, streichen die Schüler erst alle Fische aus und malen sie dann in die Tabelle ab. Nur dass unsere Fischchen nicht mehr hübsch süß und mit Luftbläschen daherkommen, sondern ausgenüchtert mit Integralzeichen und Vektorpfeilen. Und dass kein pubertierender Schüler mehr bereit ist, eine Aufgabe zum zweiten Mal anzufertigen. In dem Sinne: Weiter so, Tim, das wird schon!

  5. Liebe Frau Weh – mich fasziniert dieser Bericht und zeigt mir mal wieder, wie viel Arbeit die Grundschullehrerinnen schon erledigt haben, bevor die Kinderleins zu uns kommen. Leider sehen wir Gymnasiallehrer diese Arbeit oft gar nicht und denken: „Was ist denn das für ein Chaoshaufen, haben die nichts gelernt?“ Doch, haben sie! Das Chaos war noch viel viel größer.
    Sind ja auch Kinder.
    viele Grüße aus der Provinz

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