Schuld und Verantwortung

Ich trage keine Schuld, aber ich trage Verantwortung.

Etwas ist passiert in den Sommerferien. Was genau, entzieht sich meiner Kenntnis. Sechs Wochen sind eine lange Zeit. Eine zu lange Zeit, in der wichtig gewordene Routinen auf einmal wegbrechen. Vielleicht liegt es daran, dass die Beziehung zwischen Ramons Mutter und ihrem neuen Freund auseinandergegangen ist. Mit lauten Worten und dem Geräusch zerbrechenden Geschirrs, das an Küchenwänden zerschellt. Vielleicht liegt der Grund darin, dass die Krankenkasse den Verlängerungsantrag für seine Therapie abgelehnt hat. Genau zu dem Zeitpunkt, in dem das Jugendamt ihn aus der vertrauten Tagesgruppe entlässt, weil der zuständige Psychologe den Bedarf nicht weiter bescheinigt. Irgendwas mit Budget steht einer Verlängerung entgegen. Vielleicht haben diese Dinge sich tief drinnen in der kindlichen Psyche abgesprochen und verbündet, um wieder zu zerstören, was in den letzten Monaten zaghaft gewachsen ist: minimales Vertrauen in die Welt und die Menschen drumherum.

Jetzt erkenne ich das Kind nicht mehr hinter der übergroßen Wut, die den einen finalen Ausbruch anzukündigen scheint in vielen kleinen und mittelgroßen Momenten. Fensterscheiben, Schulbänke, Spielgeräte gehen zu Bruch. So wie mein Leben, scheint das Kind stumm zu schreien, wenn Ramon mir wieder und wieder vorgeführt wird von den erbosten Kolleginnen, die das Pech hatten, an genau einem solchen Tag in der Aufsicht eingeteilt zu sein. Vergessen sind Antiaggressionstraining und über Monate antrainierte Krisenkommunikation. Ramon schlägt, tritt, ist außer sich. Es fällt mir schwer ihn zu erreichen. Oft bleibt mir nur die stumme Geste zur Leseecke, dem Rückzugsort so vieler Krisenmomente.

Ich möchte verstehen und kann es nicht. Ich möchte helfen und weiß nicht, wie das noch gehen soll. Der Zustand ist unhaltbar und nun scheint der Punkt ohne Wiederkehr erreicht zu sein. Dann – nach Klassenkonferenzen und Dringlichkeitsgesprächen – reicht die Mutter die Schulabmeldung ein. Sie fühle sich nicht unterstützt und ihr Sohn sei ohne Frage hier nicht gewollt. Würden wir uns auf der Straße und nicht im Büro befinden, es würde sich anfühlen wie angespuckt zu werden.

Ramon weint. Er will nicht von hier weg. Die Arme kann ich noch öffnen, in die er sich flüchtet, als ich ihm eine ordentliche Verabschiedung verspreche. So richtig, mit Kuchen und Abschiedsgeschenk. Ich trage keine Schuld, aber ich trage Verantwortung. Schwer liegt sie auf meinen Schultern. So viel Kraft, so viel Zeit. Wofür?

Die Drittklässler verstehen das Warum nicht. Aber sie malen und schreiben zum Abschied. Dies tun sie ehrlicher als die Eltern, die plötzlich Verständnis und Mitgefühl für ein Kind aufbringen, welches sie im vergangenen Jahr als ständige Bedrohung angesehen haben. Auf dem Abschiedsgeschenk der Drittklässler lese ich Sätze wie „es war nicht immer einfach mit dir befreundet zu sein, aber wir haben das hinbekommen“. Es gibt Tränen und Kuchen, Limo und gute Wünsche zum Abschied. Dazu Musik und Hausaufgabenfrei. Noch einmal soll sich Schule an diesem Ort schön und geborgen anfühlen.

„Es ist doch besser so!“, meint eine Kollegin, als ich mich nach dem Unterricht still auf meinen Platz im Lehrerzimmer setze. Besser wäre es von Anfang an gewesen, denke ich.

Schuld und Verantwortung. Wer kann da schon so genau die Grenze ziehen?

26 Kommentare zu „Schuld und Verantwortung

  1. Das ist so wunderbar geschrieben, dass mir Tränen in den Augen stehen.
    Ich wünsche Ramon, den Drittklässlern und dir, liebe Frau Weh, einen guten Neuanfang.
    Die Kraft und Energie, die du investiert hast war sicher nicht umsonst, auch wenn es sich jetzt sicher so anfühlt.
    Alles Liebe
    KARO

  2. Liebe Frau Weh,
    ich lese immer gerne in deinem Blog und habe mich noch nie zu Worte gemeldet. Mich hat dieser Eintrag sehr berührt und es ist kein Einzelfall. Bitte denke positiv und glaube daran, dass die zwei Jahre bei dir für den Jungen und dich nicht umsonst waren. Ihr habt trotz allem beide etwas daraus gezogen.

  3. OOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOO Frau Weh, nach diesem Bericht ist es in meinem Herzen weh. Und es gibt so viele Ramons! Und viele davon haben niemals die Chance einer solch einfühlsamen Lehrerin. Schuld? Verantwortung? Die ist an vielen Stellen zu suchen – oft ohne wahrgenommen zu werden. Trotzdem – Ramon hat die Erfahrung machen dürfen, angenommen zu sein, einen Ort zu haben. Das ist schon etwas. Ob dieses Gefühl bleiben kann? Das weiß keiner. Allen Beteiligten Mut und Hoffnung! Sissi

  4. Wieder muss man erkennen, nur ein klitzekleines Rädchen zu sein. Ein Rädchen, das wenn es nicht funktioniert, alles behindert, aber vor allem nicht alle anderen Rädchen zum Drehen bringen kann. Hilflosigkeit und Ohnmacht, die sich dann breit machen, ich kenne es so genau.

  5. Liebe Frau Weh,
    letztens habe ich mich noch gefragt, wie es wohl dir und Ramon geht… ich war, wenn du berichtet hast, immer sehr auf deiner Seite, konnte gut verstehen, nachvollziehen… Dein Bericht macht mich richtig betroffen…. aber… gleich fiel mir auch ein Satz ein, den eine Dozentin im Seminar Entwicklungspsychologie im ersten Semester losließ … ein Kind muss sich willkommen fühlen… und ich glaube genau dieses Gefühl hast du, habt ihr Ramon gegeben….und ein kleines Pflänzchen wird noch in ihm schlummern. Danke für dein Engagement, ich glaub nicht, dass es umsonst war.

  6. Dieser Text hat mich so berührt, weil ich vor einem halben Jahr in einer ähnlichen Situation war. Ein Kind, das Mitschüler und Lehrer schlug, trat und biss. Lehrer, die machtlos waren, sich aber jede freie Minute mit diesem Kind beschäftigt haben. Elterngespräche. Eine Mutter, die uns bittet, dass eine Lerntherapeutin in den Unterricht kommen darf, um zu prüfen, wo beim Lernen die Schwierigkeiten liegen. Ein letztes Elterngespräch: Eine Mutter, die uns vorwürft, wir haben ihr Kind aufgegeben und den Satz: „Übrigens war das keine Lerntherapeutin. Wir haben diese Frau geschickt, damit sie Ihren Unterricht begutachtet und das Ergebnis war erschütternd.“
    Es spricht für dich, dass es dir so nahe geht und du das „mit nach Hause“ nimmst.

    1. Das gibt’s ja nicht. Das tut mir so leid für dich…manche Dinge kann ich auch einfach nicht mehr nachvollziehen. Das tut weh 😦

  7. Liebe Frau Weh,
    als stumme Leserin möchte ich hier zum ersten Mal kommentieren. Fühle dich ganz doll gedrückt. Du hast dein Bestes gegeben und du hast Ramon (und deiner Klasse) gutgetan! Auch wenn es sich jetzt vielleicht erst einmal wie ein Versagen anfühlt, hast du doch so viel erreicht. Ramon konnte sich bei dir geborgen, angenommen und einfach wohl fühlen. Er war Teil deiner Klasse und du hast das zwei schwierige Jahre lang durchgehalten. Nun ist die Zeit leider zuende, aber die Erlebnisse haben Ramon, die Klasse und auch dich geprägt und gestärkt. Für Ramon warst du das große Glück. Schade, dass du ihn nicht bis zum Ende der Grundschulzeit begleiten konntest. Ich hoffe, dass es dir, deiner Klasse und auch Ramon in Zukunft (wieder) gut geht. Deine Berichte zeigen mir deutlich, dass es sich (trotz widriger Umstände) lohnt für „die vielen Ramons“ zu kämpfen und sie anzunehmen.
    Du bist nicht allein!

  8. Liebe Frau Weh,
    ich verstehe dein Unverständnis und erkenne im Verhalten der Mutter das Verhalten vieler Eltern wieder, die Angst um ihr eigenes Lebenskonstrukt haben. Vermutlich bist du zu nahe an Ramon dran. Er könnte etwas erzählen, dass ihre eigene Welt erschüttern würde. Da ist es dann immer einfacher, mit dem Finger auf andere zu zeigen und die Verantwortung abzuschieben. Das ist sehr schade für das Kind, denn ich glaube, dass er sich vermutlich wieder gefangen hätte, zumindest im schulischen Rahmen.
    Die Schüler, die bei mir landen (enden stimmt leider nicht immer) haben auch Ramons Biographie, in der Regel noch weiter fortgeschritten. Uns hilft es immer, wenn wir eine Schülerakte erhalten, wo das Verhalten und wirksame Maßnahmen gut dokumentiert sind, so dass wir weitere Misserfolge eher vermeiden können und das Kind schneller fördern können. Wenn du Ramon diese Akte auch noch auf den Weg geben könntest, ist dir mit Sicherheit der nächste Lehrer dankbar. Ist Ramon dem Jugendamt bekannt? Dann informiere auch dieses, damit ein passender Förderort für ihn gefunden werden kann. Sicherlich nicht gleich, aber in Zukunft.
    Ich bewundere dein Engagement und deine Erfolge, über die du berichtet hast ebenso, wie du förderlich für Ramon mit seinem Abschied umgegangen bist. Das bedeutet ihm sehr viel.

    Herzliche Grüße, Bianca

    1. Liebe Bianca,
      danke für deinen netten Kommentar. Leider dürfen wir außer dem Stammblatt und den Zeugnissen keinerlei Akteninhalt (und Ramons Akte füllt einen dicken Ordner) weitergeben außer auf Genehmigung der Mutter. Selbst einem Gespräch mit der neuen Klassenlehrerin muss die Mutter zustimmen, was verständlich und korrekt, aber natürlich nicht förderlich ist.
      Du arbeitest an einer Förderschule?
      Viele Grüße 🙂

  9. Kuchen hilft immer sowie auch Schokolade. Sei gedrückt Frau Weh. Mehr kann ich nicht mehr sagen, meine Vorredner waren schon fleißig genug. Ich schließe mich stumm an. LG Ela☕

  10. Liebe Frau Weh,
    ja, ich arbeite an einer Förderschule, Bereich ESE. In einem anderen Bundesland. Dass es bei euch alles ganz anders gehandhabt wird, haben wir schon leider in einem Austausch, als Ramon zu dir kam, festgestellt. Da hatte ich dir vorgeschlagen, dass er besser an einer Förderschule aufgehoben wäre. Du hattest ausführlich geantwortet, dass es bei euch leider unmöglich sei und du nun das Beste aus der Situation machen wirst. Hut ab!
    Überrascht und begeistert habe ich danach gelesen, wie du es, trotz der riesigen Klasse geschafft hast, dass langsam zusammengewachsen seid. Das war eine enorme pädagogische und menschliche Leistung auf deiner Seite, die jetzt leider ein schnelles, unerwartetes Ende fand.
    In deiner Situation kannst du Ramon nur ziehen lassen und ihn schweren Herzens zu den Akten legen. Vielleicht gelingt es dir (evtl. mit der Klasse) noch einmal Kontakt aufzunehmen und ihn wertzuschätzen. Mehr kannst du leider nicht tun.
    Leider gibt es immer im Leben diese unerwarteten Abschiede. Das schmerzt, aber es hilft zu wissen, dass man sein Möglichstes getan hat. Leider sind Grundschullehrer eben nicht immer Phantasiehelden, die immer alles retten. Aber ganz oft sind sie es!! Manchmal hilft der Blick auf das Geleistete.

    Ich wünsche dir, dass du Ramon irgendwann gut für dich abschließen kannst. Das dauert bestimmt noch eine Weile. Und Ramon wünsche ich alles erdenklich Gute. Hoffentlich findet er noch viele gute Wegbegleiter!

    Viele Grüße!

    1. Liebe Bianca,
      stimmt, wir haben uns schon einmal ausgetauscht! Und im Grunde hattest du schon damals recht. Es stimmt, ich brauche vermutlich noch eine Zeit, um das alles für mich zu sortieren. Aber das Gute an einer großen Klasse ist ja auch, dass immer irgendetwas passiert, was Aufmerksamkeit fordert 😉
      Und wenn ich es von einer rationalen Seite aus betrachte, dann ist Ramons Weggang für die Lernatmosphäre der Klasse förderlich. Schon jetzt ist es wesentlich ruhiger und entspannter.
      Kontakt werden wir sicher noch aufnehmen. Wir schreiben an alle ehemaligen Mischüler einen Weihnachtsbrief.

      Dir danke ich sehr für dein ausführliches und wertschätzendes Feedback und wünsche dir selber auch Menschen, die dein Handeln so positiv und aufmunternd spiegeln wie du es bei mir getan hast 🙂

  11. Liebe Frau Weh,

    vielen Dank für die Unterscheidung und das Nachdenken über „Schuld“ und „Verantwortung“, das hat mir gefehlt und nun ist einiges klarer benennbar!

    Danke und alles Liebe,
    Barbara

    1. Liebe Barbara,
      ich glaube, es ist ganz wichtig, da zu unterscheiden. Dieses Gefühlsgemisch kennen wir vermutlich alle und für die eigene psychische Gesundheit ist es unabdingbar, Grenzen zu erkennen zwischen dem, was machbar und unsere Aufgabe ist, und dem, was nicht in unseren Händen liegt.
      Klappt bei mir aber auch nicht immer … 😉

  12. Liebe Frau Weh,
    das tut mir so leid! Auch ich hatte sogar zwei Ramons in meiner letzten Klasse und mein Herzblut hing daran, sie in der Klasse zu halten. Es tut mir so leid, dass das bei dir nicht möglich war! Aber auch ich denke, dass du ihm so viel geben konntest, was ihm keiner (auch die Mutter) nicht mehr nehmen kann. Dass nach den ferien Ankunftsschwierigkeiten sind, gibt es ja bei vielen Kindern. Ich wünsche Ramon, dass er auch weiterhin zu einer netten, hilfsbereiten, einfühlsamen Lehrkraft kommt. Am familiären Rahmen kann man als Lehrerin leider nichts ändern – das musste ich auch schon mehrmals schmerzhaft hinnehmen. auch ist es schön, wie deine Klasse auf den Abschied reagiert hat. Kinder sind so gut darin, Dinge ehrlich, auf den Punkt und dennoch nett zu formulieren. Ich wünsche dir viel Kraft und weiterhin ein großes, offenes Herz für deine Kinder – und es ist ja auch schön, dass es deiner Klasse trotz des Abschieds weiterhin gut (und einzelnen ohne Ramon vielleicht sogar besser) geht!

  13. Ich glaube, dass ganz oft kleine und weniger kleine Begegnungen ganz viel bewirken. Dass man da mitunter etwas mitnimmt, das einem im entscheidenden Moment hilfreich ist und den Ausschlag gibt, dass man sich zwischen einer destruktiven und einer konstruktiven Option für die entscheidet, die einen voranbringt. Ramon hat ganz sicher keinen leichten Weg vor sich, aber die Erinnerung an Dich, an euch, ist jetzt in seinem Gepäck, und vielleicht wird es genau das sein, was er eines Tages braucht und auf was er zugreift, um daraus Kraft zu ziehen, um etwas zu tun, zu lassen, um Hilfe anzunehmen. Das weiß man nie, aber auf jeden Fall habt ihr ihm etwas mitgegeben, das er vielleicht eines Tages wird nutzen können. Und er euch auch, so anstrengend und schmerzhaft es auch oft war.

    Ich bewundere, wie Du den schwierigen Balanceakt zwischen engagierter Fürsorge und Loslassen hinbekommst (so gut es eben geht – ein leichter, eleganter Tanz mit frohem Herzen ist das ja nie). Das macht mir Hoffnung, dass Du trotz Deiner Hingabe nie ausbrennen wirst. Und das ist Dir und all „Deinen“ Kindern sehr zu wünschen, denn Du bist offenbar goldrichtig da, wo Du bist.

    Alles Liebe und ein schönes neues Schuljahr
    Maike

    1. Liebe Maike,
      vielen Dank für deine freundlichen Worte, die genau zum richtigen Zeitpunkt kommen.
      Diesen Balanceakt, den du beschreibst, so hinzubekommen finde ich immer noch nicht einfach, aber genau das ist es, was ich mir dür dieses Jahr vorgenommen habe: Balance finden und halten. Ich arbeite dran!
      Einen schönen Feiertag und herzliche Grüße zurück 🙂

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