Das Leben der Anderen

Als ich heute von der Schule nach Hause komme, finde ich einen unerwarteten Brief vor. Der Absender, ein Herr Hans-Günther Schimmelpfennig aus Gelsenkirchen, ist mir unbekannt. Neben dem heute nicht mehr so geläufigen Vornamen lässt auch die sorgfältige und doch leicht knitterige Schrift auf einen älteren Verfasser schließen.

Neugierig öffne ich den Umschlag und lese folgende Zeilen:

„Sehr geehrte Frau Weh,

rein per Zufall bin ich auf eine Seite im Internet gestoßen, die mich neugierig gemacht hat. Ist das die Frau Weh, die ich kenne?

In einem Artikel vom 05.04.2007 ist dort zu lesen, dass ein „Kulturkreis geselligen Miteinanders und Austauschs“ sein 50-jähriges Jubiläum gefeiert hat. Dazu ein Foto: Die 1. Vorsitzende, Frau Weh, inmitten weiterer Vereinsmitglieder. Die Dame könnte vom Aussehen her die Frau Weh sein, die ich kenne.

Verzeihen Sie mir, dass ich Ihre Adresse herausgesucht habe, aber sind Sie es vielleicht? Ich weiß, dass die Eheleute Weh damals einen Umzug angestrebt haben. Erinnern Sie sich an vielleicht an die Familien Schimmelpfennig-Werner aus Gelsenkirchen? Wenn dem so wäre, würde ich mich sehr freuen, wenn Sie sich melden würden.

Mit freundlichen Grüßen

Hans-G. Schimmelpfennig“

Als ich das entsprechende Foto im Internet aufrufe, muss ich lächeln. Da sitzt in einer kleinen Gruppe Menschen, die sich um sie gruppiert haben, tatsächlich eine ältere Dame, schick frisiert und verschmitzt lächelnd. Klein und zierlich ist sie, das kann ich erkennen. Gekleidet ist sie stilvoll mit Strickjäckchen in keckem Pink zum adretten Rock, was sofort ein anerkennendes Lächeln bei mir aufziehen lässt. Die Dame scheint mit sich selbst und der Welt recht zufrieden zu sein. Ja, denke ich, das könnte ich in 35 Jahren tatsächlich sein. Beziehungsweise, berichtige ich mich, wäre es nicht schön, so zu werden?

In welcher Beziehung steht Hans-G. Schimmelpfennig, den ich im Kopf sofort noch um ein paar Jahre älter mache, wohl zu ihr? Er siezt sie, ein Paar können sie wohl nicht gewesen sein. Oder – Moment! – er spricht vom Ehepaar Weh, hat er sich vielleicht aus der Ferne nach ihr gesehnt? Waren Sie vielleicht Nachbarskinder und haben sich aus den Augen verloren? Den Artikel, den er zitiert, ist 10 Jahre alt. Wie lange mögen sich beide nicht mehr gesprochen haben? 20 Jahre? Oder 40? Ein ganzes halbes Leben mag vorbeigezogen sein. Möglicherweise ist dies seine Art der Rückschau, die Herrn Schimmelpfennig dazu bewogen hat, mir einen Brief zu schreiben, getragen von der Hoffnung, ich sei diejenige, welche. Ich stelle mir ihn vor, wie er auf Antwort wartet, vielleicht ist er aufgeregt, ungeduldig oder erwartungsvoll. Aber vielleicht mischt sich auch ein kleines bisschen Traurigkeit in sein Warten. 10 Jahre sind eine so lange Zeit. Ob die andere Frau Weh noch lebt? Wird Herr Schimmelpfennig sie finden? Wen werde ich am Ende meines Lebens vermissen, suchen, wessen Verlust vielleicht beweinen? Weder Frau Weh noch Herrn Schimmelpfennig kenne ich und trotzdem verspüre ich an diesem Mittag ganz unvermittelt Wehmut darüber, dass dieser Brief an mich nicht das Ende einer Suche ist, die so viel Zeit wohl nicht mehr erwarten kann. Es ist der Gedanke an die Vergänglichkeit, der mit diesen Zeilen zum Klingen gebracht wurde. Mir kommt die Aschermittwochsliturgie in den Sinn: Memento homo, quia pulvis es, et in pulverem reverteris. Die Zeit, die wir haben, ist ein Geschenk. Und sie ist endlich.

Als ich den Brief erneut zur Hand nehme, muss ich nicht überlegen, bevor ich zum Telefon greife und die sorgfältig notierte Nummer wähle. Nach dreimaligen Klingeln meldet sich eine warme, ältere Stimme.

„Guten Tag, Herr Schimmelpfennig. Mein Name ist Frau Weh, ich habe einen Brief von Ihnen erhalten …“

 

P.S. Vielen Dank für die vielen netten Worte zur Begrüßung in diesen Tagen! Ich habe mich über jedes einzelne gefreut!

Begegnungen

Es fällt mir nicht leicht, das Gefühl einzuordnen, das mich überkommt, als ich den Schulhof meines eigenen alten Gymnasiums betrete, um an der Erprobungsstufenkonferenz für meine letzten Viertklässler teilzunehmen. Vieles ist wie früher, sogar der Geruch in der Aula des Hauptgebäudes. Ich sehe die Schaukästen mit den ausgestellten Ergebnissen der Kunstkurse und erinnere mich an eine meiner Collagen, die dort hing. War das im siebten Schuljahr oder im achten? Später kann es nicht gewesen sein, denn recht schnell musste ich mich damals zwischen Kunst und Musik entscheiden. Eine Entscheidung, die ich bis heute bedaure, hätte ich doch beides gerne fortgeführt.

Ich gehe an der Mensa vorbei, die es damals noch nicht gab. Ein Zugeständnis an das G8. Mir begegnen Schüler, die mich mehr oder weniger neugierig anschauen. Einer winkt in Richtung Nebengebäude, ich scheine nicht die erste Grundschullehrerin zu sein, die ihm heute begegnet ist. Dann treffe ich im Konferenzraum ein. Die Tische sind zusammengeschoben, neben den Namensschildchen stehen Blumen. Alles ist freundlich und offen. Grundschulkolleginnen, die ich von Fortbildungen kenne, winken mich zu sich an ihren Tisch. Es fühlt sich fremd an und dennoch vertraut. Es fällt mir schwer die Schülerin abzuschütteln, die ich hier neun Jahre lang war. Doch ich kann nicht lange darüber nachgrübeln, denn pünktlich geht es mit der Begrüßung der Unterstufenkoordinatorin los. Unter den Gymnasialkollegen, die nun den Raum betreten, befindet sich ein ehemaliger Lateinlehrer. Er erkennt mich auf der Stelle und ungeachtet der noch andauernden freundlichen Begrüßung, kommt er mit großen Schritten auf unseren Tisch zu und schließt mich in eine Umarmung, die überraschend wohl wirkt.

„Ist das schön, dich zu sehen!“, sagt er, „Und wir sind Kollegen? Das freut mich sehr, dann sind wir jetzt beim Du!“

Er rückt einen Stuhl neben meinen und es dauert keinen Moment bis wir in eine Unterhaltung finden, die sofort ebenbürtig ist, was mich ganz kurz nur überrascht. Meine Klasse gehörte zu seinen ersten, da setzen sich Erinnerungen leichter fest als im späteren Kommen und Gehen. Dennoch … es müssen fast 20 Jahre sein. Wir erzählen über das Lehrersein, über Ansprüche, Forderungen und Berufungen. Aber auch über Vergangenes, gemeinsame Momente. Wo waren wir damals auf Klassenfahrt? War das diese furchtbare Jugendherberge? Und wie war diese Zeit damals? Es sind wertschätzende Worte, die fallen. Und auf einmal kann ich mein Gefühl einordnen: Es ist bittersüß und dem Verrinnen der Zeit geschuldet. Wo ist sie hin? Ich hatte wohl Glück in meiner Schulzeit. Viele meiner Lehrer waren Persönlichkeiten, die ich respektieren konnte und deren Freude am Unterrichten ansteckend war. „Ja“, nickt der Kollege, „wir waren ein ganzer Schwung enthusiastischer Junglehrer.“ Er lächelt ein klein wenig wehmütig. „Jetzt sind wir ein bisschen älter geworden. Es ist nicht mehr alles wie früher.“

Meine ehemaligen Schüler haben einen anderen Klassenlehrer, daher trennen wir uns nach einer Weile. Die Verabschiedung ist herzlich und ich habe noch ein Lächeln im Gesicht, als ich mich an den Tisch der neuen Klassenlehrerin setze. Sie ist sehr jung, wir kennen uns noch nicht, sind uns aber schnell einig. Sie bedankt sich für die gute Arbeit. Wieder bin ich überrascht. Hatte ich es anders erwartet? Vermutlich. Doch hier ist nichts zu spüren von Standesdünkel. Die Gespräche zeugen von Interesse und gemeinsamer Verantwortung. Die ganze Veranstaltung ist liebevoll geplant und verdient die Bezeichnung Konferenz nicht. Es gibt einen kleinen Imbiss und eine Vielzahl zwangloser Zusammenkünfte. Mittendrin kommt die Direktorin vorbei und dankt für unser Kommen. „Bitte haben Sie keine Scheu sich an uns zu wenden mit Ihren Fragen oder Anregungen. Wir wissen um Ihren Einsatz. Danke, dass Sie hier sind!“

Nach zwei Stunden verlasse ich die Schule. Im Gepäck eine große Portion beidseitiger Anerkennung und die Einladung auf ein Bier beim nächsten Ehemaligentreffen. Von meinem Lateinlehrer. Also hätte mir das einer vor 20 Jahren gesagt …!

Omnia tempus habent.

Ich ziehe das Tor hinter mir zu. Es quietscht. Aha, denke ich, wie früher.

Die Angst der Musiklehrerin vor St.Martin

Boah nee. Echt jetzt. Mir ist gerade total rabimmelig in der Rübe. Irgendwie ist dieses Jahr ja ganz plötzlich St.Martin. Gerade ist es mir aufgefallen. Bis eben war doch noch gar nicht so weit. Und jetzt müssen alle Kinder in nur vier Tagen alle Martinslieder durchsingen. Und an wem bleibt das hängen? Genau. Alle Ferienerholung – schwupps – dahin.

Fast alle Martinslieder sind in F-Dur. Ich mag F-Dur nicht. Das ist wirklich nicht meine Lieblingstonart. Und wenn ich eine Sehnenscheidenentzündung bekomme, dann immer rund um den 11.11.. Und immer links, wegen der Begleitung. Aber dieses Jahr bin ich schlau, ich transponiere (zumindest für die Gitarre, für den Quetschebüggel sind F und C ganz hervorragend geeignet) und begleite wahlweise mit Gitarre oder Akkordeon. Das ist zwar nicht gerade meine Spezialität, aber das muss ich ja keinem verraten.

Und dann die Marschkapelle! Die spielen, als ginge es um ihr Leben. Pech, wenn man mit der Klasse direkt davor oder danach läuft. Das knallt gut. Auch spannend, wenn man sich genau in der Mitte zwischen zwei Kapellen befindet. Dann kann man sich aussuchen, was man wo mitsingt. Ich warte noch auf den einmaligen Moment, wenn sich die aufeinandertreffenden Schallwellen gegenseitig aufheben. Und dann… Stille! Aber dafür müsste die eine Kapelle ja phasenverkehrt spielen. Phasenweise tut sie dies auch. (Ha ha, verkappter Physiker-Musikerwitz.)

Im ersten Martinszug, den ich nicht selber mit Laterne in der Hand lief, fiel das Pferd plötzlich um und war tot. So richtig mausetot. Das war ganz schön furchtbar. Und gescheppert hat es, denn hier auf dem Land reitet der Martin in voller Rüstung. Erklär das mal den Kindern. (Also das mit dem Pferd. Das mit der Rüstung macht ja durchaus Sinn.) Eine schlimme Geschichte. Alle haben laut geheult. Oder gelacht, je nach Einstellung. Auf jeden Fall ein Martinszug, der im Gedächtnis blieb. Das Pferd starb übrigens an Altersschwäche wurde später gesagt.

Ich glaube ja, es starb an F-Dur.

tribunal at 7.00 pm

Ich werde vor dem Weckerklingeln wach – heute ist das Tribunal und ich bin aufgeregt. Zwar bin ich mir recht sicher, dass ich teilnehmen darf, aber dennoch… Ich bin gespannt, was mich erwartet. General meeting und tribunal sind nunmal die Kernfaktoren des self-governments, für das Summerhill berühmt (und mancherorten auch berüchtigt) ist. Handelt es sich beim meeting um die legislative Festlegung, so ist das tribunal die Judikative der Schule. Hier werden Regelverstöße vorgebracht und mehrheitlich die Konsequenzen festgelegt. Und das immer basisdemokratisch. Jeder hat eine gleichwertige Stimme, Lehrer, Schüler, houseparents. Da die Schüler in der Mehrzahl sind, können sie (bis auf die Bereiche, in denen es um gesundheitliche, gesetzliche oder schulpolitische Belange geht) durchaus Regeln auch gegen die Meinung der Erwachsenen kippen. 14.00 Uhr ist es soweit. Hui.

Gleich bin ich mit Pascale verabredet, eine Stunde Deutsch mit den Kleinen, eine Stunde Französisch mit den Älteren. Ich habe ihr versprochen, ein bisschen Bilderbuchkino zu machen. Lustigerweise hat sie eine deutsche Ausgabe von Alice im Wunderland da. Sehr seltsam. Aber da als Alternative nur meine Reclam-Reiseliteratur zur Verfügung steht (Kafkas Schloss und der Zauberberg von Mann, beides wohl nicht unbedingt geeignet für die 9jährigen), gibt es nachher also eine kleine Teeparty.

Überhaupt, der Tee. Ich habe noch nicht herausschmecken können, was das für Tee ist, den es in der Schule zu den Mahlzeiten gibt. Das Essen ist schon… ja, interessant. Gemüse scheint es nicht zu geben. Und wenn, dann hat es eine spannende Farbe und Konsistenz aufzuweisen. Aber eigentlich darf ich mich hier gar nicht beschweren, es ist normalerweise nicht gestattet, dass Besucher mitessen. Ich habe schon einen Sonderstatus, da ich wesentlich länger bleibe als die durchschnittlichen visitors. Insofern darf ich bei den Mahlzeiten anwesend sein. Zweifelhafte Ehre, da der Umgangston bei der Essensausgabe ziemlich rüde ist. Mir gegenüber sind die Schüler recht höflich – ich hatte ja anfangs andere Befürchtungen. Aber da die Schulinspektoren Zoe ziemlich im Nacken sitzen, wie mir Ruri, eine 16jährige Schülerin aus Japan, berichtete, sind die Schüler angehalten, höflich und zuvorkommend zu sein. Naja, manchen ist das offensichtlich nicht selbstbestimmt genug 😉

(…)

Das tribunal wurde wegen Enas Beerdigung von 14.00 auf 19.00 verlegt. Eigentlich mein offizielles Besuchsende, aber ich durfte bleiben. Die meetings finden in der großen Halle statt. Ich musste kurz vor der Türe warten, bis über meine Teilnahme abgestimmt wurde. Ja, ich war schon irgendwie aufgeregt, aber kein Problem, ich konnte rein. Und dann ging es ordentlich zur Sache. Oli war chairman, also Vorsitzender, dafür musste er zwei chairman-Kurse bei Zoe absolvieren. Es gab zwei Schriftführer, einen für das Mitschreiben der vorgetragenen Fälle und einen für die Strafen. Mit den Worten „I bring up…“ wurden die Fälle eröffnet. Es ging um Rauchen außerhalb der Raucherzone, aus dem Fenster springen, schlagen, drei Kaugummis wurden geklaut, Pudding übers Essen gekippt, Stören nach light out, rumpöbeln auf den Gängen, ins Essen spucken, vordrängeln bei der Essensausgabe usw. Die Strafen reichten von Geldstrafen (5 Pence bis 1 Pfund) über Gemeinschaftsarbeiten (Waschküchendienst u.a.) bis hin zu Verhaltensstrafen (früher ins Bett müssen bei der anstehenden Bonfire-Night. Da muss ich noch rauskriegen, was es damit auf sich hat.). Der Wortführer leitete die Versammlung, bestimmte die Strafe bei unentschiedenen Abstimmungen und verhängte Strafen für ungebührliches Verhalten (Lachen oder Reinquatschen) während des Tribunals. Oli wirkte wahnsinnig erwachsen und reif. Wir haben gestern ein paar Runden miteinander Tischtennis gespielt. Er ist 16 und nimmt seine Aufgabe für die Gemeinschaft sehr ernst. Er erzählte mir, dass die Entscheidung seiner Eltern, ihn nach Summerhill zu schicken, die beste gewesen sei, die sie hätten treffen können, da er hier seine Stärken ausleben und weiterbilden könne. Er hätte hier erfahren, wie wichtig Gemeinschaft sei, auch wenn es einen manchmal nerve, wenn ständig über alles abgestimmt würde.

Mir ist aufgefallen, dass, wenn jemand in seinem Fall zu persönlich oder zu stark von eigenen Gefühlen beeinflusst wurde (gerade bei den Jüngeren kullerten schonmal die Tränen vor Wut), dies von der Gruppe mit lautem „he he“ quittiert wurde. Nicht der persönliche Ärger des Einen soll die Anschuldigung begründen, sondern der offensichtliche Regelverstoß.

Das Tribunal mitzuerleben war hochinteressant. Es war beeindruckend mit allem, was ich über Neill, sein Konzept, seine pädagogischen Leitideen gelesen habe im Hinterkopf dazusitzen und ganz „in echt“ zu sehen, welche Demokratie an dieser Schule seit Jahrzehnten gelebt wird. Dennoch, ganz wohl war mir nicht dabei. Der Ernst, mit dem die Versammlung betrieben wurde, wirkte unkindlich. Ich meine, die jüngsten Schüler sind gerade 5!? Außerdem frage ich mich, ob die Anklage nicht zum reinen Petzen wird. Wo werden hier die Grenzen gezogen? (Wenn denn überhaupt welche gezogen werden.) Ist Schlagen nicht schlimmer als aus dem Fenster zu springen? Für mich auf jeden Fall eine ganze Menge zum Nachdenken. Ich werde mich jetzt ins White Horse verziehen und mich mal durchs angepriesene stout beer arbeiten. Klug eingesetzt spart das die Abendmahlzeit, hey, ich hab schließlich nur b&b!

Ach übrigens, um in Summerhill zu unterrichten, muss lediglich ein Lehrerpraktikum vorgewiesen werden. Ab morgen bin ich dran! Oh, oh.

*tbc*

Summerhill – was weißt du von Liebe und Anerkennung?

Nach ausreichend Schlaf und einem Frühstück mit beeindruckender Vielfalt im Cerealiensegment (damals – ich muss es schon wieder sagen – damals gab es hierzulande noch kaum mehr als die Kellogschen Cornflakes plus ein paar weniger süßer Variationen. Die Unmenge an verschiedenen Formen und Trockenheitsgefühlen im Mund, die mich beim Frühstücksflockenbuffet in meinem b&b empfingen – stilecht auf einem silbernen Servierwagen angeordnet – waren eine Wucht!), fand der 2. Besuch der Schule unter denkbar besseren Voraussetzungen statt.

Im Folgenden stütze ich mich auf meine damals glücklicherweise angefertigten Aufzeichnungen. Man möge den gelegentlichen stilistischen Schmu entschuldigen, ich war gerade 20 und der – in diesem Alter häufig anzutreffenden – irrigen Meinung, die Welt warte auf eine angehende Lehrerin wie mich 😉

Im Morgennebel bahnte ich mir erneut den Weg zur Schule. Das Anwesen umfasst 45.000 Quadratmeter und ist umgeben von alten Bäumen und verwilderten Sträuchern. Malerisch liegt das alte Herrenhaus vor mir, umsäumt von mehreren Pavillons, in denen teilweise Schüler, aber auch Unterrichtsräume und Werkstätten untergebracht sind. Es herrscht Ruhe, nur ein Hund bellt als ich mich dem Gebäude nähere. Mein Besuch findet zu einer ungünstigen Zeit statt: Bruce, mein Kontaktmann, lange Zeit Lehrer in Summerhill, ist letzten Term entlassen worden. Zudem verstarb knapp eine Woche vor meiner Ankunft Ena Neill, die nach dem Tode ihres Ehemanns die Schulleitung bis 1985 innehatte. Ihre Tochter Zoe, die bis heute die Schule führt, begrüßte mich knapp, verwies mich aber verständlicherweise an die Lehrer des staffs.

Tatsächlich wird Jonas, ein 15jähriger Schüler aus Deutschland, mein selbsternannter Fremdenführer werden. Er zeigt mir das weitläufige Gelände, die Baumhäuser, Ställe, die Unterrichtsräume und Wohnwagen der Lehrer. Außerdem den big beech, die altehrwürdige große Buche, von Neill gepflanzt, von der sich jeder echte Summerhillianer herabschwingen könne. Immerhin rund 5 Meter über dem Boden. (Besuchern ist dies übrigens… ja, genau, verboten). Dabei erzählt er, dass gerade ungefähr 70 Schüler verschiedener Nationalitäten zwischen 5 und 16 Jahren die Schule besuchen. Das Schulgeld liegt damals bei knapp 9000,- DM für drei terms. Verglichen mit anderen Privatschulen ist dies wenig, dennoch wird Summerhill hauptsächlich von Kindern der gehobenen Mittelschicht besucht. Die Teilnahme am Unterricht ist freiwillig, und, ja, Jonas hat nach seiner Ankunft vor zwei Jahren auch eine ganze Weile keinen Unterricht besucht, sondern hauptsächlich das Gelände erkundet wie er mir grinsend berichtet. Noten gibt es nicht, doch es besteht die Möglichkeit, eine Prüfung (das GCSE) in mehreren Fächern abzulegen, die in etwa unserem Realschulabschluss entspricht, dies strebe er an. Samstags gibt es Taschengeld, wer zu spät kommt, geht für diese Woche leer aus.

Überhaupt sind erstaunlich viele Dinge sehr strikt reglementiert. Ich stehe staunend vor der mehrseitigen Regeltafel im großen Versammlungsraum, auf der offensichtlich alles geregelt ist, was es zu regeln gibt: niemand darf aus dem Fenster im 1.Stock springen, niemand darf ins Essen spucken, niemand darf ein Fahrrad ausleihen ohne zu fragen. Handelt es sich hierbei nicht um Selbstverständlichkeiten? Muss man dafür tatsächlich 238 Regeln schriftlich festhalten? Meine Neugier auf meeting und tribunal steigt, weiß ich doch mittlerweile, dass im tribunal oft recht harte Strafen bei Regelbruch verhängt werden. Beginnend bei Nachtischentzug (was einem beim dortigen Schulessen in der Tat hart treffen kann), über allgemeine Ordnungsarbeiten bis zu Geldstrafen.

Ich lerne die einzelnen Lehrer des staffs kennen, werde freundlich begrüßt und sofort von Jude, die Musik unterrichtet, zur nachmittäglichen lesson eingeladen („if there are some children…“). Pascale, die erst seit ein paar Wochen Französisch, Deutsch und Geschichte in Summerhill unterrichtet, erzählt mir, dass sie vorher an der Freien Schule Berlin unterrichtet habe und dorthin auch wieder zurückwolle. Unterrichten in Summerhill sei hart, da die Unterrichtsverpflichtung – die Freiwilligkeit gilt nur für die Schüler – nach den Stunden nicht aufhöre. Mahlzeiten und meetings kommen dazu, außerdem ist der Tag auch abends nicht beendet, da die Lehrer, die auf dem Schulgelände wohnen, auch nach der Unterrichtszeit neben den houseparents Ansprechpartner der Kinder sind. Die Vergütung ist gering, der Frustpegel oft recht hoch. So effizient es auch sei, mit ein, zwei Schülern zu arbeiten, so ernüchternd sei es, wenn danach drei Tage niemand zum Unterricht kommt.

Nachmittags klingeln mir die Ohren als ich in der recht gut besuchten – 5 Kinder sind gekommen – Musikstunde von Jude sitze, die fröhlich verschiedene Percussioninstrumente verteilt, auf denen in den folgenden 40 Minuten sehr ausdauernd und laut herumgeschlagen wird. Ich habe noch ein Rauschen im Ohr, als ich mich mit Pascale in ihrem Wohnwagen treffe. Wenig später stößt Michael zu uns, er unterrichtet science und erzählt mir, dass er nun seit drei Jahren in Summerhill sei, das sei eine verdammt lange Zeit und überhaupt werde er bald gehen. Die meisten Lehrer scheinen Summerhill als eine Art pädagogische Durchgangsstation zu sehen, ein Punkt, der sich interessant auf der Vita ausmacht, aber bloß nicht für längere Zeit. Aber geht dadurch nicht auch die Fähigkeit zur Zuneigung, Neill selber sprach von Liebe und Anerkennung, verloren, die sie ihren Schülern entgegenbringen sollen?

Pascale schweigt. Michael schnaubt. „Du bist 20, was weißt du von Liebe und Anerkennung?“

…tbc…

 

Die grüne Wolke oder The Last Man Alive

Es ist Samstagmittag und außer dem Pfeifen der Heizung höre ich…nichts. Stille. Wunderbar. Herr Weh hilft bei einem Umzug, das mittelgroße Wehwehchen befindet sich außer Haus und das Miniweh schnorchelt zufrieden in seinem Bett, den Arm voller Kuscheltiere, das Herz voll mit Liebe. Zauber der Kindheit.

Zeit also, um in Erinnerungen zu kramen.

Meinen ersten Kontakt mit den Ideen Alexander Sutherland Neills verdanke ich meiner Kunstlehrerin im 8.Schuljahr, die uns während der Doppelstunden aus der grünen Wolke vorlas, dem Buch, das auf den Fortsetzungsgeschichten basiert, die Neill in den 1930er Jahren seinen Schülern erzählt hat. Und was jetzt hier so hübsch betulich klingt, war es nicht. Die grüne Wolke ist die Geschichte eines Endzeitszenarios, in dem lediglich eine Handvoll Menschen den Auftritt der gleichnamigen Wolke überlebt, und sich dann – Stück für Stück – gegenseitig abmurkst und überlebt. Ich war fasziniert. Später im Pädagogik-LK (nein, da schäme ich absolut nicht für, wir hatten einen großartigen Lehrer, außerdem hatte ich noch Mathe im Abi, ätsch.) erfuhr ich dann einiges mehr über den Reformpädagogen, der die selbstregulative Erziehung in seiner Schule in England propagierte. Übrigens lange vor den 60ern. Im Studium beschloss ich dann – dankenswerterweise von einer Studienstiftung finanziell gut unterstützt – mir selber ein Bild von Summerhill zu machen, ein wenig dort zu arbeiten und Erfahrungen zu sammeln, die mein pädagogisches Leitbild bis heute prägen.

„Muss Summerhill schließen?“ ist eine in englischen Zeitungen häufig zu lesende Schlagzeile gewesen. Boomte die Schule, in der es keine Schulpflicht gibt, aufgrund der gesellschaftspolitischen Entwicklungen der 60er und 70er Jahre, so stürzte der Ruf in den Folgejahren umso tiefer. Kein Geld, keine ausgebildeten Pädagogen, kein Unterricht hieß es häufig. Tatsächlich empfing mich ein recht heruntergekommenes Gebäude als ich nach 16stündiger Reise (damals gab es noch keine Billigflüge, die schnellste Verbindung war der Eurostar) in Leiston, Suffolk ankam. Auf dem Gelände umherrennde Kinder nahmen keinerlei Notiz von mir. Lediglich Churchill, das Hausschwein, äußerte ein geringes Interesse an meinen Schuhen. Das war schon anders als das gerade beendete Praktikum an einer renommierten Domsingschule, bei dem ich mit Pauken, Trompeten und – natürlich – glockenreinem Ständchen verabschiedet wurde. Ich war müde, hungrig und irgendwie auch de-romantisiert. Hatte ich mir nicht vorgestellt, hier auf lauter glückstrahlende Kinder zu treffen, die mich, den Gast aus Deutschland, freudig-neugierig in ihre Mitte nehmen würden? Neben dem Haus hockte ein ca. fünfjähriges Kind laut heulend auf einer Schaukel. Doch auch hier erntete ich auf meine mitfühlende Frage, ob ich helfen könne, nur ein geschnieftes „ah, shut up, you f* bitch!“

???

!!!

Tatsächlich hätte ich in dieser kurzen Anfangssequenz meiner Zeit auf Summerhill bereits bemerkenswert viel lernen können. Wäre ich nur objektiv, offen und einigermaßen wissenschaftlich an die Sache rangegangen. Stattdessen war ich vor allem jung, naiv und persönlich betroffen.

Lektion 1: Summerhill hat so viele Besucher, dass sie keinerlei Besonderheit darstellen. Das ist gut, hat man dadurch doch einen recht unverstellten Blick auf das Schulleben.

Lektion 2: Erwachsene und Kinder sind absolut gleichwertig und gleichberechtigt. Ein wichtiges Prinzip Neills.

Lektion 3: Schimpfworte sind allseits beliebt und nicht unbedingt persönlich zu nehmen. Tatsächlich konnte ich mein Repertoire in dieser Zeit beträchtlich aufstocken. (Es kann ja SO befreiend sein, einem Jugendlichen, der permanent den Unterricht stört, ein gut gesetztes „Verpiss dich aus meinem Raum, bis du dich wieder benehmen kannst, du Sausack!“ entgegenzurufen. Auch das ist mit Gleichwertigkeit gemeint: beiderseitiger Respekt. In meiner ganzen bisherigen Lehrtätigkeit habe ich nie wieder so störungsfreien Unterricht halten können wie in Summerhill. Wenn dort jemand im Kurs saß, dann, weil er es wirklich wollte.)

Als ich an diesem Abend in mein geblümtes Bett in meinem geblümten Zimmer meines geblümten b&bs fiel, habe ich ein bisschen geheult. Zu meiner Ehrenrettung muss ich sagen, dass vermutlich viel Erschöpfung dabei war. Außerdem war es keine gute Idee gewesen, die Reise mit nagelneuen Doc’s anzutreten.

Ich fühlte mich wirklich wie der letzte Mensch auf Erden. Aber es sollte besser werden…

*to be continued*

DaSCHtin

DaSCHtin ist ein ehemaliger Schüler von mir. Gelegentlich treffe ich ihn auf der Straße, wenn er mit seinen Kumpels und einem Kasten Bier zum örtlichen Spielplatz geht, um sich zu langweilen chillen abzuhängen ach, was weiß ich, was die da genau treiben.

DaSCHtin trug vor einigen Jahren eine feste Zahnspange und war ein wirklich reizender Drittklässler. Durch die Zahnspange hatte er einen leichten SCHpraCHfehler. Bei allen S-Lauten SCHprühte DaSCHtin SCHpucketröpCHen. Aber er war ein so herziges Kerlchen, das war kein Problem.

Eines Tages fühlte ich während der Pausenaufsicht plötzlich, wie sich eine Kinderhand in meine schob. Ich schaute runter und erblickte DaSCHtin.

DaSCHtin (Leuchteäuglein, seeliges Lächeln): „ISCHCH liebe diCHSCH, Frau Weh!“

Oh, wie niedlich! Da geht das Referendarinnenherz auf (nie wieder wird das Gefühl von den Kindern gemocht zu werden so wichtig sein wie im Referendariat!) und rosa Wölkchen tanzen auf und nieder. Ich strahle also zurück und antworte – und ich schwöre, es rutscht mir einfach so raus:

„ISCHCH diCHSCH auch, DaSCHtin!“

UpSCH.

Sexualerziehung

Referendariat. Sexualerziehung, 2. Schuljahr. (Frau Weh ist zu diesem Zeitpunkt praktischerweise hochschwanger und darf gerne die komplette Reihe übernehmen.)

Behutsam erkläre ich die notwendigen Fakten.

Lena (völlig verdattert vom eben Erfahrenen): „Frau Weh, hattest du schon mal Sex!?“

Ich (geschätzter Bauchumfang ca. 105cm): „Öhm, ja, schon, Lena.“

Lena (beruhigt): „Na, dann kann das ja nicht so schlimm sein.“

Schweineblasen Teil II

Am nächsten Morgen habe ich einen gepflegten Kater. Also beschließe ich statt des Frühstück lieber eine Kopfschmerztablette und eine Ladung Magnesium zu mir zu nehmen. Vor der Badezimmertüre – ich erwähnte, dass es ein heißer, wirklich heißer Sommer war? – höre ich ein eigentümliches Summen. Seltsam. Ich öffne die Türe, das Summen schwillt an und…!

Wie soll ich ihn bloß beschreiben, den unermesslichen Ekel, den ich empfinde, angesichts der Millionen-, achwas, Milliardenschaft an Schmeißfliegen, die an jedem einzelnen Schweineblasenballon hängen? In Trauben kleben sie übereinander, bohren ihre vibrierenden Hinterleiber zur Eiablage in die weichen Hüllen. Ich kämpfe gegen den Drang mich auf der Stelle übergeben zu müssen, verlasse das Bad rückwärts, knalle die Türe zu und lasse mich kraftlos an der geschlossenen Türe herabsinken. Ich kann nicht mehr. Ich möchte heulen, mich übergeben, schreien. Alles gleichzeitig.

Lucilia sericata ist ein wirklich hübscher Name für ein solch mieses Geschöpf. Scheißschmeißfliegen! Haben die überhaupt eine Ahnung davon, was ich seit gestern erlebt habe? Sollte das alles umsonst gewesen sein? Heiße Tränen der Erschöpfung und Empörung rinnen meine Wangen herunter. So leicht lasse ich mich nicht unterkriegen. Nicht von einem Insekt!

Ich hole mir die rosafarbenen Gummihandschuhe aus der Schublade und binde mir ein Küchentuch („Enjoy cooking!“) um den Mund. Im Schlafzimmerschrank finde ich eine alte Taucherbrille und eine noch fast volle Flasche Haarspray. Dann nehme ich mir ein Feuerzeug und mache mich auf den Weg. Ich bin ganz alleine auf mich gestellt. Eine neue Spezies hat die Menschheit ausgerottet und einzig ich habe überlebt. Aber ich bin nicht bereit, kampflos in den Tod zu gehen. Oh nein! Ich nicht! Gedanken an Kafka und einen blut- und dreckverschmierten Bruce Willis schießen mir durch den Kopf, als ich erneut ins Badezimmer trete. Auge in Facettenauge mit dem Feind. Dann eröffne ich das Feuer.

Das Inferno ist unbeschreiblich. Der Geruch vebrannter – ja was eigentlich? – ist eine olfaktorische Beleidigung und schlägt mir trotz Tuch grob in die Nase. Ob es an den eingeatmeten Dämpfen liegt, am Adrenalin oder der schieren Verzweiflung, die meine Sinne benebelt, ich habe das Gefühl die Milliardenschaft der Scheißfliegen explodiert, nur um sich dann mit aggressivem Brummen zu einem einzigen Organismus zusammenzufügen. Es geht um Leben oder Tod. Ich bin bereit zum Äußersten. Die Fliegen auch. Sie wollen mich im Kollektiv vernichten. Fliegen mir in die Ohren, in die Haare und ins T-Shirt. Ich brülle. Ich schreie. Ich werfe Flammen.

„Nehmt das! Und das! Und das auch noch, ihr Scheißbiester!“

Mit zwei Sätzen bin ich beim gekippten Fenster angekommen und reiße es auf. Es dauert eine ganze Weile bis die Überlebenden den rettenden Ausweg gefunden haben, noch länger dauert die Beseitigung der Abertausend Leichen an. Mir klebt der Schweiß auf der Stirn, aber ich habe gesiegt. Ich habe meine Schweineblasen unter Einsatz meines Lebens verteidigt gegen eine Übermacht gefräßiger eierlegender Gegner.

Mit gehetztem, irrem Blick tätschle ich liebevoll über die Ballons („mein Schatzzzz, mein Liebesssss, mein Eigen!“)

Ich schließe das Fenster und verlasse ermattet das Badezimmer. Im Schlafzimmer falle ich aufs Bett und sinke fast augenblicklich in einen unruhigen Schlaf (schließlich ist da ja auch noch der Kater, der lautstark sein Recht auf Erholung einfordert). Als ich später am Tag aufwache, laufe ich sofort zur Badezimmertüre, ängstlich auf jedes Geräusch achtend. Aber nichts ist zu hören. Ich öffne die Türe. Dort hängen sie, meine Ballons, unversehrt!

Aber Halt, was ist das?

Ich trete näher und erkenne auf mehreren Ballons ein rosafarbenes Gewimmel. Die ersten Maden sind geschlüpft und fressen sich durch die Hüllen. Die Larven der Lucilia werden auch als Pinky Maden bezeichnet und sind sehr begehrte Angelköder. Keimfreie Maden werden schon lange erfolgreich in der Wundtherapie eingesetzt. Sind Schweineblasen, die im Hochsommer in einem Badezimmer aufgehängt werden, keimfrei? Wirre Gedanken schießen durch mein Hirn während ich fassungs- und tatenlos dem Gewimmel zusehe. Meine Kraft ist verbraucht.

Wie formuliert Jeff Goldblum als Chaostheoretiker Malcom in Jurassic Parc so treffend: „Das Leben findet einen Weg!“ Ich kapituliere vor der Natur, hole ein Messer, lasse ganz ruhig die Luft aus den Schweineblasenballons und tüte alles in zwei blaue Müllsäcke ein. Bis zum Abend putze ich das Badezimmer. Immer und immer wieder. Bei Anbruch der Dunkelheit lade ich die Müllsäcke ins Auto, hole auch noch die gestrigen Überreste aus der Tonne und fahre kilometerweit bis auf einen dunklen Autobahnparkplatz. Dort entledige ich mich der tierischen Überreste und mache mich auf den Heimweg. Nachts träume ich vom Friedhof der Kuscheltiere.

Ich habe die Trommeln dann mit Butterbrotpapier und Kleister angefertigt. Der Klang war ganz passabel. Den Schlachthof habe ich nie wieder betreten.

Schweineblasen Teil I

Heute bekam ich eine E-Mail einer ehemaligen Lehramtsanwärterin. Sie schrieb wie froh sie über die Ferien wäre und wie überraschend anstrengend der Übergang vom Referendariat in die erste richtige Stelle sei. „Früher hatte ich noch so richtig Zeit, um meine Stunden zu planen, das geht jetzt gar nicht mehr.“, klagte sie mir ihr Leid. Ja, so ist das. Bei 28 Stunden kann man sich nicht mehr den Luxus erlauben, länger als nötig darüber nachzugrübeln, ob in der einen Stunde als Sozialform Partner- oder Gruppenarbeit vorzuziehen sei und in einer anderen auf ein Schmuckblatt mit einfacher oder lieber mit Kontrastlineatur geschrieben werden soll.

Das weckt Erinnerungen ans eigene Referendariat. Natürlich ist Musik das schönste aller Fächer. Selbstredend beinhaltet ein guter Musikunterricht viele Elemente. Und selbstverständlich reagiert man als LAA verschnupft auf die interessierten Fragen des Kollegiums, was man denn außer Singen noch so mache in den Stunden. Also überlegt man sich für das nächste Schulfest eine besondere Darbietung: wir trommeln! Und zwar richtig, nicht so ein Kokolores wie das fußballherrliche dam dam dadadam, dadadada da dammm, sondern richtige Rhythmen. Afrika! Südamerika! Samba!!! Natürlich auf selbstgebauten Trommeln, man weiß ja, authentische Erfahrungen, sinnliches Arbeiten, fächerübergreifend und handlungsorientiert. Alles so wichtig!

Gesagt, getan. Aus finanziellen Gründen suche ich notgedrungen nach alternativen Bauelementen. In einem großen Teppichhandel erstehe ich Teppichrollen, die – mühsam per Hand auf 30 Stück abgesägt – den Trommelkorpus bilden werden. Aber was nun als Bespannung nehmen? Felle scheiden aus, zu teuer. Aber Schweineblasen müssten gehen. Da reicht eine für zwei Trommeln. Die gibt es im Schlachthof umsonst. Man muss da nur anrufen und vorbeifahren. Klingt einfach, oder? Ist es aber nicht.

Ich komme im Schlachthof an. Es ist Sommer, Hitze wabert über dem Pflaster, ein eigentümlicher Geruch liegt in der Luft. Ich klingele und werde in eine Schleuse geführt, in der ich mir eine Ganzkörperplastiktüte überstülpen muss. Oh. Also eigentlich dachte ich, ich bekäme nur ein Paket in die Hand gedrückt…? Nein, ich muss da rein. Wer Schweineblasen will, muss sie sich selber abholen. Einsam stehe ich auf einem weiß gekachelten Flur. An einer Leine über mir sausen Schweinehälften vorbei. Von links nach rechts.

Ich (verzagt): „Ähm… hallo?“

Ssssst, wieder eine. Seltsame Gefühle steigen in mir auf. Mir ist ein wenig blümerant. Trotz der recht kühlen Temperatur verspüre ich einen leichten Schweißfilm auf meiner Stirn. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ich hätte jetzt gerne das Gewünschte und dann raus! Da taucht jemand auf, der sich auszukennen scheint. Zumindest ist er ähnlich gekleidet wie ich, trägt das Outfit aber mit deutlich mehr Souveränität.

Ich: „Äh… hallo!? Moment mal, bitte!“

Vorsichtig, um nicht in eine Kollision mit einem halben Schwein verwickelt zu werden, setze ich Schritt vor Schritt in die Richtung des Mitarbeiters. Bemüht, nicht an eine ganz bestimmte Kurzgeschichte von Roald Dahl zu denken, in der interessierte Besucher einer Fleischerei schlussendlich selbst in der Wurst und später im Gasthaus auf dem Teller landen. Der Fleischer schaut mich interessiert an. Brust oder Keule? Was mag er denken? Mir ist nicht gut. Nein, gar nicht.

Irgendwie schaffe ich es und nuschle unter meinem Mundschutz, dass ich Schweineblasen abholen wolle. Der Schlächter nickt und verschwindet in Richtung der heranrollenden Schweinehälften. Ich schließe für einen Moment die Augen und wiederhole mantramäßig TrommelnTrommelnTrommelnTrommelnTrommelnTrommeln…Mit dem Fuß stoße ich gegen einen großen Behälter. Ich öffne die Augen: Schweinefüße.

Plötzlich steht ButcherBoy vor mir und drückt mir grinsend einen Plastiksack in die Hand: „Viel Spaß, junge Dame!“ Der Sack fühlt sich warm an. Mich würgt es.

Irgendwie schaffe ich den Heimweg. Zu Hause leere ich den Sack in die Badewanne und erstarre! Ja, es sind Schweineblasen. Aber sie sind gefüllt und außerdem noch so… komplett mit alldem, was die Natur einem Eber an gutgemeinter Ausstattung mit gibt. Landen nur männliche Schweine in der Fleischproduktion? Hatte uns nicht ein Biolehrer vor Jahren erzählt, dass sich Mensch und Schwein nur geringfügig unterscheiden? Jetzt glaube ich es. Ich muss mich setzen. TROMMELN!TROMMELN!TROMMELN!

Da hilft auch kein Mantra mehr, die Dinger müssen ab.

Ich hole die Küchenschere und versuche mein gesamtes Wissen über Freud, die Psychoanalyse, Kastrationsangst und Penisneid zu vergessen. Mutig angesetzt und ZWITSCH das erste Gemächt ist abgetrennt. Fieses Gefühl. Ich kann nicht lange darüber nachdenken, denn der Inhalt der Blase ergießt sich gerade über meinen Arm. Wuäh. Also wirklich, das hatte ich mir so nicht vorgestellt! Mir ist heiß und übel. Es riecht komisch und vor mir in der Badewanne ( in meiner Badewanne! Wie soll ich mich denn da jemals wieder reinlegen?) liegen 20 Schweinepenisse mit prallen Anhängseln und gut gefüllten Blasen. Ich schlucke, schalte mein Gehirn auf Standby und mache mich an die Arbeit.

40 elende Minuten später habe ich alles entmannt, die Überbleibsel in zwei Mülltüten und – damit man nichts sieht – eine Discountereinkaufstüte verpackt in die Mülltonne geworfen, die Blasen gespült und – Ekelfaktor unendlich – aufgepustet. An einer quer durchs Badezimmer gespannten Leine habe ich die Schweineblasenballons zum Trocknen aufgehängt. Badezimmer und ich selber sind geschrubbt und in Wolken von Sagrotan gehüllt.

Ich gehe in die Küche und betrinke mich.