Die neue Schule – die sich schon gar nicht mehr so neu für mich anfühlt – arbeitet deutlich kindorientierter als meine vorherige. Die Klingel ist abgestellt und signalisiert lediglich die Pausen. Der Unterrichtsbeginn ist offen und startet jeden Morgen mit Freiarbeit. Im Unterricht gilt das Klassenlehrerprinzip, sodass ich mit 18 Stunden bei den Erstklässlern eingesetzt bin. Da ich in der Vergangenheit keine eigene Klasse mit mehr als 12 Stunden führen konnte, empfinde ich diese Tatsache als ungemein entspannend, ermöglicht sie mir es doch, den Vormittag wesentlich umfassender zu gestalten, als ich es mit meinen bisherigen Klassen konnte. Dass eine Lerngruppe hiervon profitiert, stelle ich derzeit täglich fest. Noch keins meiner 1. Schuljahre war zu diesem frühen Zeitpunkt so verhaltenssicher, was Regeln, Ordnung und tägliche Abläufe anbelangt.
Wie sieht er nun aus, so ein typischer Morgen bei den Erstklässlern?
Die Kinder trudeln zwischen 7.30 Uhr und 8.00 Uhr ein. Sie sagen hallo, wechseln die Schuhe und machen dann einen Strich an der Tafel. Diese Strichliste üben wir seit ein paar Wochen, ich meine den Tipp in einem Kommentar im Lernstübchen gelesen zu haben. (Liebe unbekannte Kommentatorin, solltest du dies hier ebenfalls lesen, dann sei dir meines Dankes sicher, deine Idee ist einfach und großartig!) Anschließend werden die Hausaufgaben in das dafür vorgesehene Ablagefach geräumt und Arbeits- oder Korrekturmaterial aus dem eigenen Fach herausgenommen. Jedes Kind verfügt über ein Schubladenfach, in das ich je nach Leistungsstand Material oder den Hinweis auf entsprechende Freiarbeitsmaterialien lege. Es gilt die Regel „Fach vor Freiarbeit“, was bedeutet, dass zunächst zwei vorgegebene Aufgaben bearbeitet werden müssen, bevor die Kinder ihre eigene Auswahl treffen. Mir ist klar, dass diese Arbeitsweise nicht der reinen Definition von Freiarbeit entspricht, sie ist für mich und mein Unterrichten aber der gefundene Mittelweg zwischen Kontrolle und Vertrauen. Denn es gilt nicht nur generell, sondern insbesondere für Erstklässler: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist … ihr wisst schon.
In dieser Unterrichtsphase bin ich frei für einzelne Kinder oder kleinere Gruppen. Ich führe Material ein, stehe für Leseversuche zur Verfügung oder fördere gezielt einige Kinder nach Plan. Manchmal halte ich aber auch einfach ein kleines Schwätzchen mit einem Kind, bewundere neue Schuhe oder beobachte die Klasse. (Ich gebe zu, dass mir dabei manchmal ein zufriedenes Lächeln übers Gesicht huscht. Aber, hey, man wird sich seiner Arbeit wohl auch gelegentlich erfreuen dürfen!)
Freiarbeit – und danach?
Die Freiarbeitsphase endet mit einer festen Musik, woraufhin die Erstklässler das Material wegräumen und sich mit einem Teppich in den Kreis setzen. Die Bänke, die sich noch in meiner Ursprungsplanung befanden, mussten weichen – es war einfach zu eng. Im Kreis begrüße ich die Klasse noch einmal zusammen und dann wird eine ganze Zeit gesungen. Anschließend betrachten wir interessiert die Strichliste und freuen uns darüber, wenn sie lesbar ist und sogar die richtige Anzahl Kinder aufweist. Dies war in den letzten Wochen allerings erst viermal der Fall. Ansonsten scheint meine Kinderanzahl zwischen 17 und 45 zu schwanken. Tatsächlich fühlt es sich an manchen Tagen sogar nach noch mehr an. Tja.
Danach besprechen wir den Verlauf der Freiarbeitsphase. Gab es Probleme? Wie war die Lautstärke? Konnten alle gut arbeiten? Gibt es Materialwünsche? Dies mache ich von Anfang an, mittlerweile ist es eine kurze Abfrage und benötigt kaum mehr Zeit. Ich kontrolliere, ob alle Kinder ihre Hausaufgaben im vorgesehenen Fach abgelegt haben und erläutere die Tagestransparenz. Je nach Planung nutze ich den Rest der 2. Stunde noch für eine Einführung oder Übungsphase. Auch hier gilt, dass die hohe Anzahl an Klassenlehrerstunden eine größtmögliche Flexibilität ermöglicht.
Frühstück mit pädagogischen Hintergedanken
Die Frühstückszeit verpassen die Erstklässler bei allem Eifer dann aber doch nicht. Alles wird vom Tisch geräumt, der Kakaodienst beginnt mit seiner Arbeit und ich lese vor. Der Gruppentisch, der bis zu diesem Zeitpunkt am ruhigsten gearbeitet hat, wird zum Bullerbü-Tisch des Tages gekürt und genießt das unerhörte Privileg, die Bilder im Buch vor allen anderen gezeigt zu bekommen. Tatsächlich ist dieser Anreiz so groß, dass ich keinerlei weitere Belohnungssysteme einführe. Noch sind sie wirklich heiß darauf. Das tägliche Vorlesen halte ich persönlich übrigens neben einer guten Buchauswahl in der Klasse für den besten Lesemotivator. Lesen ist einfach großartig! Das lernen die Erstklässler schnell. Dann ist auch schon Pause und der erste Teil des Tages für die Kinder geschafft.
Und was bringt es?
Ich empfinde diese klare Struktur des Morgens als absoluten Gewinn. Die Kinder haben schon früh den Ablauf verinnerlicht und so ein gutes Zeitempfinden entwickelt. Ich selber habe durch den offenen Anfang mehr Möglichkeiten, mit einzelnen Kindern ins Gespräch zu kommen, ohne dass der Unterrichtsablauf dadurch verzögert würde. Selbst Überraschungsbesuche von Postbote, Getränkelieferant oder Hausmeister stören das Geschehen nicht. Es ist das erste Mal, dass ich mit einem so hohen Anteil von Öffnung arbeite. Dementsprechend üppig waren meine anfänglichen Zweifel gesät, ob ich die wirklich große Lerngruppe im Blick halte. Wie schnell rutscht ein Kind durch das System! Dadurch, dass ich aber trotz konvergenter Differenzierung keine komplette Individualisierung anstrebe und somit auch das Arbeitsmaterial (in unserem Fall Flex und Flo sowie Flex und Flora) nicht zur Gänze freigebe, entschärft sich diese Sorge Stück für Stück. An anderer Stelle hatte ich bereits geschrieben, dass ich sehr viel nachsehe. Nach wie vor bin ich davon überzeugt, dass dies für mich der richtige Weg ist, denn darauf baue ich neben der Unterrichtsplanung auch die Arbeitspläne der Kinder auf. Ganz davon abgesehen schafft dieser Aufwand eine sehr gute Basis für Elterngespräche. Die meisten Eltern schätzen diese Arbeit sehr wohl.
Evaluation?
Das Freiarbeitsmaterial, das ich nutze, ist auf Zweckmäßigkeit und Effektivität hin ausgesucht und wird (auch wenn es mir weh tut, wenn viele Stunden Arbeit darinstecken) regelmäßig auf seinen Nutzen überprüft. Tatsächlich passiert es mir gelegentlich, dass ich ein Material anschaffe, weil ich selber es schön finde. Leider ist dies nicht unbedingt ein sinnvolles Kriterium für ein Arbeitsmaterial. Ein ähnliches Schicksal ereilte nun auch zu meiner Überraschung die Leseecke, für mich ein ganz wichtiges Element in einer Eingangsklasse. Tatsächlich haben die Erstklässler sie nicht so angenommen, wie ich es gedacht hätte. Schon als Rückzugsort, aber nicht als Arbeitsplatz. Das dort lagernde Material war nicht genug im Blickfeld. Da der Raum begrenzt ist und ich um jeden Quadratzentimeter kämpfe, habe ich die Ecke in den Ferien aufgelöst und das Material neu sortiert. Tataaa, nun arbeiten die Erstklässler damit. Versteh einer die Kinder!
Regelmäßige Evaluation halte ich für unverzichtbar. Kein Material, kein Konzept und keine Methode ist in Stein gemeißelt. Mögen die letzten drei Klassen auch in hohem Maße von einer Leseecke profitiert haben, diese tut es eben nicht, also kritisch hinterfragen und weg damit.
So, das war ein kleiner Einblick in unseren Vormittag. Vielleicht war es für den ein oder anderen Leser interessant. Zumindest hoffe ich das, ansonsten bleibt mir nur die Aufmunterung, dass auch wieder andere Artikel kommen werden. Vielleicht fotografiere ich ja nächste Woche meinen Kleiderschrankinhalt!? Mir schwebt für den November ein Capsule Wardrobe -Thema vor. Haha, da werden sich manche sicher ganz schrecklich langweilen, aber die Bedeutung anständiger Lehrergarderobe wird meiner Meinung nach in der Öffentlichkeit immer noch zu wenig gewürdigt. Möglicherweise sollte ich hier dringend für Abhilfe schaffen, wenn es sonst schon keiner tut. Ich gehe in mich!
Bis dahin herzlichste Herbstgrüße
Frau Weh