Teachers leave them Kids alone

Abwechselnd The Clash und Pink Floyd im Ohr grübele ich seit ein paar Tagen über einen Leserkommentar nach, darin die leise Rüge, dass ich meine Klasse während des Unterrichts verlassen habe, und die Hoffnung, ich möge dies nicht regelmäßig tun.

Ich hätte dies gern ein wenig launisch und schmunzelnd mit einem schnellen Spruch abgetan, aber tatsächlich finde ich das Thema zu wichtig. Wie sieht es denn aus mit der Anwesenheit in deutschen Klassenzimmern?

Natürlich gibt es Gründe für ein Verlassen des Klassenraumes während des Unterrichts. Es gibt so Tage, da kommt man vor lauter Schulkram noch nicht einmal aufs Klo, geschweige denn in den Genuss eines Kaffees oder eines Gesprächs mit Menschen über 1,48 m. Im Gegensatz zu anderen Schulformen oder schlichtweg größeren Schulen haben meine Kolleginnen und ich nicht automatisch nach zwei oder drei Stunden Pause. Es sind Aufsichten zu führen, Kinder zu betreuen, Anrufe zu tätigen. An einem durchschnittlichen Konferenzmontag verbringe ich beispielsweise über 9 Stunden in der Schule ohne eine einzige richtige Pause. Klar kann ich in der Konferenz schnell etwas essen oder auch mal zur Toilette gehen, aber eine wirkliche Pause? Fehlanzeige.

Selbstverständlich lasse ich die Viertklässler nicht ständig allein – obwohl ich es (Vorsicht, reinstes Eigenlob!) mittlerweile könnte, sie sind gut eingenordet. Tatsächlich kommt es aber vor, dass ich ein Blatt im Unterricht nachkopiere, weil Sinans Meerschweinchen gefräßig oder Paulines kleine Brüder undicht waren. Auch flitze ich nach meiner Pausenaufsicht noch einmal schnell ins Lehrerzimmer, um in mein Fach zu sehen oder aktuelle Aushänge abzuzeichnen. In dieser Zeit lasse ich meine Klasse unbeaufsichtigt. Ja, da könnte natürlich etwas passieren. So wie fast überall und jederzeit.

Aber ich bin der Meinung, dass es dem Vertrauensverhältnis zwischen Klasse und Klassenlehrer durchaus zuträglich sein kann, wenn solche kurzen Momente möglich sind, ohne dass gleich die Hütte brennt. Wir reden hier über wenige Minuten, natürlich bleibe ich meiner Klasse nicht stundenlang fern, das versteht sich ja von selber.

Ganz nebenbei – und gedanklich völlig unsortiert – empfinde ich die Beaufsichtigungsdiskrepanz zwischen Kindergarten, Grundschule und weiterführender Schule als sehr groß. Zwei Beispiele aus Müttersicht:

  • Ich hole das Miniweh freitags früh ab. Auch wenn ich bereits gegen 12.15 Uhr im Kindergarten bin, so brauche ich doch geraume Zeit, es auf dem riesigen Kindergartengelände zu finden. Mal hockt es auf einem Baum, mal liegt es im Gebüsch, selten sitzt es im Sandkasten, aber oft in den Autoreifen hinter der Holzhütte. Klar sind da auch Erzieherinnen unterwegs, aber dem glücklichen Gesichtsausdruck des Miniwehs nach zu urteilen, tauchen sie eher selten im freien Spiel auf. Freiheit zu erfahren macht Kinder selbstständig und selbstbewusst. Freiheit zu erfahren bringt aber auch blaue Flecken und Splitter im Daumen mit sich. An allem wächst ein Kind.
  • Das größere Wehwehchen ist auf dem Gymnasium. Manchmal fällt Unterricht aus, nicht immer erscheinen die Lehrer pünktlich zum Unterricht in der Klasse. Es liegt zwangsläufig auch in der Eigenverantwortung der Kinder, wie sie damit umgehen. Das Wehwehchen für seinen Teil freut sich vermutlich über die gewonnenen Minuten, hält ein Schwätzchen mit seinen Nachbarn, brüllt präpubertären Blödsinn durch den Raum oder schludert schnell seine Hausaufgaben ins Heft.

Sowohl vor als auch nach der Grundschulzeit erfahren Kinder in ihrer jeweiligen Institution, wie es ist, unbeaufsichtigt zu sein. Ist eine permanente Aufsicht wirklich notwendig? Oder sollten wir entspannter damit umgehen? Ist eine dauerhafte Beaufsichtigung überhaupt realistisch?

Nein, ist sie nicht. Rechtlich ist die Aufsichtspflicht in der BASS (Bereinigte Amtliche Sammlung der Schulvorschiften) geregelt, darin heißt es u.a. „ständige Anwesenheit der Lehrkraft ist nicht in jedem Fall zwingend geboten.“ Wen es interessiert, hier eine kurze Übersicht mit entsprechendem Fallbeispiel.

 

Wie ist eure Meinung dazu als Lehrer(in), wie als Eltern? Wie handhabt ihr die eigene Aufsichtspflicht oder wie wünscht ihr euch sie für eure Kinder?

 

angebaggert

Pausenaufsicht, große Pause.

Ich hocke neben dem Klettergerüst und versuche einen unergründbaren Streit auf Augenhöhe zweier Erstklässler zu schlichten als sich plötzlich ein beträchtlicher Schwall Sand in meine Stiefel ergießt. Entrüstet drehe ich mich um und begegne dem entsetzten Blick von Zweitklässler Justus, der mir kopfunter durch seine Beine entgegenstarrt, den Po hoch in die Luft gereckt, die Hände noch zum Scharren erhoben. Erst in diesem Moment scheint ihm aufzugehen, wen er da eigentlich angebaggert hat. (Nicht, dass ihn die Tat selber peinlich berühren würde. Nein, Justus gehört zu dem Kaliber Kind, das sich jeglicher Materie mit vollem Körpereinsatz nähert. Das Kollegium schwankt zwischen Staunen und Entsetzen, wenn im Lehrerzimmer von den jeweiligen Fachlehrerinnen eine neue Justusanekdote zum Besten gegeben wird. Hat er doch schon Arbeitsblätter aufgegessen, Pinselwasser getrunken, sich nach Regentagen zuerst durch Schlammpfützen und anschließend über den Klassenboden gewälzt und uns auf so mannigfaltige Art seine Verhaltensoriginalität präsentiert.)

„Justus, mein Freund“, ich schaue ihn unter hochgezogener Augenbraue an, „wir setzen uns jetzt mal einen Moment hier auf die Bank!“

Er nickt betroffen, folgt mir aber umgehend und lässt sich neben mich plumpsen.

„Justus? Ich bin deine Lieblingslehrerin*, nicht wahr?“

Justus schaut mich weiterhin aus kullergroßen Augen an und nickt wieder. Ein wenig sieht er aus wie das Kaninchen vor der Schlange. Wir schweigen eine Weile vor uns hin.

„Ich habe dich auch ziemlich gern.“ (Das stimmt sogar. Seltsamerweise habe ich einen guten Draht zu kleinen Aufmüpfern.)

„Meine Schuhe mag ich allerdings auch sehr…“, ich blicke betrübt auf meine Wildlederstiefel hinunter.

„Die sind auch echt schön“, haucht Justus.

„Jaaaa, das sind sie wirklich!“ Ich seufze einmal. Dann sitzen wir wieder eine Zeit still nebeneinander auf der Bank und machen gar nichts.

„Und jetzt?“, nehme ich das Gespräch wieder auf.

Sofort antwortet Justus pflichtschuldig: „Jetzt mache ich das nicht wieder…“

Schon möchte ich diese Standardantwort befriedigt abnicken, da fährt er fort: „…wenn Sie da sind.“

* Es ist nicht so schwer, eine Lieblingslehrerin zu sein, wenn man Musik unterrichtet und den Schlüssel zum Wunderland des Instrumentenraums besitzt.

Schnee!

Ende der zweiten Pause. Es liegt Schnee im Ruhrgebiet.

Ich steige gut gelaunt die Treppe hinunter, um die Viertklässler zum Musikunterricht abzuholen, da bemerke ich es: Die gesamte Klasse befindet sich bereits im Gebäude und ist hörbar aufgebracht. Seltsam. Noch seltsamer mutet allerdings an, dass sich ihre Klassenlehrerin und Frau Schmitz-Hahnenkamp Nase an Nase gegenüber stehen, in lautstarkes Gekeife vertieft. Ich runzle die Stirn und versuche diese Flut an Informationen mit der Tatsache abzugleichen, dass ich eigentlich eine friedliche Musikstunde zu halten gedachte.

Was es nun genau mit dem Zorn der Kolleginnen auf sich hat, wird mir umgehend erläutert: Kollegin Schmitz-H. hatte Aufsicht. Es gab eine Schneeballschlacht. Die GANZE Klasse war darin verwickelt*. Schneeballschlachten sind verboten. Alle müssen einen Aufsatz schreiben. Auf der Stelle! In meiner Musikstunde!

Na toll.

Ich hake die phänomenale Einstiegsstunde zum „Karneval der Tiere“ ab und schließe den Klassenraum der 4a auf. Die Schüler trotten murrend hinein, kleine Wasserpfützchen hinterlassend. Platschplatsch macht es. Später sitze ich am Pult der Kollegin und langweile mich. Hätte ich das geahnt, ich hätte mir doch ein Buch mitgenommen! Oder wenigstens was zu arbeiten. Immerhin sind sich die Viertklässler ihrer misslichen Lage bewusst; auch sie hätten lieber Musikunterricht. „Wagt es bloß nicht, euch bei MIR zu beschweren!“, grummle ich den ersten Schüler an, der sich in nörglerischer Absicht an mich heranpirscht. „Ich hätte allen Grund, mich bei euch zu beschweren! Ihr hattet euren Spaß ja bereits in der Pause. Ich hingegen muss mich jetzt 45 Minuten langweilen. Toll!“

Da beeilen sie sich natürlich und keine 20 Minuten später liegen die ersten Aufsätze vor mir. Prallvoll mit Beteuerungen, besten Absichten und guten Vorsätzen. Ich will es nie wieder tun! und zuerst hat es ja noch Spaß gemacht – ich habe ein deja vu und denke an letztes Jahr. Und an das davor. Und überhaupt. Gibt es eigentlich eine Lösung für dieses vom Himmel fallende, alljährliche Problem?

Ja, es gibt sie. Sie steht im Aufsatz von Vlad und lautet:

„Ich bin der Meinung, man kann das Problem lösen. Alle Lehrerinnen sollen den Schnee einfach vom Schulhof nach draußen schieben. Dann kann man keine Schneebälle mehr machen und alle sind glücklich!“

Ich stelle mir vor, wie ich beim gemeinsamen Schneeschippen Frau Schmitz-Hahnenkamp von hinten einen fetten Schneeball auf den Hintern donnere und muss grinsen. Das Glück hat eben viele Gesichter.

 

 

* so viel Gemeinschaftssinn würde ich mir für die Drittklässler ja wünschen…

Pausengespräche

Alisa leistet mir bei der Pausenaufsicht Gesellschaft.

 

„Also Frau Weh, ich glaube, ich habe mir gestern den Magen verkorkst.“

„Aha?“

„Ja, ich habe Nudeln gegessen, die schon ein paar Tage alt waren.“

„Naja, wenn es nur Nudeln waren… Hauptsache sie sind nicht in alter Sahnesauce geschwommen.“

„Hmm. Spaghetti alla carbonara.“

„Oha. Aber wenn man sich so richtig den Magen verdirbt, dann merkt man das ganz schnell.“

„Ich hab die ganze Nacht unter meiner Decke gepupst!“

„Diese Information hätte ich nicht unbedingt gebraucht, aber danke, dass du mich daran teilhaben lässt.“

„Es war schön warm!“

„Ah ja. Auch diese Information…!“

„Gerade kam schon wieder einer!“

 

An dieser Stelle endete das Gespräch abrupt.