Umsorgt

„Und wie geht es dir?

Ich blicke von meinem Teller auf und streife kurz das Glas Grauburgunder, das vor mir steht, bevor ich meinem Freund Marten in die Augen sehe. Eben sind wir aus dem Kino gekommen, in dem wir uns Frau Müller muss weg angesehen haben. Es war ein kleines, gemütliches Kino. Eins von diesen mit roten Plüschsesseln und Bedienung. Nun sitzen wir – passend – in einer Bar mit Fifties-Ambiente und teilen uns einen Käseteller. Er den Camenbert, ich den Ziegenkäse. Mit der Besprechung von Frau Müller sind wir schnell durch. Kurzweilig war es, aber nicht überraschend. Gelacht haben wir, wenn auch nicht immer an den gleichen Stellen. So konnte Marten, seit zwanzig Jahren mit seinem Partner in kinderloser Beziehung liiert, sich nahezu ausschütten über die treffende Zeichnung der Helikoptereltern, wo ich mich doch manchesmal leicht ertappt sah. Bei den Sätzen der Titelheldin, die so gar keine war, oder eben doch, wie man es nimmt, hätten wir hingegen Lehrer-Bingo spielen können. So bekannt waren uns die herzlichen und blumigen Formulierungen. Gut recherchiert war der Film bis hin zu den Klassenregeln, keine Frage.

Marten und ich kennen uns lange. So lange, dass keine Fassade aufrecht erhalten, keine Falte versteckt werden muss. Auch keine Träne, die (kleines Mistding!) mir prompt ins Auge steigt. Er nickt und greift nach seinem Glas. „Erzähl.“

Ich ziehe unwillkürlich die Schultern nach oben und schüttle leicht den Kopf. „Es gibt nicht viel zu erzählen. Das Übliche halt. Riesenklasse, hohe Ansprüche, Familie, Kinder. Immer das Gefühl, niemandem wirklich gerecht zu werden.“

Bedächtig nimmt Marten einen Schluck. Er, der Weinkenner, hat deutlich länger die Karte studiert als ich, die ich den Wein grundsätzlich danach auswähle, ob die Beschreibung genügend synästhetische Adjektive enthält. Langsam setzt er das Glas ab, faltet die Hände und nimmt mich auseinander. Scheibchen für Scheibchen. Treffend genau und stellenweise schmerzhaft. Er ist ein hervorragender Beobachter und als Musiker ein Kenner von Zwischentönen. Es gibt nicht viele Menschen, denen ich es erlaube, mir derart nahe zu kommen, und denen ich zuhöre ohne mich zu rechtfertigen oder zu verteidigen.

Als er fertig ist, schweigen wir beide. Am Nebentisch wird gelacht. Der Barmann trägt Vollbart. Die Wandfarbe befindet sich irgendwo zwischen Dschungelgrün und Mint. Es ist ein gesättigtes Schweigen, eins, das Überlegungen und Gedanken zulässt, inmitten des fröhlichen Geplänkels um uns herum.

„Ich könnte das nicht. Diese ständige Präsenz. Schule am Morgen, Kinder am Nachmittag, Arbeiten am Abend. Dein Arbeitspensum am Wochenende. Kein Wunder, dass du müde bist.“, nimmt Marten den Faden wieder auf.

Wieder zucke ich mit den Schultern. Ich sehe nichts Heroisches dabei. „Was soll ich machen? Das ist der Alltag.“

Und dann reden wir über Lösungen. Darüber, den unmöglichen Einsatz für Schule zu senken ohne die Zügel schleifen zu lassen. „Schule ist immer auch eine gute Show. Und das kannst du ja!“ er prostet mir zu und grinst. Ich erwidere sein Lächeln. Uns verbindet neben einer Freundschaft, die schon so lange hält, dass ein Ende nicht nur unwahrscheinlich, sondern in meinem Kosmos schlicht undenkbar ist, auch eine gemeinsame musikalische Beziehung. Eine gute Show können wir beide abliefern. Wir reden und formulieren Ziele, verwerfen Ideen und finden neue Ansätze. Wie so oft bin ich von der Wärme und der Höhe des Verständnisses angerührt. „Ich bin dir nicht zu nahe getreten?“ Ich lache auf und winke mit der Hand ab. „Doch bist du. Geschenkt!“

Wir tauschen noch ein paar Unterrichtsideen aus, fachsimpeln über die Wandgemälde der Bar und die erotische Komponente gut ausgeprägter Bauchmuskeln. Die von Anke Engelke findet er ein wenig viehisch, ich erwähne, dass ich auch optisch viel Spaß bei Fack ju Göhte hatte. Am Ende des Abends nehme ich ein  Arbeitskonzept mit in die Bahn, das funktionieren könnte, und das Gefühl, ein ganzes Stück weiter gekommen zu sein. Die SMS, die zuverlässig einige Zeit später eintrifft, beantworte ich, die Zahnbürste schon im Mundwinkel.

Und? Gut angekommen?

Danke, alles gut!

N8 🙂

Was vom Schuljahr übrig blieb

„Vier Kilo! Und du?“

„Dreieinhalb“, antworte ich seufzend. Dieser Punkt geht an Freundin und Kollegin Britta, mit der ich in einer Telefonkonferenz in der letzten Woche die Kollateralschäden des vergangenen Schuljahres vergleiche. Wir spielen dieses Spiel schon ein paar Jahre, beruhigt es doch ungemein, festzustellen, dass man nicht alleine dem Rande des Wahnsinns so verdammt nahe gekommen ist. In unserer diesjährigen Runde herrscht derzeit Gleichstand (größter Elternärger ging an mich, schwierigere Klasse an Britta, nervigste Kollegin ganz knapp an mich, dafür hat sie einen Punkt für ihren unkooperativen Ehemann bekommen, für unnötige Schultermine haben wir uns beiden einen Punkt zuerkannt), auch das beruhigt – scheint es doch wirklich so etwas wie ein kosmisches Gleichgewicht zu geben.

Wir unterhalten uns über unsere Ferienpläne und ich stelle überrascht fest, dass ich dieses Jahr keine fassen möchte. Weder habe ich einen Riesenstapel Bücher besorgt, noch eimerweise Wandfarbe. Es gibt keine Bestellungen von Fachliteratur und kaum feste Termine bisher. Leicht amüsiert nehme ich wahr, dass mir dieser Zustand keinerlei Unbehagen bereitet (so wie es die letzten Jahre noch der Fall gewesen wäre), ich mich sogar darauf freue, jeden Tag anzunehmen, wie er eben kommt. „Du wirst eben langsam reifer“, kommentiert Britta, „wie guter Käse!“ Zumindest die Farbe von Käse habe ich schon. Camenbert, nur mit Sommersprossen. Wenn ich an mir heruntersehe, fühle ich mich auch formal fatal an Weichkäse erinnert. Auf diese Äußerung schnaubt Britta nur laut auf. Wir verabreden, wenigstens jeden zweiten Tag Sport zu treiben und uns gesund zu ernähren. Ich denke an die Flasche selbstgemachten Erdbeerlikörs, die mir meine Referendarin zum Dank überreicht hat und stufe sie sofort unter gesund ein. Britta schlürft hörbar am anderen Ende der Leitung und kontert damit, dass die Eiswürfel in ihrem Prosecco null Kalorien hätten. Wir giggeln noch eine ganze Weile am Telefon herum und mit jedem Lachen purzelt ein Belastungspunkt nach dem anderen von uns bis wir das Gefühl haben, von oben auf die ganze Chose herabblicken zu können. Eine wilde Mischung aus Anstrengung, Einsatz, Ärger, Freude, schlechtem Gewissen, Tränen, Familienchaos, Rebellionsgeist und Schokolade ist es, die da zu unseren Füßen liegt. „Eigentlich halten wir uns wacker“, findet Britta und stippt mit der Schuhspitze in den Gefühlssee, „wir sind Alltagsheldinnen, jawoll!“

Am Ende des Telefonats gehe ich leicht beschwipst, aber ungemein guter Dinge ins Bett. „Ich werde jetzt eine Ferienheldin, Herr Weh, jawollja!“, nuschle ich dem wunderbaren Mann an meiner Seite ins Ohr. „Hmmmm“, brummt er zurück. Aber das höre ich schon nicht mehr, ich bin eingeschlafen.