Zwei Mütter unterhalten sich auf dem Spielplatz.
„Mein Sohn ist hochbegabt!“, prahlt die eine, „der kann schon total gut rechnen. Hee, Mika… wie viel ist 5 + 5?“
„8“
„Siehst du?“, strahlt die Mutter glücklich, „nur eins daneben!“
Zwei Mütter unterhalten sich auf dem Spielplatz.
„Mein Sohn ist hochbegabt!“, prahlt die eine, „der kann schon total gut rechnen. Hee, Mika… wie viel ist 5 + 5?“
„8“
„Siehst du?“, strahlt die Mutter glücklich, „nur eins daneben!“
Es war die Eintagescholera! Heute ist wie neu. Alles prima. Also kann ich mich mit vollem Einsatz einem kniffligen Problem widmen: der neuen Sitzordnung. Es wird fällig, ich komme nicht drumherum. Einige Kinder beschweren sich schon seit geraumer Zeit, dass sie nicht gut von der Tafel abschreiben können und es nur daran liegt, dass sie ihre Hausaufgaben nicht/unvollständig/falsch machen. Da muss eine Lösung gefunden werden. Es ist Zeit, dass sich was dreht. Die Kinder haben sich Sitzreihen gewünscht. (Hah, ihr großen Didaktiker, richtig gelesen: Sitzreihen. Einer hinter dem anderen mit Blick nach vorne. Nicht nur ich bin retro, es hat sich schon übertragen.)
Jetzt habe ich nur ein winziges Problem. WIE SETZE ICH SIE?
Das Verhältnis Mädchen zu Jungen beträgt 1:2, ein Drittel der Kinder trägt eine Brille, ein Sechstel der Kinder hat einen inklusiven Hintergrund, d.h. Beeinträchtigungen der ein oder anderen Art, die bedacht werden müssen. Ein Neuntel der Kinder ist stark verhaltensauffällig und bedarf ständiger Kontrolle, René ist hochbegabt und arbeitet häufig mit Extramaterial.
Aus dem Bauch heraus müsste ein Drittel der Klasse in der ersten Reihe sitzen, ein weiteres Viertel am besten noch weiter vorne. Tom1 hält sich gerne unter dem Tisch auf, Lennox wäre am besten auf meinem Schoß (oder im Tripp Trapp. Mit Bügel.) aufgehoben. Lediglich Nathalie und Amelie sind bereit, notfalls neben einem Jungen zu sitzen und dann auch nur neben René (in den sind vier Mädchen unsterblich verliebt) oder – wenn es nicht anders geht – Benjamin. Der wiederum kann auf gar keinen Fall neben Tom1 oder Tom2 sitzen. Dann fließt Blut.
Victoria und Pauline (beide verliebt in René) sind derzeit zerstritten und buhlen sehr hinterhältig und auf perfide Weise um die Gunst von Mia-Sophie, die idealerweise weit weg von Laura sitzen würde, da diese als Pausenfrühstück meistens Kinder Pingui und Snickers in der Dose hat. Diese mag sie selber zwar nicht, tauscht aber sehr gerne gegen das ungeliebte ökologisch-korrekte Mehrkornbrot von Mia-Sophie. Schon das Wissen darum löst bei Supermom („Mein Kind nimmt keinerlei Zusatz-, Farb- oder andere Stoffe zu sich! Und auf gar keinen Fall Geschmacksverstärker, die verursachen ADHS!“) heftige Reaktionen aus.
Justin und Nick sind über ein paar Ecken mit Leon verwandt. Dies äußert sich turnusmäßig in wilden Auseinandersetzungen auf dem Schulhof („Dein Vater ist ein Arsch!“ „Und deiner hat noch ein Loch dazu!“), es ist ratsam, sie in der Klasse ohne Sichtkontakt zueinander zu setzen.
Früher hieß das mal schwieriges Bedingungsfeld. Heute ist das der Alltag.
Ich schiebe Kärtchen hin. Und her. Testweise schiebe ich auch mal ein Kärtchen in die Parallelklasse oder in die Erziehungsberatungsstelle. Hätte jemand vielleicht mal einen Algorithmus oder eine passende App parat?
…dann spring ab.
Dieses Sprichwort ging mir heute durch den Kopf, als ich mich – plötzlich, eigentlich kam ich gerade nach Schulschluss von meiner Busaufsicht zurück – im Gespräch mit einer Mutter wiederfand, die im herrischen Tonfall von mir Auskunft über die Leistung ihres Sohnes im Fach Musik verlangte. Es ist nicht so, dass ich mich einem Gespräch verweigern würde. Allerdings haben wir uns bereits vor vier Wochen unterhalten. Und vor zwei Wochen ebenfalls. De facto ändert sich nicht viel.
Sohnemann mag musikalisch sein. Möglicherweise interessiert ihn auch, was er so im Unterricht mitbekommt. Leider lässt er mich an seiner Freude nicht teilhaben. Stattdessen schlägt er mit leeren Getränkeflaschen nach seinen Nachbarn, redet – grundsätzlich ohne vorherige Meldung – in jedes Gespräch rein, und antwortet auf Fragen gerne mit „hähhhh?“. Er macht nur nach mehrmaliger Aufforderung mit und auch dann nur irgendwas und irgendwie. Als Sahnehäubchen kommt hinzu, dass er – zwar durchaus theoretisch einer normalen Sprechlage mächtig – ständig spricht wie Miss Piggy auf Speed.
Ein „befriedigend“ als letzte Zeugnisnote schien mir angemessen. Ja, fast noch ein wenig geschönt.
Jetzt ist es aber so, dass ein „befriedigend“ im Musikunterricht der Grundschule grundsätzlich auf das Konto des betreffenden Lehrers geht. Und wenn das Kind nicht mindestens eine Zwei bekommt, dann macht der Lehrer seinen Job falsch. Das jedenfalls erklärte mir heute die betreffende Frau Mama im hektischen Staccato derer, die immer Recht haben. Niemand beschwere sich sonst über sein Verhalten. Überhaupt sei er nun einmal ein aufgewecktes Kind. Und so außerordentlich musikalisch! Er habe ihr gestern erst ein Lied vorgesungen. Aus dem Musikunterricht! Da muss er ja wohl aufgepasst haben! Solle sie also ihrem Sohn erklären, bei Frau Weh habe er immer still zu sitzen, sich nicht zu rühren, sonst könne er eine bessere Note vergessen!? Das könne doch nicht angehen. Und warum müsse ihr Sohn überhaupt ruhig sein in den Arbeitsphasen? Das liegt doch wohl am Lehrer, sich durchzusetzen. Er wäre eben kein langweiliges, phlegmatisches Kind. Und der ältere Bruder sei auch auf dem Gymnasium! Und die Klavierlehrerin beschwere sich schließlich auch nie. Und die Nachbarin der Schwägerin ihres Mannes sei schließlich auch studierte Grundschullehrerin (jetzt allerdings wegen der Kinder zu Hause und der Mann verdient ja auch so gut!) und die sagte auch, dass der Sohn doch ungemein begabt sei. Vielleicht sogar un-ter-for-dert! JA!!! UNTERFORDERT!!!
Ich hätte ihr gerne so viele Dinge mitgeteilt*. Von gutem Musikunterricht. Von der Notwendigkeit, sich in einer Gruppe so zu verhalten, dass auch der Lernerfolg der anderen Kinder gewährleistet ist. Von der durchaus voraussetzbaren Befähigung eines Drittklässlers, einfach mal keine permanenten Störgeräusche von sich zu geben. Von der Unart eine eventuelle oder tatsächliche Hochbegabung als Entschuldigung für jegliches Fehlverhalten zu missbrauchen. Von der vielen Unterrichtszeit, die für alle verloren geht, weil manchen Kindern bereits von zu Hause aus vorgelebt wird, dass Respekt etwas ist, was ausschließlich die anderen zeigen müssen. Von Müttern, die mich unendlich ermüden mit ihrer blasierten, rechthaberischen Attitüde.
Stattdessen kroch in mir – irgendwo tief unten – Verständnis für die Kolleginnen hoch, die in solchen Fällen einfach die bessere Note geben.
Wuah, also manchmal…
* (so wie die letzten beiden Male)