Warum passiert immer alles mir?

„Ich wollte mich bei dir verabschieden, Ende des Monats trete ich eine neue Stelle an. Das war eine gute Zeit hier, danke für dein Vertrauen. Für deinen Einsatz!“

Herzlich streckt mir der Mitarbeiter vom Jugendamt, mit dem ich so viele Jahre zusammengearbeitet, so viele traurige, aber auch mutmachende Fälle erlebt habe, die Hand hin. Ich muss tatsächlich schlucken. Was uns verbunden hat, war nicht nur eine reibungslose, professionelle Zusammenarbeit. Es war das Gefühl, dass da jemand im Amt sitzt, der ansprechbar ist, der zupacken kann und handelt. Der sich aber auch schützend vor mich gestellt hat bei Hausbesuchen, die ich alleine niemals gewagt hätte. Der souverän Krisengespräche moderiert hat, vor denen ich nächtelang wachlag. Der mich auf meine vielen Zweifel hin, warum es eigentlich immer meine Schüler sein müssen, wahlweise angegrinst und gesagt hat, man bekäme immer die Schüler, die man verdient oder auch mal zum Mutmachen ein Lied von Reinhard Mey gesummt hat. Ich weiß nicht, wie viele Telefonate wir in den letzten Jahren geführt, wie viele Tassen Kaffee (der im Jugendamt immer irgendwie nach Pragraphen geschmeckt hat) wir getrunken haben. Dabei waren wir beileibe nicht immer einer Meinung, was nun das Beste für ein Kind sei. Aber wir trafen uns immer irgendwo auf der Strecke, überzeugt, handeln zu müssen.

Ich lächle ihn an: „Ich danke dir!“

Wir machen die Übergabe, gehen die noch offenen Fälle durch, besprechen die aktuellen Hilfeplanungen. Dann klappen wir unsere Ordner zu und wissen für den Moment nichts mehr zu sagen.

„Mach’s gut!“ Er nickt mir zu, wir stehen auf.

„Ich weiß die Antwort jetzt!“, sage ich und er hält inne.

Ich singe: „Die Antwort ist kurz und knapp: Mir passiert immer alles, weil, ich kann das ab!“

„Quatsch,“, er grinst und drückt mich kurz an sich, „die Antwort ist 42!“

 

Alltag

„Ich kann niemanden erreichen“ teilt mir die weltbeste Schulsekretärin mit „wir haben keine aktuelle Nummer vorliegen“. Ich quittiere die Information mit einem Schulterzucken. Es ist nicht das erste Mal, dass Maiks Familie den Telefonanbieter wechselt oder ihnen das Telefon gesperrt wird.

Wieder in der Klasse frage ich Maik, der unter einer Decke im Lesesessel hockt, seit wann Mama und Papa denn im Urlaub sind. „Seit Samstag. Wir haben alle geweint. Mama auch, aber dann sind sie doch gefahren. Sie brauchen ja ihren Urlaub wegen uns allen, weil das alles so anstrengend ist immer.“ Wer sich um ihn und seine fünf Geschwister jetzt kümmert möchte ich wissen. „Das macht die Oma, aber die schafft das nicht alles.“ Ich nicke ihm freundlich zu, mache einen Becher Tee fertig und erkläre, er könne noch eine Weile im Sessel bleiben bis es ihm wieder etwas besser gehe. Die Drittklässler machen verdutzte Gesichter. Sie mögen Maik nicht gerne. Seine Hausaufgaben macht er eigentlich nie, manchmal riecht er komisch. Er sagt seltsame Dinge und irgendwie ist er ihnen auch unsympathisch. Die Tatsache, dass die meisten seiner Geschwister auf eine andere Schule gehen, ist ihnen bekannt und auch, dass seine Eltern ihm regelmäßig sagen, er komme da bestimmt auch hin, weil er dumm sei. Aber dass es ihm gerade nicht gut geht, das merken sie und es tut ihnen irgendwie leid. „Möchtest du ein Stück Apfel?“ fragt Marc. Auch Schmitti beeilt sich und zieht einen Stapel Sammelkarten aus der Tasche. „Du kannst die Schildkröte mit Glitzer haben, die ist voll selten!“

Nach der Schule setze ich Maik ins Auto. Darf ich nicht. Ist mir egal. Er ist verwundert über den Anschnallmechanismus im Kindersitz. Das kennt er nicht. Ein paar Minuten später sind wir angekommen. Nach mehrmaligem Klingeln öffnet die Oma die Tür: „Ja! Was ist denn?“ Ich übergebe ihr Maik und verlange eine Telefonnummer. „Getz stellen Se sich nich an, Frollein! Gib et nich!“

Die männliche Supernanny, mein Freund vom Jugendamt, ist nicht weiter überrascht als ich später anrufe. „Ah, bei dir wollte ich mich die ganze Zeit schon melden. Ich habe noch keinen Termin mit Familie Maik ausmachen können. Da geht keiner ans Telefon.“

Ohne Worte

Nicht ungewöhnlich ist es, dass es einem Schüler im Laufe des Vormittages blümerant wird und daher die Eltern zwecks Abholung kontaktiert werden müssen.

Schon wesentlich seltener kommt es vor, dass die Erziehungsberechtigten nicht erreicht werden können, da sie sich gerade zwei Wochen ohne ihre Kinder im Urlaub befinden. Fuerteventura. Zur Erholung.

Interessant wird es, wenn die Eltern in einem solchen Falle versäumt haben, die Schule über ihre Abwesenheit zu informieren.

Aber wirklich noch nie habe ich erlebt, dass bei einer solchen Verkettung von Ereignissen gar keine Telefonnummer einer im Notfall zu benachrichtigenden Person hinterlegt wird.

Sie immer wieder überraschen können. Unbezahlbar.