Übersprungshandlung

BOMPF

Mit einem dumpfen Knall streckt die aufgeklappte Tafel den kleinen Zóltan nieder, der, ganz in Gedanken vertieft, weder auf seinen Weg, noch auf die herausragende Ecke geachtet hat, die seinen Gang so abrupt stoppt. „Bitte kein Blut!“, beschwöre ich in einem Stoßgebet den Gott der kleinen Köpfe und eile zu dem lang auf dem Boden ausgestreckten Schüler.

Die räumliche Enge ist unser täglicher Feind, mehr noch als der ständige Geräuschpegel, den die 30 arbeitenden Erstklässler verursachen, und der dem emsigen Gesumm eines voll funktionsfähigen Bienenstocks wohl recht nahe kommt. Ich bange fortwährend im Anblick der geschäftigen Choreographie, die die Kinder immer wieder aufs Neue improvisieren, um sich aus dem Weg zu gehen oder sich – im Gegenteil – auf jeden Fall zu begegnen, während sie Material holen oder bringen, auf dem Boden liegend lesen oder ganz versunken unter einem Tisch komplexe Berechnungen des Lebens anstellen. Der Raum, der uns bleibt, ist so knapp, dass ich mir selber ein beginnendes Oskar Matzerath-Syndrom diagnostiziere. Nur, dass nicht ich es bin, der ich ein Weiterwachsen untersage, sondern den mir Anbefohlenen. Nicht auszudenken, wie beengt unser Arbeiten sein wird, wenn im 3. Schuljahr auf die größeren Möbel gewechselt wird. „Kinder, hört auf zu wachsen!“, will ich ihnen zurufen, wenn sie sich gegenseitig stolz an der Messleiste vorführen, dass wieder ein Zentimeter, wieder ein ganzes Stück Großwerden errungen wurde. Es wird mir eng und die Geschwindigkeit, mit der die zu dieser Zeit so unvermeidlichen Kopfläuse ihr Lager ausbreiten, gibt mir recht. Es muss ein wahres Fest sein für die kleinen Krabbler! Obgleich vermutlich niemals in einem Psychologieseminar anwesend, wissen sie doch ganz intuitiv, was eine Übersprungshandlung ist, und teilen sich wonnevoll mit mir (und der Tafelecke) den Anspruch auf die kleinen Köpfe.

„Es geht schon wieder.“, meint Zóltan tapfer, als ich ihm aufhelfe. „Mein Kopf ist so hart!“ Und wie um es mir zu beweisen, haut sich der Junge mehrmals die flache Hand vor die Stirn. Klatsch. Klatsch. Klatsch. Gibt man bei Google Hospitalismus durch Enge ein, bekommt man 14.500 Ergebnisse geliefert. Ich habe sie noch nicht alle durch, vermute aber stark, dass einer der links auf unsere Schulhomepage verweist.

Die Beengtheit setzt uns zu und die Kinder sind extrem gefordert im Rücksichtnehmen und Achtgeben, im Ordnunghalten und Erlernen weiterer Tugenden, die – zugegeben – gar nicht so verkehrt sind. Aber gäbe es da nicht andere Mittel als Massenkindhaltung? Ich kaufe ja auch keine Eier aus Käfighaltung. Dies raune ich auch dem vor Kurzem zu Besuch im 1. Schuljahr weilenden Bürgermeister zu, als wir uns vor Vertretern der örtlichen Presse zum Foto aufreihen. Lauter glückliche, zahnlücketragende Kinder, die stolz ein Buchgeschenk an die Brust pressen und so der Lokalpolitik ein gutes Zeugnis ausstellen. „Ihr habt es aber schön hier!“, begrüßt der erste Bürger uns.

„Es könnte aber etwas mehr Platz sein“, gebe ich zu verstehen und lächle dabei so entwaffnend wie ein Zahnarzt, der den Bohrer schon einmal probelaufen lässt.

„Ach, Sie haben es doch sehr gut gelöst!“, kommt prompt die joviale Antwort mit passender raumumgreifender Geste, die für sich genommen, das Problem eigentlich recht gut umfasst.

„Die Nachbarschule hat eine Durchschnittsklassenstärke von 22 Kindern.“, zwitschere ich streitlustig zurück.

„Bitte lächeln!“, sagt da der Fotograf und schaut mich mit strenger Falte über den Augenbrauen an. Wahrscheinlich müsste er längst beim Taubenzüchterverein oder dem lokalen Aktionstag für Seniorenmobilität sein. Ich fletsche die Zähne und nehme die Schultern zurück, als ich einen spitzen Ellbogen in die Rippen bekomme. Unruhe entsteht in der zuvor so hübsch aufgereihten Kinderschar.

„Der Marc hat mich geschubst!“, beschwert sich Luisa lautstark und reibt sich den Ellbogen.

„Gar nicht wahr, das war die Ronja!“, schnappt der Gescholtene zurück.

Ronja sagt nichts, Ronja heult.

„So wird das nix!“, stöhnt der Fotograf.

Ganz Politiker fühlt sich der Bürgermeister bemüßigt einzugreifen: „Na, na, so schlimm ist das doch nicht. Es ist ein bisschen eng hier, aber doch nur für einen Moment.“

„Ha!“, raune ich, „schön wär’s!“

Klassenfrequenzrichtwerte

Ich danke euch für die regen Kommentare des gestrigen Tages. Wohltuend zu lesen, dass ein solcher Ausblick nicht nur bei mir Empörung hervorruft. Interessant an den vielen Kommentaren finde ich aber auch, dass eigentlich niemand so richtig Bescheid weiß, was den Klassenteiler an Grundschulen anbelangt. Mit gutem Grund übrigens, denn DEN Klassenteiler – ich spreche hier für NRW – gibt es gar nicht. Wohl aber einen Klassenfrequenzrichtwert, der munter variiert.

Ich versuche mal die Fakten aufzuführen:

  • Die Landesregierung möchte bis zum Jahr 2015/16 den Klassenfrequenzrichtwert von 24 auf 22,5 Kinder absenken.
  • Die Bildung von Klassen mit weniger als 15 und mehr als 29 Kindern ist zukünftig unzulässig. Wohlgemerkt die Bildung, nicht die Aufstockung im laufenden Jahr.
  • Für die Bildung der Eingangsklassen ist der Schulträger zuständig. Er verteilt die zu bildenden Eingangsklassen auf die Schulen, indem er die Gesamtzahl der Kinder durch 23 teilt. Das Ergebnis ist die Zahl der neu zu bildenden Eingangsklassen. Dabei gibt es durchaus Handlungsspielraum. Ein Kriterium hierfür ist beispielsweise der Einzugsbereich. Der Schulträger entscheidet über Aufnahmekapazität und Klassengröße der einzelnen Grundschulen in der Kommune.
  • Mit der Größe einer Grundschule nimmt die maximale Größe ihrer Klassen ab. Richtet eine Grundschule drei Eingangsklassen ein, so sitzen dort maximal 27 Kinder, sind es gar fünf erste Schuljahre, so lernen höchstens 25 Kinder miteinander. Einzügigkeit bedeutet in diesem Fall den Jackpot mit maximal 29 Kindern. 29 bedeutet die Startzahl, es können durch Zuzug durchaus noch Kinder dazugewonnen werden.
  • Die Kinder haben ein Recht auf dreijährigen Verbleib in der Schuleingangsphase, also dem 1. und 2. Schuljahr. Stellt sich heraus, dass die Kinder verbleiben sollen, so dürfen sie das tun. Egal, wie groß die aufnehmende Klasse ist.
  • Einen absoluten Höchstrichtwert für die Klassengröße gibt es nicht.

Ich beziehe mich auf unsere Bildungsministerin Frau Löhrmann. Das neue Grundschulkonzept für unser Bundesland liest sich fluffig und sinnvoll. Allerdings darf man nicht zwischen den Zeilen lesen. Das ist nämlich deutlich ernüchternder.

Nichtsdestotrotz wünsche ich uns allen ein wunderschönes Spätherbstwochenende. Ich gehe auf jeden Fall Sonne tanken, Vitamin D kann man ja nie genug haben. Das ist doch für die gute Laune zuständig, oder?

Herzlichst, Frau Weh (superherowonderteacher to be)