Pulleralarm

„Pipimann!“

„Schniedelwutz!“

„Gürkchen!“

„Pillermännchen!“

„Hähnchen!“

„Piepmatz!“

Den Erstklässlern fallen beeindruckend viele Bezeichnungen für genau jenes Körperteil ein, das auch im noch so kleinen Zustand einen gewaltigen Unterschied macht. Bei manchen bin ich mir nicht sicher, ob sie noch als Synonym durchgehen oder eher euphemistisch gebraucht werden, aber allen Wörtern gemein ist der Zwang zur Verniedlichung, der manche Erziehungsberechtigten überkommt, wenn es um nackte Tatsachen geht. Genau diese habe ich gerade an die Tafel gezeichnet. Natürlich nicht als Alleinstellungsmerkmal, Sexualunterricht folgt in den nächsten Jahren, sondern inmitten zweier ob ihrer Pudelnackigkeit grinsenden Strichmännchen. Mein Körper ist das Sachunterrichtsthema, das uns in den nächsten Wochen beschäftigen wird und die Kenntnis verschiedener Körperteile gehört zwingend dazu. Ebenso wie eine genaue Begrifflichkeit und so möchte ich mich mit den giggelnden Erstklässlern darauf einigen, die Dinge beim Namen zu nennen. Aber ich habe nicht mit dem Einfallsreichtum der Elternschaft und der Hartnäckigkeit der jungen Padawane gerechnet.

„Das ist der Penis.“, sage ich und ernte ungläubiges bis fassungsloses Kopfschütteln. Wie kann sie dieses Wort benutzen …!?

Zur Ehrenrettung mancher Elternhäuser möchte ich nicht verschweigen, dass es durchaus Kinder gibt, die im gleichen Moment ohne jegliche Probleme die korrekten Bezeichnungen in ihre Sachunterrichtshefte notieren und ebenfalls die Köpfe schütteln. Allerdings über die ausgelassenen Mitschüler, die – übrigens alle männlich – sich nach wie vor auf genante Weise echauffieren.

„Gut“, lenke ich nach einer Weile und einem schnellen Blick auf die Uhr ein, „wir machen das anders. Ihr besteht auf Niedlichkeit, dann machen wir es aber richtig.“ Mit schnellen Strichen male ich ein zweites Strichmännchenpaar auf die Tafelseite und ziehe flugs ein paar Striche an die strategisch wichtigen Stellen.

„Die Gürkchenfraktion schreibt bitte diese Wörter ab!“

Ich notiere Lauscherchen, Guckknöpfchen, Schnabbelschnute, Greiferchen, Pillermännlein, Läuferchen und noch manch anderen putzigen Blödsinn auf der Tafel.

„Denkt aber bitte auch bei diesen Wörtern an die Aufpass-Stellen!“

Mit einem Stück gelber Kreide überschreibe ich doppelte Konsonanten, Umlaute, Diphtonge, all die Dinge, um die sich der durchschittliche Erstklässler noch nicht sorgen muss, es sei denn, er besteht ausdrücklich auf verniedlichte Termini der primären Geschlechtsmerkmale. Als ich fertig bin, ist das Schaubild mit gelben Aufpass-Stellen übersät und in der Klasse ist es deutlich stiller geworden. Die Blicke der Kinder wandern von einem Schaubild zum anderen. In manchen Köpfen sehe ich es rattern.

„Ähm, Frau Weh?“

Ich streife mir nonchalant die Kreide an der Jeans ab und nehme Finn mit einem beiläufigen Nicken dran.

„Können wir doch lieber die einfachen Wörter abschreiben?“

Ich ziehe eine Augenbraue hoch.

„Naja … Penis ist echt viel einfacher!“, schaltet sich Can ein.

„Can, du hast Penis gesagt.“, stelle ich fest.

„Oh“, sagt Can, „ist mir so rausgerutscht!“, er legt die Stirn in Falten, „war aber gar nicht schlimm.“

Am Ende der Stunde stehen in allen Sachunterrichtsheften die korrekten Begrifflichkeiten. Ob aus Faulheit oder Einsicht? Ach, wer vermag das schon mit Gewissheit zu sagen …?

 

 

 

 

Horch, wer kommt von draußen rein?

Ein wenig hänge ich im Sachunterricht hinterher, aber heute schaffe ich endlich den Einstieg ins Thema Körper. Die Viertklässler allerdings ahnen noch nichts von ihrem Glück und schreiben mehr oder weniger motiviert Personalpronomen und Personalformen in ihre Hefte. 2.Person Präsens Präteritum von laufen, 3.Person Plural Perfekt von schreiben, 1.Person Singular Präsens von essen – vereinzelt ist Stöhnen zu hören, als plötzlich…

(… der Hausmeister zu vereinbarter Zeit heimlich, still und leise das schuleigene Klapperskelett vor die Klassentüre rollt, laut und vernehmlich anklopft und sich dann – vermutlich grinsend – hinter die nächste Ecke verdrückt)

POCH!

POCH!

POCH!

Die Viertklässler schauen auf. „Herein!“, rufe ich unbeteiligt und fordere, weil niemand eintritt, etwas unwirsch Sinan auf, die Türe zu öffnen. Sinan schlendert zur Türe, nicht ohne auf dem Weg dorthin eine Fratze zu ziehen und gegen Ninos Ranzen zu stolpern. Er greift an die Türklinke, öfnnet die Türe und

„WAAAAAAAHHHH!

…knallt die Tür wieder zu. „Sinan?“, frage ich unschuldig und ziehe eine Augenbraue hoch. „Da ist ein Toter vor der Tür!“, antwortet mir der arme Kerl – mittlerweile schon wieder mehr irritiert als erschreckt.

„Hähä, voll Halloween, oder was!?“ Die Viertklässler hält jetzt nichts mehr auf den Plätzen. Einige Mutige stürmen zur Türe, andere stellen sich vorsichtshalber hinter ihre Stühle oder suchen die sichere Nähe zu mir. Unter Johlen wird das Skelett in den Klassenraum gezogen.

„Ahh“, rufe ich und klatsche mir mit der Hand vor die Stirn, „habe ich doch glatt vergessen, dass wir heute Besuch von Mr.Skeleton bekommen. Tut mir ehrlich leid, Sinan!“ Ich grinse ihn an und schüttle dem Knochenmann überschwänglich die Hand. „Mr.Skeleton ist Experte zum Thema Knochenbau und wird uns eine Weile Gesellschaft leisten. Sag hallo, Mr.Skeleton!“ Mr.Skeleton hebt gehorsam seinen Arm zum Winken und grinst in die Runde, die Klasse ist begeistert. Für den restlichen Tag lassen wir Personalformen Personalformen sein und zählen Knochen, messen Gebeine ab, vergleichen Elle und Speiche, reißen knochentrockene Skelettwitze und haben irgendwie ganz schön viel Spaß.