Das Schulsystem und ich

Das Schulsystem und ich verstehen uns manchmal nicht so gut.

Immer sagt es, wo es langgehen soll. Nie fragt es mich nach meiner Einschätzung. Dauernd kommandiert es mich herum. Mal soll ich jahrgangsübergreifend arbeiten, ein paar Jahre später – ätsch! – bitte nicht mehr. Einmal ist des Pudels Kern der Sachunterricht (worüber sich der Deutschunterricht leise beschwert), dann kommt plötzlich Englisch groß raus. („Sachunterricht? Jeder Unterricht ist Sachunterricht!“) Der Deutschunterricht weint derweil leise vor sich hin und bekommt zum Trost flächendeckend „Lesen durch Schreiben“ verpasst. (Na, danke auch.) Merkt man vorsichtig an, dass die Rechtschreibleistung der Viertklässler erschreckend ist, bekommt man zu allem Übel auch noch die Auflage, wöchentlich eine Stunde des Deutschunterrichts im PC-Raum zu verbringen. Medienerziehung. Als ob das das Problem wäre…

Das Schulsystem arbeitet Hand in Hand mit seiner launigen, pubertären Schwester, der Bildungspolitik. Ständig ändert sie ihre Meinung. Das macht den Umgang mit ihr nicht einfach. Alle Jahre wieder hat sie neue, tolle Ideen, die das Schulsystem dann umsetzen soll. Ich bin nur ein winziger Teil in diesem System. Um solche winzigen Teilchen wie mich in die richtigen Bahnen zu lenken, bedarf es einer vermittelnden Instanz, der Chefin. Die Chefin ist Fan vom Bildungssystem. Neue Ideen findet sie prinzipiell gut und will sie sofort umsetzen.

Neue individuelle Förderpläne? OH, BITTE!

Flexible Eingangsstufe? HIER, HIER!

Inklusion? JAAAA!

Dann schreiben wir uns neue Begriffe auf die Fahnen, reißen die Fenster auf und wedeln wild damit herum. Lasset die Kindlein zu uns kommen!

Manchmal vergessen wir vor lauter Geschäftigkeit allerdings die alten Fahnen wieder einzuholen. Die hängen dann derangiert und traurig auf der Fassade. Bis sich irgendwer an sie erinnert, sie verschämt in Umzugskartons packt und in den Keller stellt. Dort stehen sie dann neben den Rechtschreibkarteien von Sommer-Stumpenhorst und den anderen großen Ideen. Try and error. Konvolut des Scheiterns.

In der letzten Konferenz hat Chefin gesagt, wir sollten doch mal wieder den Keller aufräumen…

Dick und Doof

In der großen Pause gab es Aufruhr. Wutentbrannt stürmen die Zweitklässler nach dem Klingeln zu mir: Der hat und… der auch… und dann… aber ich habe… und ich… und dann war der ganz alleine und alle anderen… hat Dicker zu ihm gesagt…

Die beiden Streithähne stehen weit auseinander. Beide zittern noch vor Aufregung und Tränen sind auch zu sehen. Die Klasse hat sich in zwei Lager gespalten. Beide Seiten brüllen sich an. Immerhin fliegt – von einigen nicht sehr schmeichelhaften Ausdrücken abgesehen – nichts handfesteres von einer Gruppe zur anderen. Es dauert einen Moment, bis ich sie einigermaßen geordnet in der Reihe und die Treppe hoch ins Klassenzimmer geschafft habe. Dass sofortiges Reden hier nichts bringt, ist klar ersichtlich. (Wie fast immer unterstehe ich einem gewissen Zeitdruck. Ich seufze innerlich, allein, was nützt es?) Also drücke ich Tom2 und Justin einen Zettel in die Hand mit der Aufforderung aufzuschreiben, wie sie sich gerade fühlen. Die aufgeregten Gemüter der anderen beruhige ich mit der kurzen Ansage, dass wir nach dem Wochenbericht reden.

„Aber Frau Weh! Der Tom2…!“

„NACH dem Wochenbericht!“ donnere ich und schieße einen Frau Weh Blick für spezielle Momente in die meuternde Ecke. Die Zweitklässler beruhigen sich langsam. Manch einer schreibt sich die Aufregung von der Seele.

Als die Wochenberichte fertig sind, treffen wir uns im Sitzkreis. Auch die beiden Zankäpfel haben sich zu uns gesetzt. Mit größtmöglichem Abstand zueinander. Wir singen. (Wenn nichts hilft, hilft singen!)

Am Montag spielt der Luca Fußball…

Nachdenklich schaue ich sie mir an, die Zweitklässler. Seit ich sie übernommen habe, impfe ich ihnen Gemeinschaftsgefühl und Empathie ein. Teilweise in homöopathischen Dosen.

…spielt der Luca mit seinen Freunden Fußball

Es hat sich schon viel getan in den letzten Monaten. Sie haben ein zartes Gespür für Unrecht entwickelt. Außerdem begreifen sie sich zwischendurch als Gruppe, besonders dann, wenn ich sie auf ein Spielchen herausfordere. Nur verlieren können sie noch gar nicht. Das liegt vermutlich an ihrer recht ausgeprägten Emotionalität und der noch nicht abgelegten Egozentrik einiger. Vor mir sitzt die emotionale Ursuppe der Menschheit in ihrer gesamten Bandbreite. Brodelnd, blubbernd und manchmal leicht schwefelig riechend.

…keiner sagt, du musst, keiner sagt, du sollst! Luca nimmt sich Zeit…

Ich nehme mir dann auch mal Zeit (obwohl ich sie eigentlich nicht habe),  greife die beiden Zettel und lese vor:

„Ich war ganz alleine und alle sind hinter mir her gewesen. Ich habe Angst gehabt und keiner hat mir geholfen.“

Die Zweitklässler sind still. Dann melden sich einige. Noch ein paar mehr Finger schnellen hoch.

Es ist schrecklich, wenn man ganz allein ist…Auch, wenn man eigentlich gar nicht alleine ist… Aber wenn man sich so fühlt!…Angst haben ist doof…Ich habe immer Angst, wenn ich alleine im Dunkeln bin…Ich habe NIE Angst! Ich habe Fluch der Karibik gesehen, alle Teile, das war gar nicht schlimm!…Der ist ab 12, den darfst du gar nicht sehen!…

Bevor die FSK-Diskussion ausufert, lese ich den zweiten Zettel vor: „Auf einmal hat der Justin einfach zu mir gesagt, dass ich ein fettes Ferkel bin und das war so gemein. Dann habe ich geweint.“

Das ist gemein, der Tom2 kann ja gar nichts dafür, dass er so dick ist!…Man darf keinen blöd anreden, nur weil er nicht so…na eben nicht so ist wie die anderen…Das war ziemlich doof vom Justin, da mussten wir den Tom2 doch verteidigen…

Es geht noch eine Weile hin und her. Die beiden Streithähne hören aufmerksam zu bis plötzlich Justin zu kirchern anfängt.

„Justin?“

„Frau Weh, das ist so wie in dem Film, den ich mal gesehen habe und der war ohne Farbe und mit zwei Leuten dabei und die waren wie wir: dick und doof.“

Ich erstarre innerlich. Oh nicht doch! Verdammt, alle zarten Triebe der Versöhnung roh gekappt. Ich schaue schnell in die andere Ecke, getrieben von bösen Vorahnungen.

Dort sitzt Tom2 und grinst über beide Pausbacken: „Ja, doof bist du wirklich!“

Mein Wunschzettel

Liebes Christkind,

ich bin es, die Frau Weh. Wir kennen uns ja schon. Letztes Jahr habe ich mir einen neuen CD-Player für den Musikraum gewünscht und ein paar Trommeln. Vielen Dank noch einmal dafür, das hat ja gut geklappt.

Hier ist mein Wunschzettel für dieses Jahr:

  1. Mehr Zeit. Ich würde mich freuen, wenn ich etwas mehr zu dem käme, was ich richtig gut kann. Das ist übrigens UNTERRICHTEN. Das mache ich gut und in der Regel auch sehr gerne. Dieses Jahr musste ich viel nebenbei machen. Ich sitze in Arbeitskreisen, bei denen über Förderkonzepte oder das Schulprogramm geredet wird. Ich informiere mich regelmäßig bei Therapeuten jeglicher Fachrichtungen oder sitze in Büros des Jugendamtes. Im Kindergarten überprüfe ich den Sprachstand von vier- und jetzt auch fünfjährigen Kindern. Das mache ich während meiner Unterrichtszeit. Meine Klasse ist dann leider aufgeteilt oder hat Vertretungsunterricht. Ich schreibe lauter Pläne und brüte in Konferenzen über noch mehr Plänen. Das ist schade, ich würde viel lieber neue Ideen entwickeln oder mich fortbilden. Manchmal würde ich mich auch einfach gerne regenerieren, damit ich bei Kräften bleibe. Denn anstrengend ist es schon.
  2. Mehr Ruhe. Es wäre schön, wenn man mich eine Weile mit neuen Konzepten in Frieden lassen würde. Dann könnte ich mir meine Schüler anschauen, um so selber zu sehen, welche Fortschritte schon erzielt wurden und welche Hilfen nötig sind. Ich könnte überzeugend sagen „hey, das hast du richtig gut gemacht!“ oder „na komm, das üben wir noch einmal zusammen!“ statt individuelle Förderpläne auszufüllen und Missstand an Missstand zu reihen.
  3. Eine Schulleitung, die mir – wo nötig – auch mal den Rücken freihält. Die sich auch mal traut „Nein!“ zu sagen, wenn lauter neue, lustige Vorschläge vom Schulamt oder vom Bildungsministerium kommen, was man noch so alles in der Schule ausprobieren könnte.
  4. Mehr Personal. Es wäre wirklich schön, wenn jemand anderes meine Klasse und die 70qm im Musikraum kehren könnte. Auch die Bestellung von Ersatzteilen oder Neuanschaffungen würde ich gerne an jemand abgeben. Ein an jedem Tag besetztes Sekretariat wäre ein Traum. Oh und eine Schulkrankenschwester wäre auch klasse! Und, bitte, bitte, liebes Christkind, mach, dass wir nächstes Jahr, wenn unser Hausmeister in Rente geht, einen neuen bekommen. Es ist ganz schrecklich ohne!
  5. Mehr Unterricht. Es wäre toll, wenn alle zusätzlichen Angebote wie Zahnarztkontrolle, Büchereibesuch, Schulfotograf und so weiter am Nachmittag stattfinden könnten und nicht in meiner Kernunterrichtszeit. Es wäre auch schön, wenn ich nicht andauernd irgendwelche Zettel austeilen und Abschnitte wieder einsammeln müsste. Das frisst so viel Zeit, die ich gar nicht habe. Zwei Stunden Deutsch mehr pro Woche wären sinnvoll.
  6. Eigene Arbeitsplätze für jede Kollegin. Ich würde viel lieber länger in der Schule bleiben, wenn ich wüsste, wohin mit mir und meinem Material. Das Fach, das uns zugewiesen wurde, ist leider sehr klein.
  7. Eine Papiertüte.

Liebes Christkind, ich weiß, es ist viel. Bitte halte mich nicht für unmäßig! Ich würde mich schon sehr darüber freuen, wenn du nur einen oder zwei Wünsche erfüllen könntest. Ich bin auch noch eine ganze Weile hier. Du könntest die Wünsche vielleicht über ein paar Jahre abschreiben. Oder in Raten erfüllen. Ich habe ja noch 30 Jahre und ein paar zerquetschte. Da lässt sich doch sicher etwas machen, oder?

Herzlichst, deine Frau Weh

tribunal at 7.00 pm

Ich werde vor dem Weckerklingeln wach – heute ist das Tribunal und ich bin aufgeregt. Zwar bin ich mir recht sicher, dass ich teilnehmen darf, aber dennoch… Ich bin gespannt, was mich erwartet. General meeting und tribunal sind nunmal die Kernfaktoren des self-governments, für das Summerhill berühmt (und mancherorten auch berüchtigt) ist. Handelt es sich beim meeting um die legislative Festlegung, so ist das tribunal die Judikative der Schule. Hier werden Regelverstöße vorgebracht und mehrheitlich die Konsequenzen festgelegt. Und das immer basisdemokratisch. Jeder hat eine gleichwertige Stimme, Lehrer, Schüler, houseparents. Da die Schüler in der Mehrzahl sind, können sie (bis auf die Bereiche, in denen es um gesundheitliche, gesetzliche oder schulpolitische Belange geht) durchaus Regeln auch gegen die Meinung der Erwachsenen kippen. 14.00 Uhr ist es soweit. Hui.

Gleich bin ich mit Pascale verabredet, eine Stunde Deutsch mit den Kleinen, eine Stunde Französisch mit den Älteren. Ich habe ihr versprochen, ein bisschen Bilderbuchkino zu machen. Lustigerweise hat sie eine deutsche Ausgabe von Alice im Wunderland da. Sehr seltsam. Aber da als Alternative nur meine Reclam-Reiseliteratur zur Verfügung steht (Kafkas Schloss und der Zauberberg von Mann, beides wohl nicht unbedingt geeignet für die 9jährigen), gibt es nachher also eine kleine Teeparty.

Überhaupt, der Tee. Ich habe noch nicht herausschmecken können, was das für Tee ist, den es in der Schule zu den Mahlzeiten gibt. Das Essen ist schon… ja, interessant. Gemüse scheint es nicht zu geben. Und wenn, dann hat es eine spannende Farbe und Konsistenz aufzuweisen. Aber eigentlich darf ich mich hier gar nicht beschweren, es ist normalerweise nicht gestattet, dass Besucher mitessen. Ich habe schon einen Sonderstatus, da ich wesentlich länger bleibe als die durchschnittlichen visitors. Insofern darf ich bei den Mahlzeiten anwesend sein. Zweifelhafte Ehre, da der Umgangston bei der Essensausgabe ziemlich rüde ist. Mir gegenüber sind die Schüler recht höflich – ich hatte ja anfangs andere Befürchtungen. Aber da die Schulinspektoren Zoe ziemlich im Nacken sitzen, wie mir Ruri, eine 16jährige Schülerin aus Japan, berichtete, sind die Schüler angehalten, höflich und zuvorkommend zu sein. Naja, manchen ist das offensichtlich nicht selbstbestimmt genug 😉

(…)

Das tribunal wurde wegen Enas Beerdigung von 14.00 auf 19.00 verlegt. Eigentlich mein offizielles Besuchsende, aber ich durfte bleiben. Die meetings finden in der großen Halle statt. Ich musste kurz vor der Türe warten, bis über meine Teilnahme abgestimmt wurde. Ja, ich war schon irgendwie aufgeregt, aber kein Problem, ich konnte rein. Und dann ging es ordentlich zur Sache. Oli war chairman, also Vorsitzender, dafür musste er zwei chairman-Kurse bei Zoe absolvieren. Es gab zwei Schriftführer, einen für das Mitschreiben der vorgetragenen Fälle und einen für die Strafen. Mit den Worten „I bring up…“ wurden die Fälle eröffnet. Es ging um Rauchen außerhalb der Raucherzone, aus dem Fenster springen, schlagen, drei Kaugummis wurden geklaut, Pudding übers Essen gekippt, Stören nach light out, rumpöbeln auf den Gängen, ins Essen spucken, vordrängeln bei der Essensausgabe usw. Die Strafen reichten von Geldstrafen (5 Pence bis 1 Pfund) über Gemeinschaftsarbeiten (Waschküchendienst u.a.) bis hin zu Verhaltensstrafen (früher ins Bett müssen bei der anstehenden Bonfire-Night. Da muss ich noch rauskriegen, was es damit auf sich hat.). Der Wortführer leitete die Versammlung, bestimmte die Strafe bei unentschiedenen Abstimmungen und verhängte Strafen für ungebührliches Verhalten (Lachen oder Reinquatschen) während des Tribunals. Oli wirkte wahnsinnig erwachsen und reif. Wir haben gestern ein paar Runden miteinander Tischtennis gespielt. Er ist 16 und nimmt seine Aufgabe für die Gemeinschaft sehr ernst. Er erzählte mir, dass die Entscheidung seiner Eltern, ihn nach Summerhill zu schicken, die beste gewesen sei, die sie hätten treffen können, da er hier seine Stärken ausleben und weiterbilden könne. Er hätte hier erfahren, wie wichtig Gemeinschaft sei, auch wenn es einen manchmal nerve, wenn ständig über alles abgestimmt würde.

Mir ist aufgefallen, dass, wenn jemand in seinem Fall zu persönlich oder zu stark von eigenen Gefühlen beeinflusst wurde (gerade bei den Jüngeren kullerten schonmal die Tränen vor Wut), dies von der Gruppe mit lautem „he he“ quittiert wurde. Nicht der persönliche Ärger des Einen soll die Anschuldigung begründen, sondern der offensichtliche Regelverstoß.

Das Tribunal mitzuerleben war hochinteressant. Es war beeindruckend mit allem, was ich über Neill, sein Konzept, seine pädagogischen Leitideen gelesen habe im Hinterkopf dazusitzen und ganz „in echt“ zu sehen, welche Demokratie an dieser Schule seit Jahrzehnten gelebt wird. Dennoch, ganz wohl war mir nicht dabei. Der Ernst, mit dem die Versammlung betrieben wurde, wirkte unkindlich. Ich meine, die jüngsten Schüler sind gerade 5!? Außerdem frage ich mich, ob die Anklage nicht zum reinen Petzen wird. Wo werden hier die Grenzen gezogen? (Wenn denn überhaupt welche gezogen werden.) Ist Schlagen nicht schlimmer als aus dem Fenster zu springen? Für mich auf jeden Fall eine ganze Menge zum Nachdenken. Ich werde mich jetzt ins White Horse verziehen und mich mal durchs angepriesene stout beer arbeiten. Klug eingesetzt spart das die Abendmahlzeit, hey, ich hab schließlich nur b&b!

Ach übrigens, um in Summerhill zu unterrichten, muss lediglich ein Lehrerpraktikum vorgewiesen werden. Ab morgen bin ich dran! Oh, oh.

*tbc*

Summerhill – was weißt du von Liebe und Anerkennung?

Nach ausreichend Schlaf und einem Frühstück mit beeindruckender Vielfalt im Cerealiensegment (damals – ich muss es schon wieder sagen – damals gab es hierzulande noch kaum mehr als die Kellogschen Cornflakes plus ein paar weniger süßer Variationen. Die Unmenge an verschiedenen Formen und Trockenheitsgefühlen im Mund, die mich beim Frühstücksflockenbuffet in meinem b&b empfingen – stilecht auf einem silbernen Servierwagen angeordnet – waren eine Wucht!), fand der 2. Besuch der Schule unter denkbar besseren Voraussetzungen statt.

Im Folgenden stütze ich mich auf meine damals glücklicherweise angefertigten Aufzeichnungen. Man möge den gelegentlichen stilistischen Schmu entschuldigen, ich war gerade 20 und der – in diesem Alter häufig anzutreffenden – irrigen Meinung, die Welt warte auf eine angehende Lehrerin wie mich 😉

Im Morgennebel bahnte ich mir erneut den Weg zur Schule. Das Anwesen umfasst 45.000 Quadratmeter und ist umgeben von alten Bäumen und verwilderten Sträuchern. Malerisch liegt das alte Herrenhaus vor mir, umsäumt von mehreren Pavillons, in denen teilweise Schüler, aber auch Unterrichtsräume und Werkstätten untergebracht sind. Es herrscht Ruhe, nur ein Hund bellt als ich mich dem Gebäude nähere. Mein Besuch findet zu einer ungünstigen Zeit statt: Bruce, mein Kontaktmann, lange Zeit Lehrer in Summerhill, ist letzten Term entlassen worden. Zudem verstarb knapp eine Woche vor meiner Ankunft Ena Neill, die nach dem Tode ihres Ehemanns die Schulleitung bis 1985 innehatte. Ihre Tochter Zoe, die bis heute die Schule führt, begrüßte mich knapp, verwies mich aber verständlicherweise an die Lehrer des staffs.

Tatsächlich wird Jonas, ein 15jähriger Schüler aus Deutschland, mein selbsternannter Fremdenführer werden. Er zeigt mir das weitläufige Gelände, die Baumhäuser, Ställe, die Unterrichtsräume und Wohnwagen der Lehrer. Außerdem den big beech, die altehrwürdige große Buche, von Neill gepflanzt, von der sich jeder echte Summerhillianer herabschwingen könne. Immerhin rund 5 Meter über dem Boden. (Besuchern ist dies übrigens… ja, genau, verboten). Dabei erzählt er, dass gerade ungefähr 70 Schüler verschiedener Nationalitäten zwischen 5 und 16 Jahren die Schule besuchen. Das Schulgeld liegt damals bei knapp 9000,- DM für drei terms. Verglichen mit anderen Privatschulen ist dies wenig, dennoch wird Summerhill hauptsächlich von Kindern der gehobenen Mittelschicht besucht. Die Teilnahme am Unterricht ist freiwillig, und, ja, Jonas hat nach seiner Ankunft vor zwei Jahren auch eine ganze Weile keinen Unterricht besucht, sondern hauptsächlich das Gelände erkundet wie er mir grinsend berichtet. Noten gibt es nicht, doch es besteht die Möglichkeit, eine Prüfung (das GCSE) in mehreren Fächern abzulegen, die in etwa unserem Realschulabschluss entspricht, dies strebe er an. Samstags gibt es Taschengeld, wer zu spät kommt, geht für diese Woche leer aus.

Überhaupt sind erstaunlich viele Dinge sehr strikt reglementiert. Ich stehe staunend vor der mehrseitigen Regeltafel im großen Versammlungsraum, auf der offensichtlich alles geregelt ist, was es zu regeln gibt: niemand darf aus dem Fenster im 1.Stock springen, niemand darf ins Essen spucken, niemand darf ein Fahrrad ausleihen ohne zu fragen. Handelt es sich hierbei nicht um Selbstverständlichkeiten? Muss man dafür tatsächlich 238 Regeln schriftlich festhalten? Meine Neugier auf meeting und tribunal steigt, weiß ich doch mittlerweile, dass im tribunal oft recht harte Strafen bei Regelbruch verhängt werden. Beginnend bei Nachtischentzug (was einem beim dortigen Schulessen in der Tat hart treffen kann), über allgemeine Ordnungsarbeiten bis zu Geldstrafen.

Ich lerne die einzelnen Lehrer des staffs kennen, werde freundlich begrüßt und sofort von Jude, die Musik unterrichtet, zur nachmittäglichen lesson eingeladen („if there are some children…“). Pascale, die erst seit ein paar Wochen Französisch, Deutsch und Geschichte in Summerhill unterrichtet, erzählt mir, dass sie vorher an der Freien Schule Berlin unterrichtet habe und dorthin auch wieder zurückwolle. Unterrichten in Summerhill sei hart, da die Unterrichtsverpflichtung – die Freiwilligkeit gilt nur für die Schüler – nach den Stunden nicht aufhöre. Mahlzeiten und meetings kommen dazu, außerdem ist der Tag auch abends nicht beendet, da die Lehrer, die auf dem Schulgelände wohnen, auch nach der Unterrichtszeit neben den houseparents Ansprechpartner der Kinder sind. Die Vergütung ist gering, der Frustpegel oft recht hoch. So effizient es auch sei, mit ein, zwei Schülern zu arbeiten, so ernüchternd sei es, wenn danach drei Tage niemand zum Unterricht kommt.

Nachmittags klingeln mir die Ohren als ich in der recht gut besuchten – 5 Kinder sind gekommen – Musikstunde von Jude sitze, die fröhlich verschiedene Percussioninstrumente verteilt, auf denen in den folgenden 40 Minuten sehr ausdauernd und laut herumgeschlagen wird. Ich habe noch ein Rauschen im Ohr, als ich mich mit Pascale in ihrem Wohnwagen treffe. Wenig später stößt Michael zu uns, er unterrichtet science und erzählt mir, dass er nun seit drei Jahren in Summerhill sei, das sei eine verdammt lange Zeit und überhaupt werde er bald gehen. Die meisten Lehrer scheinen Summerhill als eine Art pädagogische Durchgangsstation zu sehen, ein Punkt, der sich interessant auf der Vita ausmacht, aber bloß nicht für längere Zeit. Aber geht dadurch nicht auch die Fähigkeit zur Zuneigung, Neill selber sprach von Liebe und Anerkennung, verloren, die sie ihren Schülern entgegenbringen sollen?

Pascale schweigt. Michael schnaubt. „Du bist 20, was weißt du von Liebe und Anerkennung?“

…tbc…

 

Die grüne Wolke oder The Last Man Alive

Es ist Samstagmittag und außer dem Pfeifen der Heizung höre ich…nichts. Stille. Wunderbar. Herr Weh hilft bei einem Umzug, das mittelgroße Wehwehchen befindet sich außer Haus und das Miniweh schnorchelt zufrieden in seinem Bett, den Arm voller Kuscheltiere, das Herz voll mit Liebe. Zauber der Kindheit.

Zeit also, um in Erinnerungen zu kramen.

Meinen ersten Kontakt mit den Ideen Alexander Sutherland Neills verdanke ich meiner Kunstlehrerin im 8.Schuljahr, die uns während der Doppelstunden aus der grünen Wolke vorlas, dem Buch, das auf den Fortsetzungsgeschichten basiert, die Neill in den 1930er Jahren seinen Schülern erzählt hat. Und was jetzt hier so hübsch betulich klingt, war es nicht. Die grüne Wolke ist die Geschichte eines Endzeitszenarios, in dem lediglich eine Handvoll Menschen den Auftritt der gleichnamigen Wolke überlebt, und sich dann – Stück für Stück – gegenseitig abmurkst und überlebt. Ich war fasziniert. Später im Pädagogik-LK (nein, da schäme ich absolut nicht für, wir hatten einen großartigen Lehrer, außerdem hatte ich noch Mathe im Abi, ätsch.) erfuhr ich dann einiges mehr über den Reformpädagogen, der die selbstregulative Erziehung in seiner Schule in England propagierte. Übrigens lange vor den 60ern. Im Studium beschloss ich dann – dankenswerterweise von einer Studienstiftung finanziell gut unterstützt – mir selber ein Bild von Summerhill zu machen, ein wenig dort zu arbeiten und Erfahrungen zu sammeln, die mein pädagogisches Leitbild bis heute prägen.

„Muss Summerhill schließen?“ ist eine in englischen Zeitungen häufig zu lesende Schlagzeile gewesen. Boomte die Schule, in der es keine Schulpflicht gibt, aufgrund der gesellschaftspolitischen Entwicklungen der 60er und 70er Jahre, so stürzte der Ruf in den Folgejahren umso tiefer. Kein Geld, keine ausgebildeten Pädagogen, kein Unterricht hieß es häufig. Tatsächlich empfing mich ein recht heruntergekommenes Gebäude als ich nach 16stündiger Reise (damals gab es noch keine Billigflüge, die schnellste Verbindung war der Eurostar) in Leiston, Suffolk ankam. Auf dem Gelände umherrennde Kinder nahmen keinerlei Notiz von mir. Lediglich Churchill, das Hausschwein, äußerte ein geringes Interesse an meinen Schuhen. Das war schon anders als das gerade beendete Praktikum an einer renommierten Domsingschule, bei dem ich mit Pauken, Trompeten und – natürlich – glockenreinem Ständchen verabschiedet wurde. Ich war müde, hungrig und irgendwie auch de-romantisiert. Hatte ich mir nicht vorgestellt, hier auf lauter glückstrahlende Kinder zu treffen, die mich, den Gast aus Deutschland, freudig-neugierig in ihre Mitte nehmen würden? Neben dem Haus hockte ein ca. fünfjähriges Kind laut heulend auf einer Schaukel. Doch auch hier erntete ich auf meine mitfühlende Frage, ob ich helfen könne, nur ein geschnieftes „ah, shut up, you f* bitch!“

???

!!!

Tatsächlich hätte ich in dieser kurzen Anfangssequenz meiner Zeit auf Summerhill bereits bemerkenswert viel lernen können. Wäre ich nur objektiv, offen und einigermaßen wissenschaftlich an die Sache rangegangen. Stattdessen war ich vor allem jung, naiv und persönlich betroffen.

Lektion 1: Summerhill hat so viele Besucher, dass sie keinerlei Besonderheit darstellen. Das ist gut, hat man dadurch doch einen recht unverstellten Blick auf das Schulleben.

Lektion 2: Erwachsene und Kinder sind absolut gleichwertig und gleichberechtigt. Ein wichtiges Prinzip Neills.

Lektion 3: Schimpfworte sind allseits beliebt und nicht unbedingt persönlich zu nehmen. Tatsächlich konnte ich mein Repertoire in dieser Zeit beträchtlich aufstocken. (Es kann ja SO befreiend sein, einem Jugendlichen, der permanent den Unterricht stört, ein gut gesetztes „Verpiss dich aus meinem Raum, bis du dich wieder benehmen kannst, du Sausack!“ entgegenzurufen. Auch das ist mit Gleichwertigkeit gemeint: beiderseitiger Respekt. In meiner ganzen bisherigen Lehrtätigkeit habe ich nie wieder so störungsfreien Unterricht halten können wie in Summerhill. Wenn dort jemand im Kurs saß, dann, weil er es wirklich wollte.)

Als ich an diesem Abend in mein geblümtes Bett in meinem geblümten Zimmer meines geblümten b&bs fiel, habe ich ein bisschen geheult. Zu meiner Ehrenrettung muss ich sagen, dass vermutlich viel Erschöpfung dabei war. Außerdem war es keine gute Idee gewesen, die Reise mit nagelneuen Doc’s anzutreten.

Ich fühlte mich wirklich wie der letzte Mensch auf Erden. Aber es sollte besser werden…

*to be continued*