Das Ende naht

Da ist er, der Schuljahresendstress. Ein bisschen früh dran in diesem Jahr. Dafür aber – so scheint es – schlägt er diesmal nicht nur zu, nein, er stürzt sich gewaltbereit und bis an die Zähne bewaffnet auf die wehrlose Lehrkraft, zerrt sie hinter die Tafel und gibt ihr so richtig eine auffe Zwölf.

Oder wie ist es sonst zu erklären, dass sich annähernd kein Zweitklässler mehr mit der Uhr auskennt? Ach was, sie kennen sich nicht nur nicht damit aus, sie bestreiten jeglichen Kontakt mit der Materie. Die Uhr? Haben wir nie gelernt, Frau Weh! Hast du uns noch nie was von gesagt! Nur den Beginn der Frühstückspause, ja den kennen sie. Man könnte vermuten, sie hätten heimlich einer Gewerkschaftssitzung beigewohnt, so sicher und einig sind sie sich in der Wahrung ihrer Rechte.

Ansonsten Geschrei an allen Fronten. Frau Killefitz-Klette fällt ganz plötzlich auf, dass es ja bald ein Notenzeugnis gibt ihre Tochter ein ernstzunehmendes Matheproblem hat, welches zwar von mir bereits mehrfach angesprochen wurde, aber erst heute, jetzt, in diesem Moment! so wichtig wird, dass sie umgehend einen Termin wünscht. Sie kann heute entweder um 10.15 Uhr oder dann ab 17.00 Uhr.

Die Klassenpflegschaft, die ein deutlich besseres Gespür für Timing hat und mich nach Schulschluss im Flur abfängt, möchte ganz schnell noch ein Sommerfest auf die Beine stellen, gerät dabei aber in Terminkollision mit dem Abschlusskonzert der kooperierenden Musikschule. Mein (nicht ganz selbstloser) Vorschlag, beides zu kombinieren, stößt auf beidseitige Empörung. „Es gibt eine Zeit zu feiern und eine Zeit zu tröten!“, verkündet die Pflegschaft. Über das diskriminierende Wort „tröten“ empört sich die Musikschulkraft lautstark. Man muss nicht sonderlich empathisch veranlagt sein, um die in den letzten 25 Jahren Blockflötenunterricht erlittenen Verletzungen und Beleidigungen zu spüren, die den Worten innewohnen. Mit der Mitteilung, ich sei dabei, mit oder ohne Blockflöte, überlasse ich die Damen sich selber und suche schleunigst das Weite, bevor noch jemand Feuer fängt.

Ja, die Eltern werden nervös, die Kinder hibbelig, die Kolleginnen dünnhäutig und die Schulleitung möchte frühzeitig Zeugnisse sehen. Aber ich muss ja noch die Uhr … und überhaupt, die Zeugnisse! Ach je! Die schuleigenen Arbeitspläne mahnen mich zur Quadratur des Kreises. Wie sonst wohl sollte ich noch drei zwei Sachunterrichtsthemen schaffen, beobachten die Zweitklässler doch seit Wochen hingebungsvoll ihre Schnecken, die in einem Terrarium im Klassenzimmer wohnen. Da wird gemessen, gewogen, gefüttert und geliebt. Die Kinder die Schnecken und die Schnecken … nun ja, die Schnecken sich selber. Sieht irgendwie auch ganz putzig aus. Die reinste Weichtierpoesie. Wusstet ihr übrigens, dass das corpus delicti bei Schnecken Liebespfeil heißt? Ramon zumindest interessiert sich sehr für das Liebesleben der Viecher und hat bereits eine Tabelle zur Häufigkeit des Paarungsaktes entworfen. Der Zweck heiligt die Mittel und Tabellen musste er sowieso noch üben.

„Wenn wir richtig leise arbeiten, Frau Weh, dann können wir die Schnecken fressen hören!“, stellt Finnja erfreut fest und ich denke ganz egoistisch, warum sich jetzt noch den Stress mit einer Magnetwerkstatt antun, wenn man es stattdessen schneckenleise in der Klasse haben kann?

„Schneckenleise ist das neue kompetenzorientiert!“, erkläre ich also dem Chef selbstbewusst, als er mich auf meine fehlenden Sachunterrichtsthemen anspricht. Für ein längeres Gespräch bleibt keine Zeit, ich habe einen Termin mit der Schulpsychologin und der Mutter von Ramon. Mal wieder. Aber, hey, zum letzten Mal in diesem Schuljahr! Noch fünf Wochen, geht mir durch den Kopf, das wuppen wir doch ganz lässig. Ich schreibe noch schnell einen neuen* Schneckenwitz** an die Seitentafel und harre der Dinge, die da noch so kommen.

 

* unbedingt empfehlenswert ist das Anlegen einer Witzekartei (nicht nur) zu den einzelnen Unterrichtsthemen. Kinder LIEBEN Witze. Sie verstehen sie nicht und erzählen können sie sie meist auch nicht, aber sie LIEBEN sie.

** Treffen sich zwei Schnecken im Wald. Eine der beiden ist total zerschrammt. Fragt die eine:
„Was hast du denn angestellt?!“
Antwortet die andere:
„Ich bin mit Vollgas durch den Wald gerannt, da schießt plötzlich vor mir ein Pilz aus dem Boden! Da konnte ich echt nicht mehr bremsen.“

 

 

 

 

Pulleralarm

„Pipimann!“

„Schniedelwutz!“

„Gürkchen!“

„Pillermännchen!“

„Hähnchen!“

„Piepmatz!“

Den Erstklässlern fallen beeindruckend viele Bezeichnungen für genau jenes Körperteil ein, das auch im noch so kleinen Zustand einen gewaltigen Unterschied macht. Bei manchen bin ich mir nicht sicher, ob sie noch als Synonym durchgehen oder eher euphemistisch gebraucht werden, aber allen Wörtern gemein ist der Zwang zur Verniedlichung, der manche Erziehungsberechtigten überkommt, wenn es um nackte Tatsachen geht. Genau diese habe ich gerade an die Tafel gezeichnet. Natürlich nicht als Alleinstellungsmerkmal, Sexualunterricht folgt in den nächsten Jahren, sondern inmitten zweier ob ihrer Pudelnackigkeit grinsenden Strichmännchen. Mein Körper ist das Sachunterrichtsthema, das uns in den nächsten Wochen beschäftigen wird und die Kenntnis verschiedener Körperteile gehört zwingend dazu. Ebenso wie eine genaue Begrifflichkeit und so möchte ich mich mit den giggelnden Erstklässlern darauf einigen, die Dinge beim Namen zu nennen. Aber ich habe nicht mit dem Einfallsreichtum der Elternschaft und der Hartnäckigkeit der jungen Padawane gerechnet.

„Das ist der Penis.“, sage ich und ernte ungläubiges bis fassungsloses Kopfschütteln. Wie kann sie dieses Wort benutzen …!?

Zur Ehrenrettung mancher Elternhäuser möchte ich nicht verschweigen, dass es durchaus Kinder gibt, die im gleichen Moment ohne jegliche Probleme die korrekten Bezeichnungen in ihre Sachunterrichtshefte notieren und ebenfalls die Köpfe schütteln. Allerdings über die ausgelassenen Mitschüler, die – übrigens alle männlich – sich nach wie vor auf genante Weise echauffieren.

„Gut“, lenke ich nach einer Weile und einem schnellen Blick auf die Uhr ein, „wir machen das anders. Ihr besteht auf Niedlichkeit, dann machen wir es aber richtig.“ Mit schnellen Strichen male ich ein zweites Strichmännchenpaar auf die Tafelseite und ziehe flugs ein paar Striche an die strategisch wichtigen Stellen.

„Die Gürkchenfraktion schreibt bitte diese Wörter ab!“

Ich notiere Lauscherchen, Guckknöpfchen, Schnabbelschnute, Greiferchen, Pillermännlein, Läuferchen und noch manch anderen putzigen Blödsinn auf der Tafel.

„Denkt aber bitte auch bei diesen Wörtern an die Aufpass-Stellen!“

Mit einem Stück gelber Kreide überschreibe ich doppelte Konsonanten, Umlaute, Diphtonge, all die Dinge, um die sich der durchschittliche Erstklässler noch nicht sorgen muss, es sei denn, er besteht ausdrücklich auf verniedlichte Termini der primären Geschlechtsmerkmale. Als ich fertig bin, ist das Schaubild mit gelben Aufpass-Stellen übersät und in der Klasse ist es deutlich stiller geworden. Die Blicke der Kinder wandern von einem Schaubild zum anderen. In manchen Köpfen sehe ich es rattern.

„Ähm, Frau Weh?“

Ich streife mir nonchalant die Kreide an der Jeans ab und nehme Finn mit einem beiläufigen Nicken dran.

„Können wir doch lieber die einfachen Wörter abschreiben?“

Ich ziehe eine Augenbraue hoch.

„Naja … Penis ist echt viel einfacher!“, schaltet sich Can ein.

„Can, du hast Penis gesagt.“, stelle ich fest.

„Oh“, sagt Can, „ist mir so rausgerutscht!“, er legt die Stirn in Falten, „war aber gar nicht schlimm.“

Am Ende der Stunde stehen in allen Sachunterrichtsheften die korrekten Begrifflichkeiten. Ob aus Faulheit oder Einsicht? Ach, wer vermag das schon mit Gewissheit zu sagen …?

 

 

 

 

Prima Klima? Teil 2

Am nächsten Morgen beichte ich der Klasse meine Tat. Natürlich ist die Empörung groß, schließlich hat man sich Mühe gegeben. Einige Kinder räumen ein, dass es mir wahrscheinlich um den Effekt gegangen und dieser ja immerhin deutlich geworden sei. Nach einigem Hin und Her beschließt die Klasse großmütig, mir die Methodenwahl zu verzeihen, wenigstens habe man ja noch Fotos von den Werken.

Ich warte ab, bis es wieder ruhig ist, und teile den Viertklässlern dann mit, dass ich bei der Aktion geschummelt habe. Sie schauen mich ratlos an. Sie haben mir doch schon verziehen! Ich stelle eine große Glasvase auf mein Pult. Sie ist gut mit Wasser gefüllt. Auf meine Aufforderung lösen Sinan und Schmitti je 10 Eiskugeln aus der Folie und lassen sie ins Glas fallen. Friederike stellt fest, dass der Wasserspiegel steigt. Ich zwinkere ihr zu und lasse sie mit einem Folienstift den aktuellen Füllstand auf die Vase zeichnen.

Während wir uns die Zeit mit adverbialen Bestimmungen vertreiben, schmelzen die Eiskugeln.

„Da ist ja gar nicht mehr Wasser drin!?“, staunt Celina, als wir uns nach der Pause erneut mit dem Phänomen beschäftigen. „Haben Sie wieder geschummelt?“, fragt Nick streng. Aber da ich wegen meiner Pausenaufsicht den Klassenraum mit den Kindern gemeinsam verlassen habe, wird klar, dass ich diesmal meine Finger nicht im Spiel habe.

„Aber dann ist das Abschmelzen der Pole ja gar kein Problem.“, Katherine kratzt sich am Kopf. Ratlosigkeit macht sich breit. Ich schlage vor, mehrere Teams zu bilden, um herauszufinden, was genau der Meeresspiegelanstieg mit dem Klimawandel zu tun hat. Die Gruppen sind schnell gebildet. Einige Kinder sitzen bereits am Computer, manche holen sich Lexika, Bücher und Zeitschriften. Alisas Gruppe bittet um die Genehmigung, weitere Experimente durchzuführen. Ich erkläre mich bereit, neue Eiskugeln aus der Lehrerküche zu holen und freue mich über die unverhoffte Gelegenheit, dies mit einer Tasse Kaffee und einem kurzen Plausch mit der weltbesten Sekretärin zu verbinden.

Als ich mit Kaffee und Eiskugelbeuteln wiederkomme, arbeiten fast alle Gruppen mit Feuereifer. Alisas Team hat auf die Schnelle eine neue Insel geknetet und – ich staune! – Landzungen eingebaut, auf denen die Mädchen nun die Eiskugeln ablegen. Auch hier wird der Wasserstand mit Marker auf der Seite festgehalten. Vorsichtig tragen sie die Schale auf die Fensterbank.

Am Ende der Arbeitszeit hält eine Gruppe einen Kurzvortrag über die verschiedenen Faktoren globaler Erwärmung. Das meiste ist korrekt, bei manchem muss ich intervenieren. Schwierige Inhalte müssen noch einmal etwas heruntergebrochen werden, damit alle Viertklässler das Phänomen verstehen.

Eine weitere Gruppe hat sich das große Mammut-Buch der Technik vorgenommen und hält einen etwas kruden Vortrag über Archimedes. Besonders die Tatsache, dass der alte Grieche nackt im Zuber hockte, als er seine Entdeckung der Verdrängung machte, sorgt für Heiterkeit.

Die Eiskugeln aus Alisas Gruppe sind noch nicht alle geschmolzen, aber es lassen sich bereits Schlüsse ziehen, dass Schmelzwasser sehr wohl für einen Anstieg des Wasserspiegels verantwortlich sei, allerdings müsse es sich vor dem Schmelzen auf Land befunden haben.

Ich bin zufrieden mit dem Verlauf der Stunden, die Kinder ebenfalls. Als wir den Klassenraum verlassen, hakt sich Friederike bei mir ein: „Das war schon fies von Ihnen, Frau Weh! Erst unsere Inseln zerstören und uns dann auch noch in die Irre führen wollen. Gut, dass wir so schlau sind!“

Ich schweige und lächle.

Prima Klima?

2. Stunde, Kunst (oder etwa nicht?) in meinem 4. Schuljahr:

Mit Hingabe formen die Viertklässler in Gruppenarbeit kleine Inseln aus Knetgummi. Wir haben bereits eine intensive Sachunterrichtsstunde zum Klimawandel hinter uns und alle sind froh, ein wenig entspannen zu können. Es ist nicht leicht, Schüler mit dem Thema zu konfrontieren, ohne dass sich bei manchen unmittelbar Ängste aufbauen. Tatsächlich, so habe ich in den letzten Jahren erfahren, sind die Antennen von Kindern viel sensibler auf Zukunft ausgerichtet, als die mancher Erwachsener. Denn es geht um ihre Zukunft. Und von der haben viele Zehnjährige bereits ein klares Bild. So wollen wir leben ist daher ein passender Titel für die Miniaturwelten, die hier gerade entstehen. Ich erkenne Häuser, Bäume und sogar ein winziges Schweinchen. „Das sieht toll aus!“, lobe ich Giuliano, „Ist das Schwein von dir?“

„Ja“, bestätigt der Junge stolz und weist mich darauf hin, dass hinter dem Bauernhof auch noch ein Kaninchenstall stünde. Ich bin hingerissen und spare nicht mit Lob. Auch die anderen Gruppen können gute Arbeit vorweisen und die Stimmung steigt, als ich die unausweichliche Frage, ob es auch Noten für die Werke gäbe, positiv beantworte. Für Noten würden die Viertklässler alles tun.

Sie befüllen die Plastikwannen, in denen die Kneteinseln stehen, vorsichtig mit Wasser und posieren stolz vor meiner Kamera. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ich Ergebnisse aus dem Kunstunterricht fotografiere und auf unsere Schulhomepage stelle, ist doch der Kunstunterricht meine heimliche Liebe, der sowohl die Viertklässler als auch ich hingebungsvoll frönen. So argwöhnen sie auch nichts, als ich den Vorschlag mache, doch noch ein paar kleine Eisberge ins Wasser zu lassen, der Optik wegen.

Im Gegenteil: „Coole Idee, Frau Weh!“, rufen sie und übersehen in ihrem Eifer völlig, wie seltsam es ist, dass ich auf einmal gleich mehrere Beutel mit Eiskugeln aus einer Kühltasche ziehe. Stattdessen lassen die Gruppen fröhlich Eisberg um Eisberg ins Wasser plumpsen und freuen sich darüber, dass die Inseln kleine Tropfen abbekommen.

„Vorsicht!“, ruft Giuliano, „Die Kaninchen!“

Da klingelt es zur Pause.

Ich gestehe, dass ich der globalen Erwärmung in den nächsten Minuten ein wenig zuarbeite, indem ich die Eiskugeln, die munter um die Inselchen tanzen, mit einem Schuss heißen Wassers zu Leibe rücke. Alles für die Show, denke ich, als der Miniaturmeeresspiegel ansteigt und die ersten Zäune, Menschen und – ja! – auch den Kaninchenstall versinken lässt. Den Rest besorgt der völlig überheizte Klassenraum. Am Ende der Pause sind die Inselstaaten der Viertklässler überschwemmt.

„Was ist denn hier passiert!?“

Ungläubiges Entsetzen ist den Kindern ins Gesicht geschrieben, als sie fassungslos vor den Überresten ihrer Arbeit stehen. Ich lasse sie wüten, horche aber aufmerksam auf den Erkenntnistransfer, der nicht lange auf sich warten lässt.

„Es ist ja auch superheiß hier, kein Wunder, dass alles schmilzt!“

„Das ist wie mit der Erderwärmung und dem Polareis.“

„Der Meeresspiegel ist angestiegen und hat alles kaputt gemacht.“

Ich kann nicht anders, ich freue mich über die hellen Köpfe vor mir, die bereits Rettungsmöglichkeiten erwägen. Für ihre Kneteinseln hier und für die Welt da draußen.

 

 

Wenn wir über Sex reden…

Wenn wir über Sex reden…

  • lachen wir niemanden aus!
  • behandeln wir die Fragen und Meinungen der anderen mit Respekt!
  • benutzen wir Fachwörter!
  • schämen wir uns nicht!
  • dürfen wir alles fragen! („Wirklich ALLES!?“, will Giuliano wissen. „Alles!“, antworte ich. „Wow!“)
  • bleiben private Dinge auch privat!*
  • bleiben wir cool :-)“

Erste Stunde Sexualerziehung. Ich bin überrascht, wie ruhig und gefasst die Viertklässler sich verhalten, hatte ich doch anderes erwartet: heiße Öhrchen, mehr verschämtes Kichern vielleicht. Tatsächlich sind sie sehr aufmerksam und mit gebotenem Ernst bei der Sache. Während sie anonym alle Fragen auf kleine Zettel bringen, deren Beantwortung sie sich wünschen, beobachte ich die Kinder und bin wirklich berührt von der vertrauensvollen Atmosphäre, die uns nach erst einem Jahr gemeinsamen Lernens verbindet. Meine Güte, was war das letzen Herbst noch für eine Bande!

Bei der Auswertung der Fragen kristallisieren sich die erwarteten Schwerpunkte heraus: Warum gibt es Sex? Warum lachen so viele Leute, wenn es um Sex geht? Wie geht Sex überhaupt? Wie entstehen Babys? Wie ist das mit der Geburt?

Vieles können die Kinder bereits untereinander klären, anderes erkläre ich mit einfachen Worten. Nichts davon kommt unerwartet, doch es gibt noch mehr Fragen: Was sind Pornos? Wofür benutzt man Kondome? Warum gibt es im Internet so viele nackte Frauen? Gibt es wirklich Penisse aus Gummi? Was ist sexueller Missbrauch? Dürfen Kinder Sex haben? Wie geht das, wenn man schwul ist?

Einmal begonnen, sprudelt es aus vielen Kindern hervor: Was sie schon einmal gesehen haben, womit sie bereits konfrontiert wurden. Immer mehr Finger strecken sich in die Höhe und zeigen den hohen Redebedarf meiner Klasse an. Wieder einmal wird mir bewusst, wie anders die Lebenswirklichkeit für Kinder heute aussieht. Wie schwer sie es haben, unbeschadet groß zu werden. Und dass der unbedachte Umgang mit unseren grenzenlos verfügbaren Medieninhalten ein Problem darstellt, dem so viele Eltern hilflos und – ja! – auch verharmlosend oder ignorierend gegenüberstehen.

Wir reden und reden und reden. Ganz selten muss ich auf unsere zu Beginn gefassten Gesprächsregeln aufmerksam machen, zweimal muss ein Junge frische Luft schnappen gehen (manchem wurde es dann doch ein wenig warm), aber alles im Rahmen. Am Ende der Stunde lobe ich die Viertklässler für das ruhige, gute Gespräch und äußere den Wunsch, dass es auch in den weiteren Stunden so bleiben möge. Sie nicken und bestätigen, wie toll es sei, dass sie alles sagen und fragen dürften. Dass es hier viel einfacher sei, darüber zu reden. Ich freue mich darüber, ist die gezeigte Offenheit doch ein großer Vertrauensbeweis an mich und die Klassengemeinschaft, die mittlerweile trägt und Schutz bietet.

Als ich abends meine Unterlagen mit den Fragen, die den Schülern unter den Nägeln brennen, durchgehe, spüre ich die Verantwortung bleischwer auf meinen Schultern lasten. Die Zweifel kommen ganz plötzlich und unerwartet. Hoffentlich schaffe ich das, geht mir durch den Kopf. Wie kriege ich es bloß hin, offen den auf dem Tellerrand Tanzenden die Fragen zu beantworten, während andere Kinder noch gar nicht ermessen, wie viel Suppe da eigentlich vor ihnen schwappt? Die der Aussicht, diese Suppe irgendwann in noch weiter Zukunft auch einmal probieren zu wollen, noch mit einem ungläubigen Kopfschütteln begegnen und die tatsächlich für den Moment noch gerne an eine andere Art der eigenen Empfängnis glauben wollten, als die der körperlichen Begegnung der eigenen Eltern.

Mein Blick schweift über das vielfältige Material, das ich zusammengetragen habe, und bleibt bei der DVD hängen, auf der der 3D-Ultraschall des Miniwehs dokumentiert ist. Ich nehme ich sie in die Hand und spüre der Erinnerung an diese besondere Zeit nach. Ein Wunder, immer noch!

Es wird schon werden, denke ich.

 

Knochenkochen

Ich stehe in der Küche und fluche.

Seit gefühlten Stunden koche ich Hühnerknochen aus, um ein Experiment für den Sachunterricht vorzubereiten. Genaugenommen ist dies bereits der 3.Anlauf der Versuchsvorbereitung. Die ersten abgenagten Hühnerknochen, die die Viertklässler fleißig gesammelt haben, hat sich die Wehsche Hauskatze in einem Moment der allgemeinen Unaufmerksamkeit geschnappt. Bei Knochenlieferung Nummer 2 war ich dann wesentlich cleverer und habe sie in einer amerikanischen Qualitätsplastikdose untergebracht. (Leider habe ich sie dort vergessen. Ich dummes Huhn!) Nachdem ich die pelzigen Überreste einige Zeit später entsorgt habe, habe ich mich der nächsten Hähnchenschenkel umgehend persönlich angenommen und so kochen die Gebeine nun vor sich hin. Sinnierend stehe ich im nicht so wahnsinnig angenehm duftenden Dampf und angle gelegentlich mit der Suppenkelle nach dem ein oder anderen Beinchen, um zu sehen, ob endlich alle Fleisch- und Fettreste entfernt sind. Dabei mache ich mir Gedanken zur Unterrichtsplanung. Wer sagt denn, dass diese ausschließlich am Schreibtisch stattfinden soll?

Der Versuch vermittelt den Kindern nicht nur Wissen, sondern ist vor allem spannend – zu Hause mit Knochen zu experimentieren dürften den meisten meiner Schüler fremd sein.

Die Viertklässler, die sich seit einiger Zeit sehr intensiv mit dem Thema Körper befassen, werden herausfinden, dass Knochen stark belastbar sind. Sie werden Kalzium und Phosphor als wichtige Bausteine für ein widerstandsfähiges und belastbares Knochengerüst kennenlernen. Danach startet das eigentliche Gummiknochen-Experiment:

Ein Hühnerknochen wird in eine Schale mit Essigessenz gelegt. Mit einem Deckel wird die Schüssel abgedeckt. Nach 3-4 Tagen lässt sich der Knochen biegen ohne zu brechen, da der Essig die Mineralien aus dem Knochen gelöst hat.

Die Viertklässler werden den Versuchsaufbau im Vorfeld beschreiben und Vermutungen anstellen, was passieren könnte (der Knochen löst sich auf, der Knochen wird kleiner/größer, der Knochen verändert die Farbe, etc.) Diese Vermutungen werden unkommentiert aufgeschrieben und im Nachhinein evaluiert. Nach der Beobachtung und Auflösung des Versuchs werden die Schüler eine Vorgangs-/Versuchsbeschreibung und eine Skizze dazu anfertigen. Die Ergebnisse werden in ihrem Körperbuch dokumentiert.

Nachdem ich mit meiner Planung soweit ganz zufrieden bin, gieße ich die schneeweißen Knöchelchen ab, lüfte die Küche ordentlich und beiße genussvoll in eine Essiggurke. Da stutze ich… sind Essiggurken eigentlich gefährlich für dumme Hühner?

Horch, wer kommt von draußen rein?

Ein wenig hänge ich im Sachunterricht hinterher, aber heute schaffe ich endlich den Einstieg ins Thema Körper. Die Viertklässler allerdings ahnen noch nichts von ihrem Glück und schreiben mehr oder weniger motiviert Personalpronomen und Personalformen in ihre Hefte. 2.Person Präsens Präteritum von laufen, 3.Person Plural Perfekt von schreiben, 1.Person Singular Präsens von essen – vereinzelt ist Stöhnen zu hören, als plötzlich…

(… der Hausmeister zu vereinbarter Zeit heimlich, still und leise das schuleigene Klapperskelett vor die Klassentüre rollt, laut und vernehmlich anklopft und sich dann – vermutlich grinsend – hinter die nächste Ecke verdrückt)

POCH!

POCH!

POCH!

Die Viertklässler schauen auf. „Herein!“, rufe ich unbeteiligt und fordere, weil niemand eintritt, etwas unwirsch Sinan auf, die Türe zu öffnen. Sinan schlendert zur Türe, nicht ohne auf dem Weg dorthin eine Fratze zu ziehen und gegen Ninos Ranzen zu stolpern. Er greift an die Türklinke, öfnnet die Türe und

„WAAAAAAAHHHH!

…knallt die Tür wieder zu. „Sinan?“, frage ich unschuldig und ziehe eine Augenbraue hoch. „Da ist ein Toter vor der Tür!“, antwortet mir der arme Kerl – mittlerweile schon wieder mehr irritiert als erschreckt.

„Hähä, voll Halloween, oder was!?“ Die Viertklässler hält jetzt nichts mehr auf den Plätzen. Einige Mutige stürmen zur Türe, andere stellen sich vorsichtshalber hinter ihre Stühle oder suchen die sichere Nähe zu mir. Unter Johlen wird das Skelett in den Klassenraum gezogen.

„Ahh“, rufe ich und klatsche mir mit der Hand vor die Stirn, „habe ich doch glatt vergessen, dass wir heute Besuch von Mr.Skeleton bekommen. Tut mir ehrlich leid, Sinan!“ Ich grinse ihn an und schüttle dem Knochenmann überschwänglich die Hand. „Mr.Skeleton ist Experte zum Thema Knochenbau und wird uns eine Weile Gesellschaft leisten. Sag hallo, Mr.Skeleton!“ Mr.Skeleton hebt gehorsam seinen Arm zum Winken und grinst in die Runde, die Klasse ist begeistert. Für den restlichen Tag lassen wir Personalformen Personalformen sein und zählen Knochen, messen Gebeine ab, vergleichen Elle und Speiche, reißen knochentrockene Skelettwitze und haben irgendwie ganz schön viel Spaß.

 

Krieg und Frieden

„Und an diesem schrecklichen Tag kamen die Phosphorbomben. Phosphor bringt Leid, so großes Leid, denn es brennt die Haut weg. Wir hörten das Surren, die Motorengeräusche und sind nur noch gerannt, gerannt bis wir im Bunker waren.“

Oma Elsa erzählt von ihrer Schulzeit in den Kriegsjahren. Es ist totenstill in der Klasse, die Drittklässler sitzen wie erstarrt auf ihren Plätzen und hängen an ihren Lippen. Haben sie eben noch das ein oder andere cool! fallen lassen, als es um den Aufmarsch der Truppen, das Paradefahren der Panzer ging, so ringen sie nun um Fassung, als die alte Dame von Todesangst, Fliegeralarm und stundenlangem Ausharren in dunklen Kellern berichtet. Den ersten Toten hat sie mit 6 Jahren gesehen, einen Nachbarn, vor ihren Augen erschossen, an den Füßen die Treppe heruntergezerrt. Sie spricht mit fester Stimme von den Gräueln ihrer Kindheit. Einer Kindheit, die von Überlebensangst, Entbehrung und Hunger gekennzeichnet war.

In den meisten Augen sehe ich Entsetzen, in vielen auch Tränen schimmern. Die alte Dame erzählt packend und nimmt die Kinder mit auf ihre Reise in die Vergangenheit. Auch ich muss mich räuspern, als ich sie am Ende der Stunde frage, wie ihr Weiterleben nach diesen furchtbaren Erfahrungen möglich war. Sie blickt mich ruhig aus wasserblauen Augen an und denkt über die Antwort nach: „Sie werden es verstehen, Frau Weh. Es ist die Liebe.“  Die alte Dame streicht sanft über den Arm der neben ihr sitzenden Enkelin. „Es ist die Liebe zu Kindern, die mich mein Leben lang getragen hat. Die Welt für kleine Seelen ein bisschen besser zu machen. Ja, das war und ist es immer noch. Das ist mein Frieden.“ Ich nicke, antworten ist mir nicht möglich.

Wie immer nach einem Besuch verabschiedet sich die Klasse mit einem Lied. Für Oma Elsa haben wir „Kein schöner Land“ eingeübt. Sie freut sich. Als ich sie zur Türe begleite, greift die alte Dame nach meinem Arm und lächelt. „Danke“, sagt sie, „es war mir eine Freude kommen und berichten zu dürfen!“

Ich bin berührt.

Möge die Macht…

3.Schuljahr, Sachunterricht.

Ich liege ohnmächtig auf dem Boden, 25 Kinder starren auf mich herunter, eins hockt auf mir drauf.

„Du musst gucken, ob sie noch atmet, Nino!“

Nino wirkt leicht gestresst. Eben noch hat er sehr großspurig mitgeteilt, dass die stabile Seitenlage ja wohl voll langweilig sei und er das sowieso alles könne, nun findet er sich umringt von seinen Klassenkameraden auf dem Bauch seiner Klassenlehrerin wieder. So hatte er sich das nicht vorgestellt.

„Hallo, Frau Weh, hören Sie mich?“, Nino rüttelt kläglich an meinen Schultern. „Atmen Sie noch?“

„Das kann sie dir doch nicht sagen, du Trottel. Sie ist OHN-MÄCH-TIG!!!“, Friederike ärgert sich, wäre sie doch tausendmal lieber an seiner Stelle. „Außerdem musst du runter von ihr, wenn du ihr jetzt den Bauch brichst, müssen wir zu Frau Schmitz-Hahnenkamp!“ Ich möchte auch keinen gebrochenen Bauch haben und grummle zustimmend.

Nino steigt ab und legt vorsichtig eine Hand auf meinen Bauch. Ich merke, dass sich ein kleines Ohr über meine Nase schiebt. Aus kleiner Gemeinheit halte ich die Luft an. In Nino wächst das Unbehagen: „Sie atmet aber gar nicht! Frau Weh!?“

„Geil, musst du so machen!“ PONK PONK Ich blinzle ein bisschen und sehe, wie Schmitti rhythmisch mit den Fäusten auf den Tisch donnert. Bevor ich ernstlich intervenieren muss, kommt mir Friederike zu Hilfe:

„Boah, lass mich mal, du Doof!“ Friederike schiebt Nino resolut zur Seite, überstreckt routiniert meinen Kopf, kontrolliert die Atmung, mit der ich mittlerweile wieder begonnen habe, legt den einen Arm zum rechten Winkel, führt die andere Hand an mein Gesicht, hebt mein Bein an und – zack! – liege ich in der stabilen Seitenlage. Noch ein paar Schönheitskorrekturen und fertig. Überhaupt kein Problem, alles easy peasy lemon squeeze. Die Klasse applaudiert.

Ich erwache aus meiner Ohnmacht: „Oh, wo bin ich?“ Alle sind entzückt über meine offensichtliche Desorientierung. „Keine Sorge, Frau Weh“, meldet sich liebevoll der kleine Grabowski zu Wort, „du bist in Klasse, nur eine ohne Macht war da, jetzt wieder alles gut!“

 

Testosteron-Alarm

„Wollense mal so ein richtig dickes Rohr halten, Frau Weh?“

Der dröhnende Bass von Manfred reißt mich aus meinen Gedanken. Vor meiner Nase baumelt ein B-Schlauch. Dahinter das breite Grinsen des Feuerwehrmannes. Es gibt auch noch andere Schläuche, ich kenn mich da bereits rudimentär mit aus. Es ist wieder so weit, die Viertklässler beschäftigen sich mit dem Thema Feuerwehr. Tatütata und schon ist sie da. Mit an Bord – wie jedes Jahr – zwei ganze Kerle: Manfred und Dieter. Schrankgroß, schrankbreit und mit unverrückbarem Frauen- und Weltbild.

Nein, Manfred und Dieter sind nicht verkehrt. Ehrlich, sollte ich in einem brennenden Haus stehen oder – sagen wir mal – unter einem Auto eingequetscht liegen, dann sind es genau Manfred und Dieter, denen ich dann große Handlungskompetenz zutraue und die bestimmt ganz genau wissen, wie sie mich da möglichst in ganzen Stücken wieder rausbringen. Dabei dürfen sie mich dann auch gerne über die Schulter werfen und grunzen wie King Kong.

Ohne Feuer und den geringsten Gefahrenhintergrund bahnt sich diese im Ernstfall wünschenswerte Energie verbale Wege. Das ist mir nicht neu. Genau den gleichen Spruch habe ich auch schon letztes Jahr gehört. Und davor das Jahr. Folgen wird übrigens kurze Zeit später der Satz „Jetzt bringense das Ding mal ordentlich zum Spritzen!“. Dann nämlich, wenn die Kinder Schläuche, Standrohr, Verteiler, Pumpen und was sonst noch dazu gehört zum nächsten Unterflurhydranten geschleppt haben und aufgeregt auf das Kommando „1. Rohr, Wasser marsch!“ warten. Wie gesagt, alles schon gehabt. Und ich darf IMMER zuerst Hand anlegen. Schön, wenn man sich wenigstens auf manche Dinge so verlassen kann wie auf den bewährten Machismus von Dieter und Manfred.

Natürlich mache ich der Feuerwehr die Freude, nehme die Spritze in die Hand, quieke ein bisschen, wenn das Wasser kommt und tue so, als sei das richtig, richtig aufregend. Ja, ich meine, wer weiß denn schon, ob ich die beiden nicht mal in einer wirklich brenzligen Situation treffe. Da möchte ich dann auch nicht, dass sie sich angucken und denken ach, das war doch die, die sich zu fein war, um mal ordentlich anzupacken. Nee. Da muss man vorausschauend handeln.

Später im Lehrerzimmer sind Manfred und Dieter natürlich Gesprächsthema. Männer haben wir ja nicht so oft. Und wenn ich die Wahl hätte – eingequetscht oder halb erstickt vom Rauch, dem Ertrinken nahe oder im Auge des Feuersturms – zwischen den Busbegleitern, dem Verkehrspolizisten und Manfred und Dieter, na da würde ich ganz klar zu den beiden Kolossen tendieren, auf deren gestählten Unterarmen zwar selbstgestochene Tattoos ihren Platz haben, aber sich nicht ein einzelnes Härchen wagt, zur Gänsehaut zu strecken. Auch wenn es kalt und windig ist. Ach, erwähnte ich, dass Dieter immer Kurzarmpolos trägt, die über dem üppigen Bizeps spannen? Und überm Pectoralis? Ja, so müssen Feuerwehrmänner aussehen. Genau so! Kleiner Wermutstropfen: die Jüngsten sind die beiden nun nicht gerade. Im Verleich mit dem Großteil meines reizenden Kollegiums hingegen sind die beiden Frischfleisch. Dementsprechend pikiert reagieren dann auch die Kolleginnen als ich von den brandheißen Machosprüchen berichte.

„Waaaas? Das sagen die zu dir?“, Kollegin Kraft reißt die Augen auf.

„Jaaa, aber das sagen die doch zu allen Frauen. Die sind einfach so“, versuche ich zu beschwichtigen.

„Nein, das haben die noch NIE zu mir gesagt“, Kollegin Kölln schwankt zwischen Empörung und süffisantem Lächeln, „das mag vielleicht mit deinem jugendlichen Alter zu tun haben.“

„Bitte? Also das ist ja ein Unding“, wirft Kollegin Kraft ein, „das ist ja Diskriminierung!“

„Genau!“, pflichtet Kollegin ZudemFeld bei, ihres Zeichens Diskriminierungsbeauftragte unseres Kollegiums, „das ist es wirklich, Altersdiskriminierung! Das sollen die gefälligst mal zu mir sagen!“