„Die Bilder sind da!“, ruft mir die weltbeste Sekretärin auf dem Flur zu und deutet auf einen Stapel Fotomappen auf dem Tisch neben dem Büro. Freudequietschend nehmen die Viertklässler später ihre Mappen in Empfang, aufgeregt schnatternd und sich gegenseitig begutachtend. Meine eigenen Bilder packe ich ungesehen ein und werde erst später einen Blick daraufwerfen. Vorbei die Zeiten, als auch ich neugierig die Ankunft des Schulfotografens erwartete, aufgeregt darauf bedacht, gut getroffen zu sein, nicht zu pummelig gar oder mit schiefem Blick eingefangen zu werden.
Abends betrachte ich kopfschüttelnd das Sammelsurium fotografischer Nebenprodukte, die kein Mensch braucht, und entnehme der Mappe ein mittelgroßes Porträt. Aus dem Regal neben meinem Schreibtisch ziehe ich eine Kladde hervor. Ihre vielen Seiten werden durch ein Gummiband zusammengehalten. Innen befinden sich die Fotografenbilder aus jedem Jahr meines Schuldienstes. Links das Porträt, darunter ein paar Sätze, rechts das Klassenfoto mit den Namen all meiner flügge gewordenen und aktuellen Schützlinge. So hat sich über die letzten Jahre bereits eine kleine Sammlung geformt. Zwischen den einzelnen Seiten immer wieder lose Zettel, Postkarten und Briefchen der Schüler an mich. Auch Zeilen von Eltern und Kolleginnen sind dabei, Worte des Dankes oder der Aufmunterung auf Post Its, die zwischendurch in meinem Fach im Lehrerzimmer geklebt haben. Ein Querschnitt meines Lehrerlebens sozusagen, best of Frau Weh.
Die Seiten durchblätternd betrachte ich die Frau auf den Fotos. Vom ersten Bild – so rosig, frisch, glatt, so jung! – voller Vorfreude auf die erste eigene Klasse, bis zu dem, das ich noch in Händen halte. „Na, Frau Weh“, spreche ich sie an, „du hast dich aber ganz schön verändert!“ Sie lacht mich an, „Tja“, scheint sie zu antworten, „du weißt ja, das Leben hinterlässt seine Spuren.“ „Ist es gut zu dir, das Leben?“ Sie lacht immer noch, ein wenig spöttisch wie mir scheint. „Mal so, mal so.“
Etwas ist anders auf diesem letzten Bild als auf den ersten Bildern. Sind es die Fältchen, die sich neben die Augen geschlichen haben? Das schmalere Gesicht, die kürzeren Haare? Ich kann es nicht greifen.
Suchend blättere ich zurück, lese in meinen Aufzeichnungen, betrachte die Klassenfotos. Wie in Zeitraffer ziehen die Klassen an mir vorüber. Viele Namen weiß ich noch, bei anderen muss ich nachlesen. Bei manchen Kindern bleibt mein Blick länger haften. Weißt du noch, früher…? Unter manchen Jahreszahlen steht viel. Aber es ist auch ein Jahr dabei, in dem nur einige wenige Worte hastig unter das Foto geschrieben wurden, der Wunsch nach Veränderung… Auf diesem Bild lächelt die junge Frau kaum, sie sieht müde aus und geschafft. Ich möchte meinem früheren Ich zurufen, ihm Mut machen: Es wird besser, mach dir nicht so viele Sorgen! Aber verstehen kann ich sie immer noch.
Wie wird es wohl sein, wenn ich dieses Buch in 10 Jahren in die Hand nehme? Und wie in 30 Jahren, wenn ich das letzte Bild hinzufüge? Werde ich es freudig hineinkleben, traurig oder resigniert? Und werde ich die Frau auf dem Foto noch erkennen? Wird sie noch so fröhlich lachen? Ich wünsche es mir.
Als ich endlich das neueste Foto einklebe, wird mir auf einmal bewusst, was sich verändert hat. Es sind nicht die ersten Falten, nicht die Kleidung oder die Frisur.
Es ist Gelassenheit.