Mitleid

„Warum Sie können da nicht mal helfen!? Warum Sie haben kein Mitleid?“

Die Mutter des kleinen Grabowskis funkelt mich mit zornumwölkter Stirn an. Ihr neunjähriger Sohn, der einen Großteil seines Alltags alleine meistern muss, da die Mutter in der Nachtschicht arbeitet und der Papa fast nie da ist, hat übers Wochenende eine zerquetschte Banane im Ranzen vergessen. Die Banane hat er von einem Mitschüler geschenkt bekommen. Er wollte sie mit nach Hause nehmen und seinen Eltern zeigen, weil sie für ihn so etwas Besonderes ist. Der Bananenbrei, der alle Schulbücher und Hefte verklebt hat, ist so schnell verschimmelt, dass der komplette Inhalt des Ranzens entsorgt werden musste. Die Schulbücher müssen ersetzt, das Arbeitsmaterial neu beschafft werden. Das kostet. Während die Mutter mich (oder das Schulsystem, so sicher bin ich mir da nicht) auf Polnisch beschimpft, beschäftigt mich eine ganz andere Frage:

Wieviel Mitleid kann ich mir leisten?

Tatsächlich habe ich dem Drittklässler bereits gestern einen Satz Hefte auf den Tisch gelegt. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der ich ihn regelmäßig mit Frühstück, Aufmerksamkeit und Erziehung versorge. Alles Mangelware im heimischen Umfeld. Umso mehr ärgert mich der Auftritt der Mutter. Zum seit Wochen erbetenen Gesprächstermin kommt sie nicht, um ihren Sohn kümmert sie sich nicht, keine Zeit, keine Zeit! Jetzt aber tritt sie auf und lässt ihre Aufgebrachtheit gleiten auf der Woge der scheinbaren Diskriminierung, die sie hier wittert. Sie versteht mich nicht, weder sprachlich noch inhaltlich. Fühlt sich angegriffen von dem, was ich ihr nahelegen will. Dass sie sich kümmern muss, dass es nicht gut für ihr Kind ist, wenn es den ganzen Tag alleine in der Wohnung ist, morgens alleine aufsteht und sich zur Schule aufmacht. Sich nicht wäscht, kein Frühstück bekommt. Den Hinweis, dass es Hilfemöglichkeiten vom Jugendamt gibt, weist sie zurück. Ich wolle ihr Angst machen! Das kenne sie schon! Aber das werde sie nicht mit sich machen lassen, dann geht der Sohn eben auf eine andere Schule!

Das wäre schlimm für den kleinen Grabowski, der sich sowieso schwer tut in der Gruppe. Geringe Beziehungserfahrung, kaum positive Bindungen, schichtspezifische Sozialisation, ressourcenarmes Umfeld, monokulturelle Enkulturationsphase, Ethnozentrismus, Egozentrismus, außerhalb der Schule kein Kontakt zu einer Peergroup. Hohes Aggressionspotential, geringe Frustrationstoleranz. Mir fallen immer mehr soziologische Stichworte ein, die hier greifen. Nützt aber auch nix. Was bleibt, ist, dass die Schule zur Zeit die einzige Chance ist, die der kleine Grabowski hat.

„Warum er hatte Banane im Ranzen? Häh? Ist deine Schuld, dass alles ist kaputt!“

Wieviel Mitleid will ich mir leisten?