Ballettschuhe

Als sich die Ladentür hinter mir schließt, ist es, als beträte ich mit dem Klingeln des Glöckchens eine andere Welt. In dem winzigen, nur schummrig erleuchteten Raum lässt sich keine freie Wandfläche ausmachen. Überall hängen Bühnenkostüme und Bilderrahmen mit Fotos und vergilbten Zeitungsausschnitten. An der linken Wand befindet sich ein Regal, angefüllt mit kleinen Schachteln, daneben eine Kleiderstange voller Tüllträume. Rechterhand steht ein kleiner Tresen, auf dem eine Registrierkasse prangt, die entweder aus dem Museum stammt, oder aber ihren Weg dorthin zweifelsohne bald antreten wird. Hinter dem Tresen ein Stühlchen, von dem nun eilfertig ein kleines, verhutzeltes Männlein aufspringt und mich nach meinen Wünschen fragt. Seine Stimme knistert wie das Seidenpapier, in das die Spitzenschuhe auf der Ladentheke eingewickelt sind.

Wie ich im Laufe unserer seltsamen Unterhaltung erfahre, ist der ganze Laden eine Hommage an seine Ehefrau, die vor vielen Jahren auf den Bühnen, den großen, getanzt hat und nach dem Rückzug aus der Öffentlichkeit eine Ballettschule betreibt. Bei genauerem Hinsehen erkenne ich nun auch, dass auf allen Fotos immer die selbe Frau abgebildet ist. Der alte Mann spricht ehrfurchtsvoll von ihr, der Ballerina, und vom Tanz, der großen Kunst.

Nach meiner Frage nach Ballettschuhen drängt er mich auf einen Stuhl und bedeutet mir, Schuhe und Strümpfe auszuziehen. Dann begutachtet der Alte meine Füße. Ich meine zu erkennen, dass er die Stirn leicht runzelt, sicher kann ich allerdings nicht sein, da alles an ihm in Altersfalten gelegt scheint. Wie alt er wohl sein mag? Seine aufrechte Haltung und der makellose Anzug können nicht darüber hinwegtäuschen, dass er die 70 wohl schon lange hinter sich gelassen hat. Vielleicht auch die 80.

Seine Frage, ob ich schon lange tanze, reißt mich aus meinen Überlegungen. Mir ist klar, dass es sich nach seinem Blick auf meine ungeschundenen Füße lediglich um eine rhetorische Frage handelt und so beantworte ich sie ehrlich und lasse ihn wissen, dass ich gerade erst am Anfang stünde.

„In Tanz, Sie müssen wissen, man befindet sich immer an Anfang!“, nickt er mir zu. „Es ist gut, dass Sie beginnen. Tanz ist Arbeit an Körper und Seele!“ Er reicht mir ein Paar schwarzer Schläppchen, die ich über die bloßen Füße ziehen muss. Ich versuche alle Gedanken an Fußpilz zu verdrängen. „Die ersten Ballettschuhe“, sinniert er, „bleiben immer in Erinnerung.“

Ich zweifle etwas. „Die sitzen sehr eng.“, wage ich zu äußern. „Haben Sie die vielleicht noch eine Nummer größer?“ Er schüttelt den Kopf milden Tadel im Blick. „Nein, die müssen sitzen so, damit Sie, wenn Sie machen Sprünge und Pirouettes, den Boden wieder spüren.“ Bei all den Weisheiten, derer ich teilhaft werde, werde ich das Gefühl nicht los, in einer Parallelwelt gelandet zu sein. Fast habe ich etwas Angst, ich könne beim Verlassen des Ladens feststellen, dass 100 Jahre ins Land gezogen seien. Man weiß ja, ein Moment im Feenland entspricht Jahrzehnten in der realen Welt. Ich nicke verstehend und möchte die Schuhe wieder ausziehen, als der Mann erneut den Kopf schüttelt. „Kommen Sie, kommen Sie an Stange und probieren Sie Tendus und Pliés!“ Er drängt mich mit väterlicher Strenge an einen Spiegel, vor dem eine kleine Ballettstange befestigt ist. „Kommen Sie, machen Sie!“

Schüchtern folge ich seiner Anweisung und beuge die Knie. „Ahhh, Sie müssen gehen tiefer. Noch tiefer! Arbeiten Sie an Körper, übertreten Sie Grenzen, Rücken gerade!“ Ich bin für den Augnblick sprachlos, strecke aber augenblicklich den Rücken und wiederhole die Übung. „Besser!“, lobt mich das Männlein. Dennoch muss ich noch einige Tendus durchführen, bevor ich mich wieder setzen darf, um die Schuhe, die wirklich sehr eng sitzen, wieder auszuziehen. Auf meinem Spann prangen rote Striemen, wo das Gummi straff auf dem Fleisch saß. Der Alte nickt befriedigt: „Muss so!“

Wie in die Jahre gekommen Laden, Inventar und Besitzer sein müssen, zeigt sich, als er die Schuhe in die Plastiktüte einer längst insolventen Drogeriemarktkette steckt, die ich noch aus meiner Kindheit kenne. Der alte Mann verabschiedet mich freundlich und geleitet mich noch zur Türe. Fast klopft mir etwas das Herz, als ich die Klinke drücke. Erleichtert und ein wenig über mich selber lächelnd trete ich in den hellen Sonnenschein hinaus. Ein kleines Hochgefühl lässt mich den Blick heben, ich habe meine ersten Ballettschuhe gekauft.