Zu Ende geht die Grundschulzeit

Die gemeinsame Zeit neigt sich dem Ende entgegen und es ist der Kunstunterricht, in dem den Viertklässlern diese Tatsache auf einmal bewusst wird.

„Das ist unser letztes Gruppenbild!“, ruft Schmitti erschreckt aus und wischt dabei dem neben ihm hockenden Giuliano den Pinsel durchs Gesicht.

„Pass doch auf, du Blödmann, jetzt habe ich wegen dir über die Linie gemalt.“

Betroffen halten die anderen Kinder inne. Weniger wegen der übermalten Linie als vielmehr der Tatsache geschuldet, dass unsere gemeinsamen Tage wirklich gezählt sind. In ihren Gesichtern lese ich so vieles ab: Spannung, Freude, Aufregung, Ferienhunger, aber auch die leise Sorge, was kommen mag, was wird. Ich kann sie ihnen nicht zur Gänze nehmen, sehe ich dem Abschied doch selber mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits ist mir diese Klasse in den vergangenen zwei Jahren ans Herz gewachsen, andererseits waren besonders die letzten Monate oft anstrengend und kräftezehrend. Nicht wegen des Unterrichts, den habe ich jeden Tag genossen. Was ist es doch für eine Wohltat, mit Viertklässlern zu arbeiten! Keiner zupft mehr an meinem Shirt, niemand pieselt sich in die Hose und wenn sie sich übergeben müssen, sagen sie früh genug Bescheid. Im Vergleich zu einem 1. Schuljahr hatten wir eine sehr entspannte und katastrophenarme Zeit zusammen. Aber die Lebensumstände einiger Kinder haben auch das gemeinsame Arbeiten teilweise bis über die Schmerzgrenze belastet. Doch auch dabei haben die Viertklässler hoffentlich vieles mitnehmen können. Nun sind sie flügge geworden und ja, ich finde, sie müssen raus aus dem Nest! Für manche tut es mir leid, täte ihnen doch eine längere Grundschulzeit gut. Andere gebe ich jetzt zugegeben gerne in die fähigen Hände meiner Kollegen in den weiterführenden Schulen ab, sie haben ihren Stallgeruch längst verloren und müssen weiter.

„Sind Sie auch traurig?“, werde ich von Katherine aus meinen Gedanken gerissen.

„Ich? Nein, wieso?“ In gespieltem Erstaunen reiße ich meine Augen auf. „Zuerst werde ich die Klasse einmal richtig gut durchlüften, wenn ihr weg seid. Ich finde ja, dass einige von euch schon ein bisschen pubertär müffeln.“ Die Kinder kichern, fanden sie das Thema Körpergeruch doch schon während des Sexualunterrichts eklig. „Dann werde ich mich unglaublich entspannen und erst ganz am Ende der Sommerferien werde ich die Fenster wieder schließen. Die nächsten Kinder sollen ja keinen Schock bekommen, wenn sie hier einziehen.“

Erwartungsgemäß brandet ein Sturm der Entrüstung los. Wie ich so hartherzig sein könne, schließlich würden sie doch alles für mich tun und überhaupt, solche Viertklässler wie sie könne man lange suchen! Ja, denke ich und ein warmes Lächeln huscht über mein Gesicht, das stimmt wohl. Mir fallen die Blätter ein, auf denen die Kinder sich gegenseitig „warme Duschen“ gegeben haben, und die nun wohlverwahrt im Klassenbuch liegen und auf den letzten Schultag warten. Nicht ein gemeines Wort steht darauf, alle haben den Moment genutzt und sich Gedanken gemacht, welche netten Dinge es über die Mitschüler zu sagen gibt. Beim Lesen war ich erstaunt und auch etwas beschämt, wie leicht den Viertklässlern dies fiel – und als wie schwer ich diese Aufgabe manchesmal empfand, wenn ich über Förderplänen brütete und mir nur Schwächen statt Stärken einfielen. Für die Viertklässler stellt das kein Problem dar.  „Du lachst nett“, lese ich da beispielsweise bei einem der größeren Klassenrüpel oder „beim Ausflug im 2.Schuljahr in den Zoo hast du mir Frühstück abgegeben“.

„Was werden Sie denn am meisten von uns vermissen?“, hilft mir Alisa zurück in die Gunst der Klasse.

Ich überlege. Es gab viele gute Momente in den letzten zwei Jahren. Manche Sternstunde war dabei. Vielleicht ist es aber wirklich der Kunstunterricht und die darin entstandenen Gemeinschaftswerke, die ich besonders vermissen werde. Zu Beginn des 3.Schuljahres war dieses Unterfangen oft genug pure Konfusion, aber mit den Monaten haben die Kinder das gemeinsame Tun und die Freude über ein Ergebnis, das häufig bereits aufgrund seiner Größe beeindruckte, schätzen gelernt. Natürlich lief nicht alles glatt und nicht selten waren meine Planungen völlig daneben gegriffen, aber rückblickend empfinde ich diese ruhigen Stunden, in denen alle miteinander in Aktion waren, als gewinnbringend und fruchtbar für die Entwicklung dieser Klassengemeinschaft. Klar, da gab es Montagskreise und Klassenratssitzungen, aber manchmal ist es nicht das Reden, das uns weiterbringt, sondern das Tun.

Ich habe so viele Bücher in diesen Kunststunden vorgelesen: Momo, Ronja Räubertochter, das fliegende Klassenzimmer, den Wunschpunsch, Drachenreiter, kein Keks für Kobolde,  die Herdmanns und den kleinen Hobbit und noch viele mehr. Ja, das waren die besten Stunden! Die Viertklässler haben ihre Pinsel sinken lassen, als ich ihnen davon berichte, wie wertvoll diese Momente auch für mich waren. Und für den Augenblick sind wir alle ganz gerührt.

Vielleicht ist es da ein Segen, dass der kleine Grabowski genau in dieser Sekunde den Pinselbecher mit dem Fuß umstößt, als er den neben sich sitzenden Nino kameradschaftlich umarmen will, und sich das Wasser vernichtend über dem Gesamtwerk ausbreitet. Das Geschrei, das unmittelbar ertönt, vertreibt jedenfalls jegliche Rührung binnen Sekunden. Zwei Kinder jagen den fliehenden Grabowski durch die Klasse, mehrere wischen hektisch auf dem Bild herum und vergrößern die Zerstörung dadurch erheblich, andere brüllen einfach nur sinnlos herum. Chaos.

„Also das hier“, sage ich mehr für mich, als für die Viertklässler, die meine Stimme in diesem Wirrwarr sowieso nicht wahrnehmen, „das hier werde ich sicher nicht vermissen“. Und irgendwie fühle ich mich ganz fröhlich dabei.

11 Kommentare zu „Zu Ende geht die Grundschulzeit

  1. Ich habe deinen Blog erst die Tage „gefunden“. Sehr schööön!! Ich arbeite in einer Ganztagesbetreuung und irgendwie denken wir jedes Jahr… puuuuh… gut.. es ist Zeit… ihr dürft/müsst gehen ihr 4Klässler. Aber du hast auch Recht.. es ist traurig. Sie sind so kreativ, so lustig und nett. (na ja, die meisten zumindest).

    btw… schön, dass ich dich gefunden habe:-)

    Gruß
    Claudia

  2. Liebe Frau Weh,
    mich hat dieser Artikel (wieder einmal) sehr berührt. Hier wird spürbar, mit welcher Liebe Sie Ihren Beruf ausüben, und wie viel Wärme und Liebe Sie den Kindern entgegenbringen. Das zieht sich durch den gesamten Blog, und zusammen mit Ihrem humorvollen Schreibstil, sorgt es regelmäßig dafür, dass ich hier sehr gerne lese.
    Danke!

    Herzliche Grüße von
    Rolf

  3. Ein lachendes und ein weinendes Auge.
    Am Schulschluss werden es dann wohl eher zwei weinende…
    Bei mir in der Mehrstufigkeit gehen ja nie alle – das tut gut.
    Das heißt jedes Jahr ein bissl heulen und die Spannung auf das Neue und es bleibt aber auch immer was gleich.
    Ist ganz gut so.

  4. Die Ambivalenz perfekt umschrieben.
    Dennoch – und gerade deswegen – heule ich Rotz und Wasser, wenn ich meine Vierer schlussendlich ziehen lasse.

  5. So ist das auch, wenn sie nach dem Abitur gehen. Es fällt einfach schwer, sich trennen. Und sie fragen nach einem Jahr immer noch:“ Fehlen wir Ihnen, Frau croco?“
    Ja, immer! Aber behalten wäre auch blöd.

  6. Ich habe den Blog durch Zufall entdeckt und jetzt stundenlang gelesen, gelacht und geweint….
    Meine Tochter ist auch in der 4. Klasse, wechselt demnächst in die Oberschule und ich finde es super mal die „andere Seite“ zu erfahren.
    Vielen Dank!
    Lieben Gruß
    Simone

  7. Besonders nette Jahrgänge glaubt man zu vermissen, aber es kommen immer mal wieder besonders nette Jahrgänge nach. In der Erinnerung zurrt es dann ganz sehr zusammen und ich weiß oft nicht einmal mehr die Namen… aber die schönen, peinlichen, lustigen Momente, die bleiben präsent! Schön.

  8. Ich kenne dies Gefühl. Die Kinder sind alle einfach Klasse, aber als Lehrer muß man sie loslassen, sie müssen weiter wachsen. Wenn du traurig bist, so hast du den Kindern in Ihren Lebensrucksack viele wertvolle Dinge gepackt, dass macht sie stark. Bald kommt ein neues 1. Schuljahr und man hat neue Kinder für 4 Jahre. Du kannst sagen, dass du etwas sehr Sinnvolles gemacht hast, wer kann dies schon in seinem Beruf sagen, vielleicht nur Ärzte und Pfarrer. Drücke Deine Kinder, Ihr dürft traurig sein, aber auch fröhlich, weil das Abenteuer Leben weiter geht.

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