Schulbegleitung selbstgemacht

Das neue Schuljahr begrüßt mich mit der Mitteilung, das Schulamt habe die beantragte Schulbegleitung für Ramon abgelehnt. Die Notwendigkeit sei nicht in der gebotenen Höhe vorhanden. Dies sieht der Vater von Lilly anders, hat Ramon seiner Tochter doch bereits am ersten Schultag nach den Ferien einen gezielten Tritt in den Genitalbereich verabreicht, der ein sichtbares Hämatom zur Folge hatte. Auch die am Folgetag eingeworfene Fensterscheibe scheint eine gewisse stumme Dringlichkeit auszustrahlen, aber die erneut kontaktierte Schulrätin rät mir zur Lehrerfortbildung zwecks Verbesserung des Umgangs mit auffälligen Schülern. Ich kann nur den Kopf schütteln. Ich weiß gar nicht, wie viele solcher Veranstaltungen ich in den letzten Jahren bereits besucht habe. Mich zum Klonen zu schicken wäre deutlich sinnvoller gewesen. (Für den Grundschulbereich gilt unbedingt und ganz ohne Frage: Klonen kann sich lohnen!)

So sitzen die Zweitklässler bereits nach nur einer Schulwoche in einer Krisensitzung beisammen. Unter ihnen der kopfhängenlassende Ramon, der – wider Erwarten, auch meines – ganz selbstverständlich einen Platz in der Klassenstruktur eingenommen hat und sein Störverhalten während des Unterrichts deutlich nach unten korrigiert hat, fast ganz ohne mein Zutun. Woraufhin die Zweitklässler genau das tun, was Kinder untereinander eben tun, sie rücken ein bisschen zusammen und machen Platz in der Klassengemeinschaft. Schließlich gehört Ramon jetzt dazu. Der ist echt seltsam. Aber na und, dann ist das eben so.

Ja, wir machen Abstriche. Die Hausaufgaben sind selten vollständig, die Geräusche, die Ramon während stiller Arbeitsphasen produziert, klingen eigentlich immer irgendwie unanständig und sein Vokabular … ach je. Noch fällt er jeden zweiten Tag vom Stuhl, aber jetzt landet er auf dem Boden und nicht mehr auf seinem Sitznachbarn. Wenn wir eine Lernzielkontrolle schreiben, geht er ab wie eine Rakete, rast durch den Klassenraum und schlägt mit dem Lineal auf sämtliche Möbel. „Wir ignorieren Störungen“ ist zur neuen Kernregel der Zweitklässler geworden, mantramäßig bete ich es ihnen vor. Ob ich damit sie oder mich mehr beruhigen will? Wer weiß. Aber er hat Kontakte geknüpft, sogar positive. Immernoch ist er mein Kaffeedienst und lässt jetzt schon über die Hälfte im Becher. Emma, deren Eltern schon im Vorfeld der Versetzung die Chefetage in Aufruhr versetzten, reicht ihm dann mit freundlichem Gesicht den Wischlappen und zeigt auf die Pfützen. Ramon wischt auf und sagt „danke, Emma“. „Bitte schön, Ramon“, sagt Emma und ich sitze daneben und bin sprachlos ob der Sogwirkung eines funktionierenden Miteinanders.

Aber die Pausen, die sind schrecklich. Und der Weg zur Turnhalle. Lehrerwechsel. Die Toilettengänge und eigentlich alle Phasen zwischendurch. Ramon ist kein Kind, das zwischendurch gut verträgt. Zwischendurch, das ist Kontrollverlust, Chaos und Aggression. Da bin ich nicht da, um einen Blickkontakt herzustellen, eine Hand auf eine Schulter zu legen oder leise „Turbopower“ zu flüstern, unser Codewort für superheldenmäßiges Wohlverhalten. Hier wäre der Raum für eine Schulbegleitung, die Präsenz zeigt, wenn ich es nicht schaffe, weil ich ungeklont eben nicht überall sein kann (was eigentlich verwunderlich ist, denn immerhin habe ich auch hinten Augen und megagute Ohren, die fast alles mitbekommen. Ich kann zwar keine Wände hochlaufen, aber angesichts einer zu Boden fallenden Kakaoflasche sind meine Reflexe legendär. So ganz will ich einen möglichen Spinnenbiss also nicht ausschließen. Grundschullehrerinnen sind irgendwie schließlich allesamt Wonder Women!)

„Ramon bittet euch um Hilfe“, dolmetsche ich die Körpersprache des neben mir hockenden Häufchen Elends. „Im Unterricht klappt es mittlerweile ganz gut, aber der Weg in die Pause und zurück, der ist noch sehr, sehr schwierig.“ Die Zweitklässler nicken wissend. So viele haben schon Schläge, Anrempler oder Tritte kassiert. Dass bisher erst drei Familien bei mir vorstellig geworden sind, ist eigentlich überraschend. „Wer von euch könnte sich vorstellen, Ramon zur Seite zu stehen und ihm dabei zu helfen, unsere Regeln zu beachten?“ Als sich über ein Drittel der Klasse meldet, stupse ich Ramon an und flüstere ihm zu, er solle mal aufsehen. Schnell sucht er sich Begleitung für die nächsten Tage aus und verschwindet wieder in seiner Schutzhaltung. Ich nicke den Zweitklässlern zu: „Wir schaffen das!“

„Wir schaffen alles!“, antwortet Can im Brustton der Überzeugung und ich möchte ihm am liebsten ein High five für das wir geben. Vor einem Jahr hätte er noch ich gesagt.

20 Kommentare zu „Schulbegleitung selbstgemacht

  1. Hallo Frau Weh,

    Wonder Woman bringt es auf den Punkt. Denn genau das bist du für deinen Ramon. Endlich jemand der immer gleich ist, jemand der liebevolles Verständis zeigt, aber dabei sehr konsequent ist. Jemand der einem die schönen Dinge zeigt. Jemand der einen gern hat.

    DANKE! Für so viel Liebe 😉

    Ich halte euch ganz feste die Daumen und wenn ich meinen nächsten „verhaltenskreativen“ Schüler habe, dann werde ich an deine Worte denken!

    Ganz liebe Grüße aus Bayern (die noch die Ferien genießen),
    Kerstin

    1. Danke für deine aufbauenden Worte, Kerstin! Es ist nicht immer leicht, aber ich glaube, dass jemanden anzunehmen, so wie er eben ist, den Schlüssel für jedwede positive Verhaltensänderung darstellt. Umso unnötiger und belastender, wenn die anderen Stellen dann blocken. Genieß deine Ferien! 🙂

      1. Absolut 😉 ich hatte die letzten 2 Jahre auch so einen Schüler. Ich weiß nicht wie oft ich seinen Namen gesagt habe in dieser Zeit… aber wir hatten am Ende ein tolles Verhältnis und bei allem Ärger habe ich ihn echt sehr, sehr lieb gewonnen 😉

        Ich glaube ich denke da sehr wie du – und wenn sich ein Kind gemocht und angenommen fühlt, wieso sollte es nicht versuchen, ob es da nicht auch eine bessere Lösung gibt. Kein Kind WILL sich so verhalten. Aggression (egal in welcher Ausprägung) entspringt immer einer Unsicherheit. Natürlich gibt es irgendwann 15jährige, bei denen ist die Angst dann schon weg – aber die Aggression ist geblieben. Deshalb ist es an uns (und eigentlich auch an den Eltern und dem übrigen Umfeld), die Kinder sicher zu machen, ihnen Alternativen zu bieten. Oft habe ich den Eindruck, dass sie garnicht WISSEN, dass man auch einfach gehen kann. Oder „ich möchte das nicht“ sagen kann. Sie sind unsicher, gestresst und die einzige (bisher bekannte) Lösung ist „nach vorn“. Mit Schlägen, mit Worten, wie auch immer.

        Und Kinder lernen so sehr am Vorbild! Denke dein Ramon wird sich mit der Zeit so einiges abgucken. Muss ja auch faszinierend für solche Kinder sein zu sehen und zu erleben, dass es auch stressfreie Umgangsformen gibt.

        Wird schon!!

        Liebe Grüße und jaaa, ich genieße in allen Zügen,
        Kerstin

  2. Trotz eines psychologischen Gutachtens, dass bei Ramon eine seelische Behinderung vorliegt und Integrationsassistenz nötig ist keine Bewilligung? Oder liegt soetwas nicht vor?
    Hier, auch NRW, ist das Jugendamt zuständig und zahlt in diesem Fall.

    Das Warten darauf allein ist schon zermürbend. Enger Kontakt zu Sozialpädiatrischen Zentren hat mir oft geholfen…

    Kompliment für die gute Beziehungsarbeit. Deine und die der Kinder!

    1. Mit dem Jugendamt habe ich nächste Woche einen Termin, vielleicht geht da noch etwas. Psychologisches Gutachten liegt vor, AO-SF läuft, aber zunächst geht hier alles über den dienstoberen Schreibtisch. Aber ich gebe (noch) nicht auf 😉

  3. Sehr, sehr traurig, für Sie, Ramon und alle anderen Kinder drum herum… :/
    Nicht aufgeben – und immer weiter „nerven“!

    1. Ja, das scheint leider der einzige Weg zu sein. Hach, was könnte man nicht alles in dieser Zeit machen … 😉

  4. Ein Silberstreif am Horizont in dieser schändlichen Bürokratiehölle die Schule manchmal so ist… Viel Kraft für EUCH 🙂 alle.

  5. Du bist echt super. Bewundernswert.
    Schade, dass die Unterstützung fehlt. Und die Anerkennung, für das, was Du bereits geleistet hast. Dich zur Lehrerfortbildung schicken, ts…

  6. Oh ja, liebe Frau Weh! Und im Endeffekt ist man dankbar, wenn man „nur einen“ Ramon hat und fragt sich, wie man den anderen gerecht werden soll, denn da ist noch X., die in Mathe so Probleme hat und Y, dessen Eltern sich grad getrennt haben und Z, der die Krise kriegt, wenn es zu laut wird und sich unter dem Tisch versteckt und und und… aber es geht nur über das WIR Gefühl und mit viel, viel Liebe, wenn man von außen im Stich gelassen wird. Die „Ramons“ werden es dir danken, Bin auf meine neue Erste gespannt und was sich da so ergibt..dir jedenfalls und vor allem EUCH alles Gute! Durchhalten! (und manchmal darf auch Wonder Woman erfrischend losknurren und schimpfen und…naja, Fenster einschießen und Tritte macht sie keine, aber immer lächeln geht auch nicht!). Liebe Grüße! Karin

  7. Liebe Frau Weh,
    in wenigen Wochen starte ich wieder mit einer ersten Klasse und habe ein bisschen Angst, dass auch ein „Ramon“ dabei ist. Aber deine Beiträge machen mir Mut auch solche Kinder so anzunehmen wie sie sind und ihnen vielleicht zeigen zu können: Du gehörst zu uns, egal wie!
    DANKE dafür!
    Wonder Woman…..wenn das doch nur schon in den Schulämtern angekommen wäre!
    Ich freue mich auf deinen nächsten Beitrag!

    Liebe Grüße
    Ulischnulli

  8. Mit wachsender Begeisterung lese ich deine Beiträge.
    Die Geschichte von Ramon rührt mich sehr.
    Du gibst mir viele Impulse für den Umgang mit Menschen. Danke.

    Gäbe es doch viiiiel mehr Lehrer deiner Art.

  9. 1* für Frau Lehrerin und die ganze Klasse! Obwohl keine Schullehrerin, kenne ich solche Kinder wie Ramon:
    Wenn die irgendwann spüren, dass man sie nicht aufgibt, verlässlich ist und nie Dinge verspricht, die man nicht hält, dann wollen die sich ändern. und wenn sie vorgelebt kriegen, wie das geht, dann packen die das auch.
    Grüße an die Schülerschaft: Beispielhaft!

  10. Liebe Frau Weh,
    ich arbeite in einer Förderschule und sehe das Drama der traumatisierten „Ramons“, die bei uns im glücklichen Falle landen, täglich mit Groll, weil kleine Seelen eine Menge verpacken müssen. Diese Ramons sind für die Regelschule ein Horror, so wie die Regelschule meist ein Horror für die Ramons ist.
    Ob es wohl auch mal eine Fortbildung für Politiker gibt? Thema: Hirnnutzung im Alltag beim Überdenken von Schulreformen .
    Liebe Grüße an die tragfähige Klasse, die sicher ihren Enkeln noch von Ramon erzählen wird.
    Und an Ramon, der vielleicht merkt, dass diese Klasse ihm das gibt, was er braucht: Akzeptanz.
    Liebe Grüße
    Prinzenbändiger

  11. Hut ab, liebe Frau Weh, dass du dich so reinhängst, auch ungeklont! Und deine Zweitklässler, die sind auch toll, denn die baden aus, dass das Land sparen „muss“ und Kinder wie Ramon hängen lässt. Wir bräuchten mehr Kinder wie deine Zweitklässler.

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