Zuhören lernen

Prolog:

Aufgrund meines hohen Fachstundendeputats sehe ich die Viertklässler mit 10 Stunden viel zu wenig, um auch nur annähernd so zu unterrichten, wie ich es für richtig und sinnvoll halte. Nützt aber nix. Also schließe ich zähneknirschend Kompromisse mit mir selber, was unbedingt sein muss, und worauf ich eben verzichte. Nicht immer ist Chefin mit mir einer Meinung – muss der Montagskreis wirklich sein, Frau Weh? Im 4.Schuljahr noch?

Als ich heute den Schulhof betrete, um meine Klasse zu empfangen, nehme ich aus dem Augenwinkel wahr, wie Schmitti Marc in den Magen boxt. Beim Wechseln der Schuhe spricht Jonas Jens an, der sofort in Tränen ausbricht und sich zur Wand umdreht. Benedikt schubst Giuliano. Sinan kann keine Hausaufgaben vorlegen und Nick hat keine Entschuldigung für Freitag dabei. Wäre das nicht schon Grund genug sich zu ärgern? Ich winke sie in den Kreis.

Die Viertklässler greifen zu den Teppichfliesen, mit denen wir den Sitzkreis bilden. Es wird ruhig als Friederike den Erzählstein aus der Mitte nimmt und von ihrem Wochenende erzählt. Sie hatte ein Tennisturnier und den 2.Preis gemacht. Alle klatschen.

Jens spricht leise und stockend. Sein Vater ist in die Uniklinik eingewiesen worden. Er kann ihn nicht besuchen, denn Kinder unter 14 Jahren dürfen die Station nicht betreten. Jens erzählt, dass er nach der Schule zur Oma geht und dort über Nacht bleibt, seine Mutter fährt nach der Arbeit direkt in die Klinik. Er beginnt wieder zu weinen, mehrere Kinder trösten ihn. Andere bestärken ihn darin, Informationen einzufordern, schließlich habe er ein Recht darauf zu wissen, was los sei.

Alisa hat bei einer Freundin übernachtet, die heute aber krank ist. Sie erzählt, dass ihr der Hals weh tut und sie daher heute lieber nicht mitsingen möchte im Chor.

Benedikt berichtet, dass er am Wochenende mit Giuliano zum Wii-Spielen verabredet war und Giuliano einfach nicht gekommen sei. Giuliano entschuldigt sich damit, dass seine Patentante zu Besuch gekommen ist und beschwert sich gleichzeitig darüber, dass es nicht ok wäre, dass Benedikt ihn deswegen geschubst hätte. Benedikt grummelt und nuschelt etwas, das „tschulligung“ heißen könnte. Giuliano nimmt an.

Sinans junge Katze ist am Sonntag überfahren worden. Seine Mutter hat sich daraufhin heftig mit seinem Vater gestritten, weil er die Balkontür beim Rauchen aufgelassen hat. Sinan ist mit seinem kleinen Bruder auf den Spielplatz gegangen und erst bei Anbruch der Dunkelheit nach Hause zurückgekehrt.

Marc war am Wochenende wie so oft im Eurodisney in Paris. Die Viertklässler stöhnen unisono auf, als er damit zu prahlen beginnt. „Du bist ein blöder Angeber!“, bringt Schmitti hervor. „Und du bist ein Arsch, weil du mich geboxt hast und neidisch, weil deine Familie arm ist!“, gibt Marc zurück. Die Klassensprecher greifen ein und verweisen auf den Klassenrat. Beide Jungen schreiben eine Beschwerde und stecken die Zettel in den Klassenbriefkasten, damit ist das Thema für heute erledigt.

Bei Wehs gab es am Sonntag Crepes. Alle sind sich einig, dass das eine schöne Sache sei.

Nino erzählt, dass er am Freitag seine letzte Therapiestunde hatte, er werde es jetzt so versuchen, sich in der Schule und zu Hause besser zu benehmen. Sein Sitznachbar klopft ihm auf die Schulter, andere bestätigen, wie gut er sich mittlerweile verhalte.

Jeannette war am Wochenende im Schwimmbad und Katherine im Zoo.

Der kleine Grabowski berichtet stolz, dass seine Mutter gestern ein leckeres Essen gemacht habe und er sogar ein Frühstück mithabe. Sinan zeigt ihm den hochgestreckten Daumen.

Nick will nichts vom Wochenende erzählen und Schmitti hat sich gelangweilt.

Epilog:

Die folgenden Unterrichtsstunden verlaufen entspannt. Auch die Fachlehrer berichten in der nachmittäglichen Konferenz von einer guten Atmosphäre bei den Viertklässlern und harmonischem Arbeiten.