Freio!

„Frau Weh, Frau Weh, kommen Sie schnell! Da stehen zwei Onkel vom Ercan auffem Schulhof, die wollen den Sinan verprügeln!“

Eine ganze Horde Schüler stürmt zu Beginn der großen Pause in meinen Klassenraum zurück, in dem ich gerade in einen kleinen, persönlichen Kampf mit dem Smartboard verwickelt bin, den ich eigentlich gerne ohne weitere Zeugen austragen wollte.

„Hier verprügelt keiner irgendjemanden!“, antworte ich, werfe der unfolgsamen Tafel einen letzen angesäuerten Blick zu und schreite energischen Schrittes Richtung Schulhof. Die Querelen zwischen Sinan und Ercan habe ich sowas von satt. Erst hat der eine dies, dann hat der andere das und so weiter und so fort. Tatsächlich gehören beide Jungen nicht gerade zur Sorte der sozialverträglichen Hellköpfe, allerdings hat Viertklässler Sinan einen deutlichen körperlichen Vorteil dem zwei Jahre Jüngeren gegenüber – er wiegt mindestens 20 Kilo mehr und überragt den Zweitklässler um Haupteslänge. Insofern war es eigentlich nur eine Frage der Zeit bis sich Ercan Familienhilfe dazuholen würde. Trotzdem pffffft! die Onkel auffem Schulhof glaube ich erst, wenn ich sie sehe.

Ich betrete den Schulhof und umrunde die kahle Kastanie, immer noch forsch unterwegs. Und da stehen sie, die Onkel… o—ha! Mein Schritt verlangsamt sich minimal, als ich die beiden Kanten sehe. Groß. Breit. Finsterer Blick. Ich schlucke unmerklich, straffe die Schultern und hebe das Kinn – jetzt dürfte ich mich ungefähr auf Bauchnabelhöhe befinden. Deeskalation, Frau Weh, Deeskalation!, raunt mir mein verschrecktes Unterbewusstsein noch zu, bevor es sich mit Bauchgrummeln in die (hoffentlich) sicheren Eingeweide verzieht. Scheiße, was für Anabolikapakete! Zuverlässig schütten meine Nebennieren Adrenalin aus und lassen meinen Puls in die Höhe schnellen. Doofer Sinan, dass er mich in eine solche Situation bringt. Sollen sie doch ihm eine kleben, besser als mir! Warum ist der überhaupt in meiner Klasse? Und Ercan, so eine Pfeife, kann der sich nicht einfach mal von den Viertklässlern fernhalten? Nee, nee, immer mit den großen Hunden pinkeln wollen, aber das Bein nicht heben! Solche und weitere Gedanken durchströmen mein Hirn wie eine Horde aufgescheuchter Hühner. Doch mir ist klar, dass mich mindestens 12 Augenpaare atemlos beobachten (und vermutlich bereits Wetten abschließen), also muss ich weiter.

Noch ein paar Schritte, kurzes bewusstes Ausatmen, ich bin da.

„Hallo, guten Tag, ich bin Frau Weh, kann ich helfen?“. Zwar strahle ich die beiden Titanen an, lasse aber in puncto Körperhaltung, Blick und Stimme keinen Zweifel daran, dass ich hier der Chef im Ring bin. (Zwischen Mut und Wahnwitz liegt ja bekanntlich nur eine Haaresbreite…)

„Äh ja…“, stottert der erste Onkel, sichtlich irritiert darüber, dass ihn ein weibliches Wesen so resolut unter der Gürtellinie angeht – viel höher reiche ich nämlich nicht.

„Öhm…“, meldet sich jetzt auch Onkel Nummer 2 zu Wort, das Hemd spannt ihm auf der breiten Brust.

„Mir ist zu Ohren gekommen, Sie hätten da etwas mit einem Kind meiner Klasse zu besprechen.“ Ich betone das Wort Kind besonders, was Sinan mindestens drei Kleidergrößen schrumpfen und zu einem schutzbedürftigen Knaben werden lässt. „Äh ja, wir wollen ma mit dem Sinan sprechen, dass der nich immer auffen Ercan losgeht. Können wir ma rüber?“, Onkel Nummer 1 nickt in Richtung meiner Klasse, die sich hin- und hergerissen zwischen Schaulust und Furchtsamkeit langsam näher pirscht, Sinan – siehe da! – in der Mitte (ich bin gerührt. Wer hätte das noch vor einem Jahr gedacht?).

„Nein“, lache ich amüsiert auf, „ganz sicher nicht!“ Ich gehe einen Schritt auf die Onkel zu, bewusst den Tanzabstand unterschreitend und dränge sie so Zentimeter für Zentimeter zum Schultor zurück. „Aber ich kümmere mich natürlich gerne darum, dass sich die beiden Jungen mal in Ruhe aussprechen.“ Die beiden Männer werfen sich unsichere Blicke zu; das hier läuft ganz offensichtlich nicht wie geplant. Ich rücke noch etwas näher und sie stehen vor dem Schultor. „Wissen Sie“, sage ich in versöhnlichem Ton, „ich kann Sie ja gut verstehen, Sie machen sich ja nur Sorgen um Ihren Neffen. Der allerdings“ und hier wird meine Stimme wieder strenger, „erst letzte Woche auf Sinans Jacke gespuckt hat.“ Das ist ihnen jetzt peinlich und beide Onkel räumen ein, dass Ercan ja ein richtiger Junge und manchmal ein ganz schöner Racker sein kann. „Haha“, wir lachen gemeinsam über den lebenslustigen kleinen Kerl. Am Ende des Gesprächs, das noch eine ganze Weile dauert, bedanken sich die beiden Männer bei mir für das Verständnis und das tolle Gespräch („Mann, hätt ich ma so Lehrer gehabt!“) und natürlich gehen sie jetzt und warten nicht auf Schulschluss, sollen die Jungs das man ruhig unter sich regeln, ne? Tschüss, Frau Weh, klasse Sache!

Als ich das Schultor hinter den beiden schließe und mich dem munteren Treiben auf dem Schulhof zuwende, bemerke ich, dass meine Beine leicht zittern. Boah, was für eine Begegnung. Doch nun fluten bereits die Endorphine meinen Körper, ich gehe, ach Quatsch, ich schwebe 3 Meter über dem Boden, be a hero, be a teacher! Da begegne ich Sinan und lande wieder auf dem (harten!) Boden der Realität. „Du!“, pflaume ich ihn an, den ausgestreckten Zeigefinger nur wenige Millimeter von seiner blassen Nase entfernt, „Das war das erste und das letzte Mal, dass ich mich da einmische! Benimm dich gefälligst und lass Ercan in Frieden! Ich bin doch nicht dein Freio!

 

 

 

0 Kommentare zu „Freio!

  1. Also ersteinmal: hervorragend reagiert Frau Weh! Für sowas sind Hormone da. 😉
    Definitiv be a hero, be a teacher.
    Und noch kurz zum Freio und der Studie: der Begriff meiner Kindertage taucht gar nicht auf. Wir waren im „Pix“/“Picks“ (kurzes i), aber meine Herkunftsgegend wird dem simpel gehaltenen „Aus“ zugeordnet. Jetzt frage ich mich ernsthaft, ob die Kiddies meiner Heimatstadt heute nicht mehr „Pix“ sagen. Das fände ich ein bisschen schade…

  2. Hut ab Frau Weh! Autorität auszustrahlen ohne körperlich überlegen zu sein, quasi von unten herauf statt von oben herab ist eine königsdisziplin. Viele Menschen erreichen das auch nach jahrzehntelanger Übung nicht.
    Ich kenne das nur zu gut und habe mich auch nach der gefühlt hundersten Situation ähnlicher Art noch nicht daran gewöhnen können. Allerdings habe ich das große Glück, dass zwischen mir und den Riesen zumeist ein Richtertisch stand.

  3. Liebe Frau Weh, ich habe hier gerade ein herzhaftes Lachen in ein gequältes Husten umleite müssen, sitze ich doch meinem Chef gegenüber …

    Danke für diesen Lacher des Tages, auch wenn er nicht laut sein durfte. Und Hut ab, so unterhalb der Gürtellinie „kämpfen“ ist nicht leicht. Aber souverän gelöst!

  4. Super Geschichte! Wenn sie so lustig erzählt ist, vergisst man glatt, dass man über die Ausgangssituation auch weinen könnte. Bin gespannt, wie sich das weiterentwickelt…

    viele Grüße aus der Provinz von Frau Henner

  5. Gut gebrüllt, Löwe! Und ein Super-Link, in Hamburg heißt das „Mie“…

    Viel Erfolg auch weiterhin mit dem Smartboard 😉

    wünscht die Wurzel

  6. Sehr gut reagiert! Ich kenne diese Gefühle auch nur zu gut und kann es nachempfinden.
    Bei uns (Bremen) heißt „Freio“ übrigens „Lu“. Interessant, dass es so viele verschiedene Worte dafür gibt. Wieder was gelernt.
    Liebe Grüße
    Iris

  7. Hast Du mal wiedermal WUNDERBAR gemeistert,Frau Weh 🙂
    Dem Artikel nach war es schwierig Leute zu finden, die darüber auskunft geben. Das kann ja dann bedeuten, dass in dieser Karte verschiedenste Generationen vertreten sind.
    Ich (22) bin ja in Hamburg aufgewachsen und wir haben Mi und Aus gesagt, letzteres ist als allernächstens ja noch irgendwo in Lauenburg auf der Karte zu finden und Mi taucht gar nicht erst auf.^^
    Liebe Grüße

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