Wenn wir über Sex reden…

Wenn wir über Sex reden…

  • lachen wir niemanden aus!
  • behandeln wir die Fragen und Meinungen der anderen mit Respekt!
  • benutzen wir Fachwörter!
  • schämen wir uns nicht!
  • dürfen wir alles fragen! („Wirklich ALLES!?“, will Giuliano wissen. „Alles!“, antworte ich. „Wow!“)
  • bleiben private Dinge auch privat!*
  • bleiben wir cool :-)“

Erste Stunde Sexualerziehung. Ich bin überrascht, wie ruhig und gefasst die Viertklässler sich verhalten, hatte ich doch anderes erwartet: heiße Öhrchen, mehr verschämtes Kichern vielleicht. Tatsächlich sind sie sehr aufmerksam und mit gebotenem Ernst bei der Sache. Während sie anonym alle Fragen auf kleine Zettel bringen, deren Beantwortung sie sich wünschen, beobachte ich die Kinder und bin wirklich berührt von der vertrauensvollen Atmosphäre, die uns nach erst einem Jahr gemeinsamen Lernens verbindet. Meine Güte, was war das letzen Herbst noch für eine Bande!

Bei der Auswertung der Fragen kristallisieren sich die erwarteten Schwerpunkte heraus: Warum gibt es Sex? Warum lachen so viele Leute, wenn es um Sex geht? Wie geht Sex überhaupt? Wie entstehen Babys? Wie ist das mit der Geburt?

Vieles können die Kinder bereits untereinander klären, anderes erkläre ich mit einfachen Worten. Nichts davon kommt unerwartet, doch es gibt noch mehr Fragen: Was sind Pornos? Wofür benutzt man Kondome? Warum gibt es im Internet so viele nackte Frauen? Gibt es wirklich Penisse aus Gummi? Was ist sexueller Missbrauch? Dürfen Kinder Sex haben? Wie geht das, wenn man schwul ist?

Einmal begonnen, sprudelt es aus vielen Kindern hervor: Was sie schon einmal gesehen haben, womit sie bereits konfrontiert wurden. Immer mehr Finger strecken sich in die Höhe und zeigen den hohen Redebedarf meiner Klasse an. Wieder einmal wird mir bewusst, wie anders die Lebenswirklichkeit für Kinder heute aussieht. Wie schwer sie es haben, unbeschadet groß zu werden. Und dass der unbedachte Umgang mit unseren grenzenlos verfügbaren Medieninhalten ein Problem darstellt, dem so viele Eltern hilflos und – ja! – auch verharmlosend oder ignorierend gegenüberstehen.

Wir reden und reden und reden. Ganz selten muss ich auf unsere zu Beginn gefassten Gesprächsregeln aufmerksam machen, zweimal muss ein Junge frische Luft schnappen gehen (manchem wurde es dann doch ein wenig warm), aber alles im Rahmen. Am Ende der Stunde lobe ich die Viertklässler für das ruhige, gute Gespräch und äußere den Wunsch, dass es auch in den weiteren Stunden so bleiben möge. Sie nicken und bestätigen, wie toll es sei, dass sie alles sagen und fragen dürften. Dass es hier viel einfacher sei, darüber zu reden. Ich freue mich darüber, ist die gezeigte Offenheit doch ein großer Vertrauensbeweis an mich und die Klassengemeinschaft, die mittlerweile trägt und Schutz bietet.

Als ich abends meine Unterlagen mit den Fragen, die den Schülern unter den Nägeln brennen, durchgehe, spüre ich die Verantwortung bleischwer auf meinen Schultern lasten. Die Zweifel kommen ganz plötzlich und unerwartet. Hoffentlich schaffe ich das, geht mir durch den Kopf. Wie kriege ich es bloß hin, offen den auf dem Tellerrand Tanzenden die Fragen zu beantworten, während andere Kinder noch gar nicht ermessen, wie viel Suppe da eigentlich vor ihnen schwappt? Die der Aussicht, diese Suppe irgendwann in noch weiter Zukunft auch einmal probieren zu wollen, noch mit einem ungläubigen Kopfschütteln begegnen und die tatsächlich für den Moment noch gerne an eine andere Art der eigenen Empfängnis glauben wollten, als die der körperlichen Begegnung der eigenen Eltern.

Mein Blick schweift über das vielfältige Material, das ich zusammengetragen habe, und bleibt bei der DVD hängen, auf der der 3D-Ultraschall des Miniwehs dokumentiert ist. Ich nehme ich sie in die Hand und spüre der Erinnerung an diese besondere Zeit nach. Ein Wunder, immer noch!

Es wird schon werden, denke ich.

 

0 Kommentare zu „Wenn wir über Sex reden…

  1. Danke für die persönlichen Worte! Toll, dass du so eine schöne Stunde erleben konntest. Ich finde am Thema Sexualerziehung toll, dass es in der Regel alle Kinder interessiert, weil es sie direkt angeht.

    Zu deinen anderen gedanken: Getrieben von den Schilderungen einer Kollegin aus der Sek. 1, die immer davon berichtet , was für Filme auf Handy oder PC ihre Schüler (Unterstufe) miteinander austauschen, schauen, … habe ich auch am Elternabend mit den Eltern darüber gesprochen, wie sich Sexualität (und auch das Bild der Frau) in vielen Pornos darstellt. Viele Eltern war nicht klar, dass vielen Kindern schon im jungen Alter sexuelle Praktiken über frei verfügbare Videos dargeboten bekommen, die mit „normaler“ Sexualität nichts zu tun haben.
    Ich habe die Eltern daher gebeten, entsprechend wachsam zu sein, ihre Kinder zu schützen und entsprechend aufzuklären, wenn solche Dinge auffallen – oder auch nicht. Viele erinnerten sich – im anschließenden vertauensvollen Gespräch – daran, dass sie selbst mit 16/17 ein „Busenheftchen“ ihres Vaters, o.ä. fanden.
    Vom verstohlenen Anschauen harmloser Bildchen im fortgeschrittenen pubertären Alter sind viele KInder heute weit entfernt. Ihre „sexuelle Sozialisation“ läuft leider sehr früh in eine fatale Richtung.
    LG Alexandra

  2. Bei uns ist da der Schulsozialarbeiter sehr hilfreich (es könnte aber auch ein parallel arbeitender männlicher Kollege sein), der Teilstunden nach Geschlechtern getrennt in Klasse 5 ermöglicht. In diesen Stunden kann ich mit den Mädels in Ruhe über das Thema „die Tage kriegen“ reden, direkt mit Binden und Tampons hantieren, das Bauchweh und die sonstigen zugehörigen „Zustände“ thematisieren, während die Jungs im Gespräch unter Männern ihre Sorgen über die richtige Größe, das „Wichsen“ usw loswerden (auch ihre Erfahrungen mit Pornos im Netz, was hauptsächlich Jungensache ist). Da kommt vieles aufs Tapet, was man sich in der gemischten Klasse doch nicht traut..

  3. Bei uns ist das in der 6. Klasse jetzt irgendwie (noch mal?) Thema. Übers Umsetzen weiß ich leider nicht viel und bin gespannt, was die längst aufgeklärte Große zu berichten weiß, wenn sie denn was berichtet …
    Eure Umsetzung klingt gut, Frau Weh. Bei so einer Lehrerin würd ich auch gern noch mal zur Schule gehen. Vor allem finde ich es gut, das jetzt schon zu machen. Ich hätte mir so frühe Aufklärung in meiner Kindheit auch gewünscht.

  4. Liebe Frau Weh,
    ich habe dieses Thema auch schon mehrmals in der 4. Klasse unterricht und habe auch jedesmal mit großer Freude und auch Überraschung feststellen dürfen, wie gut diese Stunden verliefen. Beim letzten Mal, als ich diese Thema unterrichtete, hatten wir eine Hebamme eingeladen, die den Kindern von ihrer Arbeit berichtete. Da ich kurz vorm Mutterschutzbeginn stand, konnte die Klasse am Schluss die Herztöne meines Sohnes hören… das war natürlich für alle sehr beeindruckend und für mich auch sehr berührend!
    Ich wünsche einen guten Endspurt und dann schöne und erholsame Weihnachtstage.
    Liebe Grüße,
    Kathrin aus dem Südwesten

  5. Da stolpert man durch Zufall im www auf die Frau Weh. Milliarden von Seiten im Netz und ich finde genau den Text, der meine Gedanken sowas von auf den Punkt bringt…
    Ich bin zwei Jahre weiter, 6. Klasse. Was die Kiddies da schon alles in ihrem präpubertären Gehirn wegsortieren müssen… Meine erste Stunde: Die Frage nach Gefühlen lässt mich in fragende Gesichter blicken. Zum Thema Pornos können selbst 11jährige Mädchen etwas beitragen.
    Auch ich hab die Verantwortung auf meinen Schultern gespürt.
    Aber schön zu wissen: Wir können sie ja unter uns aufteilen….

    1. Ist das nicht desillusionierend? Auf der anderen Seite (so die lebenskluge Schulsekretärin) zeugt es von Vertrauen, dass die Schüler uns gegenüber so offen darüber zu reden bereit sind. Solche Gespräche kommen sicher nicht mit allen Eltern zustande.

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