„Bah, da ist ja Alkohol drin!“
Angewidert verzieht Jonas das Gesicht und rennt zum Mülleimer, die angebissene Praline in der Hand. Ich möchte ihm zurufen, er möge mir unverzüglich die Packung zuwerfen, um sie alle, alle aufzuessen. Es ist nicht das erste fragwürdige Mitbringsel an diesem Karnevalstag und meine Stimmung wäre sicherlich besser, hätte ich mich an allem gütlich getan, was die Erstklässler zum Buffet beisteuern. Obgleich im Brauchtum großgeworden, tue ich mich ausgerechnet mit Karneval jedes Jahr aufs Neue schwer. Fröhlichsein auf Knopfdruck verursacht mir Kopfschmerzen, da ist das ausgelassene Verhalten der mir anvertrauten Schützlinge auch keine große Hilfe.
Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es nur noch eine knappe Stunde durchzuhalten gilt. Immerhin haben wir schon erfolgreich die Karnevalssitzung in der Turnhalle hinter uns gebracht, die einige lustige, aber auch diverse tragikomische Momente bot. So ließ mich der Anblick der knapp bekleideten Tanzgarde innerlich zusammenzucken. Temperatur und Figur ungeachtet wurden die strammen Schenkel geschwungen und geschmissen, was das Zeug hielt. Die örtlichen Honoratioren hats gefreut und die Erstklässlerinnen üben seit der Rückkehr in die Schule um die Wette Spagat.
„Wie ist eigentlich die Mehrzahl von Spagat?“, fragt sich Luisa.
„Spaghetti!“ grölen die Jungs zur Antwort. Diesen Witz kennen sie schon.
Die Kinder kringeln und kugeln sich. Karneval ist einfach toll, wenn man sechs Jahre alt ist! Wir essen Schaumzuckerware, die nicht mehr so heißen darf wie früher und Berliner Ballen, die – darf ja wohl nicht wahr sein! – teilweise mit Eierlikör gefüllt sind. Was haben sich die Eltern bloß dabei gedacht? Ganz abgesehen vom Alkohol mag noch nicht einmal ich Eierlikör und Amelie spuckt ihren in hohem Bogen auf Merves Prinzessinnenkleid. Das gibt Ärger, Tränen und verlaufene Schminke. Den Tumult nutzt Yasin geschickt, um sich mit den übrigen Gebäckkugeln unter einem Tisch zu verstecken. Dass er zwecks schnelleren Aussaugens einen Strohhalm zu Hilfe nimmt, wird ihm zum Verhängnis: Er verschluckt sich fürchterlich. Ich lasse einen Brüll los, scheuche Yasin zum Waschbecken und entsorge alles, was auch nur annähernd alkohöllisch riecht, im Mülleimer. Die Uhr ist mir keine große Hilfe, es sind erst 5 Minuten vergangen.
Wir machen einen Modenschau, bei der wir viel Glitzer bestaunen und noch mehr schwarze Ninja-SEK-FBI-schlagmichtot-Kostüme. Ich verheddere mich mit meinem Schneckenhaus in der Wäscheleine, die quer durchs Klassenzimmer gespannt ist, und ernte Lachstürme. Die Kinder denken, die kleine Slapstickeinlage sei geplant. Mir steht Schweiß auf der Stirn. Da poltert es an der Türe und ein vergessener Karnevalsverein steht im Raum, ordentlich ausgestattet mit dicken Trommeln und reichlich Schokolade, die nun flugs unters Volk geworfen wird.
Was für eine blöde Idee.
Die Schokotafeln (Herbe Sahne, besonders unbeliebt bei Erst- bis Viertklässlern) waren vermutlich preiswert, hart sind sie aber auch und Noah weint herzzerreißend, als ihn ein Exemplar am Auge trifft. Er kann sich das Kühlpack mit Lynn und Ole teilen, sie sind im größten Tumult des Schokoschmeißens mit den Köpfen zusammengeknallt. Das dreistimmige Geheul sorgt sichtlich für leichtes Unbehagen bei den Karnevalsmenschen, aber der Zeitplan ist eng, also muss ich jetzt von mehreren mittelalten Männern geküsst und mit Blumen und Sektchen versorgt werden. „Komm ma her, du süßes Schneckchen!“
Der Zeitplan drängt, der Verein zieht mit humba, humba wieder ab und wir legen eine kleine Verschnaufpause ein. Noch 30 Minuten. Herrlich. Ich schiele heimlich nach den zuvor entsorgten Alkoholpralinen, als die Tür wiederum aufspringt und das 3. Schuljahr eine Polonäse durchs Haus veranstaltet. Wir hängen uns an, treppauf, treppab geht es und dreimal Helene Fischer später kommen wir tatsächlich atemlos wieder in der Klasse an. Alle trinken. Kurze Verschnaufpause.
Dem Seepferdchen ist bei der Fischerschen (Tor)tour auf den Schwanz getreten worden, eine der Prinzessinnen vermisst das Krönchen und Batman ist langweilig. Halleluja, nur noch 15 Minuten!
„Wir machen ein Extraspiel“, rufe ich fröhlich. „Es heißt Wer ist der beste Sauberman? und funktioniert wie Stopptanzen!“ Nur, dass ich nicht vorhabe, die Musik anzuhalten, die ich nun starte, während die Erstklässler rührend bemüht den zertretenen Mischmasch aus Luftschlangen, Glitzerpailletten und Chipskrümeln aufzusammeln beginnen. Der Boden leert sich, die Mülleimer füllen sich und die Uhr verspricht baldige Erlösung. Doch, nein, es muss ja noch etwas passieren. Sophies Mama hat ein wirklich entzückendes Erdmännchenkostüm genäht. Aber es sind noch Nadeln drin, wie die arme Sophie feststellt, als sie sich nach einem Erdnussflip bückt. Wir ziehen die Nadeln raus, ich tröste, da ertönt ein Schrei: „Die Luisa kotzt!“
Nee, ne? Drei Minuten vor Schluss, verdammt!
Ich wutsche und wedle um Luisa herum. Nick zupft mich am Schneckenhaus. „Meine Mama hat mir einen Zettel für dich mitgegeben. Der war ganz wichtig. Jetzt find ich den nicht!“
„Muss ich zum Bus?“, will Emilia wissen. Die Panik steht ihr in den Augen.
„Haben wir morgen eigentlich Schule?“
„Die Michelle hat blöde Kuh zu mir gesagt!“
„Hier stinkt es!“
Ich möchte Eierlikör. Sofort. Und mich drin ertränken. Oder die Erstklässler. Überzuckert sind sie ja schon. Ich schaue erneut auf die Uhr: Erlösung!
„So, ihr Lieben, schöne Karnevalstage, habt viel Spaß, wir sehen uns nächste Woche!“, brülle ich über das allgemeine Chaos hinweg. Die Erstklässler schreien beglückt auf und rasen aus der Klasse. Sie machen einen Bogen um die unglückliche Luisa und den Fleck auf dem Boden. Manche umarmen mich noch schnell oder drücken mir eine angebissene Tafel Herbe Sahne in die Hand. Wer mag die eigentlich? Ich wische noch ein bisschen an Luisa herum und freue mich, dass sie von der Oma abgeholt wird, deren Lächeln ein wenig zu gefrieren scheint, als sie das säuerlich riechende Kind in Empfang nimmt.
Alle raus, aufatmen.
Ich lege die Red Hot Chili Peppers in den CD-Player und versetze den Klassenraum innerhalb kurzer Zeit in den Normalzustand. Aufräumen können sie, das muss man den Erstklässlern lassen. Kein Fitzelchen liegt mehr auf dem Boden.
„Gehst du noch mit feiern?“, ruft da eine Kollegin in den Raum hinein, kaum hörbar neben Anthony Kiedis.
„Nee, ich muss jetzt das Miniweh abholen.“ Mein Bedauern hält sich in Grenzen, schließlich muss zu Hause noch gefeiert werden. Ich gönne mir noch ein paar Sekunden Easily, dann stelle ich die Musik aus, rücke mein Schneckenhaus zurecht und starte in den zweiten Teil des Tages. Wir sind Helden!
Tschuldigung, es tut mir abgrundtief leid, aber ich musste von Anfang bis Ende so grinsen (weil, wie mans halt kennt!…) – so stellt sich wieder mal der eigene fiese Charakter heraus
*edit: mir blieb es dieses Jahr wegen einer fiesen Grippe erspart, das ist auch nicht witziger.
Uffta…biete dir gern Obdach im karnevalsfreien Norden! 🙂 Als die wilden Kerle Erstklässler waren, gabs u.a. 2 Liter Energydrink als Buffetbeitrag. Auch schön.
Liebe Frau Weh,
auch ich lebe in einer Faschingsgegend und ich hadere jedes Jahr aufs Neue mit den Feierlichkeiten. Meistens umgehe ich einen Teil der Zeit mit einem Klassenfrühstück, bei dem ich sehr genau steuere, was die Kinder mitbringen….danach bleibt dann noch Zeit für Spiele, Polonaise und sonstigen Trubel.
Dieses Schuljahr haben wir im Kollegium beschlossen, dass wir an diesem Faschingsdonnerstag Schlitten fahren gehen. Die komplette Grundschule war heute auf dem Schlittenhang, bei phantastischem Sonnenschein und Alpensicht. 150 entspannte Kinder und ihre ebenso entspannten Lehrerinnen und Lehrer verbrachten einen wunderschönen Vormittag!
Ich wünsche erholsame Tage. Morgen müssen wir nochmals ran und dann haben wir eine Woche frei.
Viele Grüße,
Kathrin aus dem Südwesten
Du schreibst mir mal wieder aus der Seele! Mir steht dieser Tag noch bevor – nämlich morgen. Und ich warte jetzt schon sehnsüchtig auf 12 Uhr! Schaun wir mal, was in meinem 2. Schuljahr so alles passiert! Dir wünsche ich schöne freie Tage! Und: Bis zum nächsten „Schulkarneval“ müssen wir zum Glück noch 364 Tage schlafen!
Liebe Grüße,
Heike
Welche Eltern alkoholische Leckereien zum Kinderkanerval mitgeben fragst du? Das sind genau DIE Eltern die ihren Kindern Energydrinks und Cola in den Kindergarten mitgeben als Vormittagsgetränk.
Mit der Begründung, dass das Kind dann keinen Mittagsschlaf braucht und man gleich nach dem Kiga etwas gemeinsam unternehmen kann!
Und später am Tag dann gibts Ego-Shooter mit Papa an der PS4 und als Abendprogramm Transfomers (Die Kinoverfilmung)
Nein leider kein Witz…… Realität in so manchen Kindergärten wie ich mit Schrecken aus sicheren Quellen erfahren/erleben musste.
Und wenns Kind Erstklässler ist, auch mal nen Zombiefilm. (Warm Bodies)
Das wird ne tolle Generation! 😦
Und in zehn Jahren jammern, dass das Kind einen psychischen Knacks hat. Das wird noch mal lustig werden…. Humba Humba!
Es tut mir ja total leid, der Tag klingt grausig und wir haben unser Faschingsfest erst am kommenden Dienstag, aber mir rinnen gerade Tränen vor lauter Lachen über die Wangen! DANKE!!! Ich weiß genau, dass ich mich am Dienstag genauso fühlen werde :-D! Und wir haben einen Stationentag im ganzen Haus… Das heißt, in jeder Klasse gibt´s was Anderes und ich bin seit Jahren im Turnsaal. Schluck! Vielleicht wein ich jetzt gar nicht mehr vor lauter Lachen? 😉
Ach du schreibst mir aus der Seele! !
Bei uns gibt es Gott sei Dank Ferien!
Allen die was damit anfangen können, genießt eure Feiertage, und den anderen -Augen zu und durch!
LG Grille aus Österreich b
Danke, Danke, Danke!!! Gerade habe ich Tränen gelacht und damit sogar schon meinen Mann angesteckt. Nach dem Referendariat arbeite ich seit einer Woche in einer sogenannten Brennpunktschule und brauchte gerade genau so etwas!!!! Vielen Dank!
Seit Jahren bin ich stille Leserin dieses Blogs, aber nun musste ich einfach einen
Kommentar hinterlassen. Danke für solche Lachtränen!
Hallo, liebe Frau Weh!
All das steht mir morgen bevor. Als absoluter Faschingsmuffel stehen mir schon heute die Haare zu Berge – aber was macht man nicht alles den lieben Kindern zuliebe.
Danke für diese Episode. Auch wenn vieles davon für dich wenig lustig war hat es bei mir zu einem herzhaften Lachanfall am Abend geführt. Bei solchen Ausmaßen bin ich doch immer wieder froh im Norden zu leben wo Fasching/Karneval einfach nicht wirklich gefeiert wird 🙂
Ich wünsche gute Erholung oder genügend Schokolade/Hochprozentiges/Wellness (je nach aktueller Lage ;)) um die nächsten Tage gut zu überstehen.
Herrje, da weiss ich ja jetzt was der armen Lehrerin meiner Erstklässler-Brut heute blüht…
Aber du hast es ja hinter dir 🙂
Ach wie ist das herrlich, als Nicht-Lehrerin dem Kind morgens einfach nur hinterherzuwinken auf dem Weg zur Schule und das Chaos anderen zu überlassen. Wenn ich dann alle Jahre wieder die Fotos von völlig überdrehten Kindern und „vergnügtem“ Lehrpersonal sehe dann weiß ich, dass es genau so abläuft wie in deinem Beitrag. Halte durch, Schneckchen, bald ist es vorbei und dann ist zumindest karnevalstechnisch ein Jahr Ruhe! 🙂
Ich bin hier in eine Fastnachtsgegend hereingestolpert, nicht wissend, was da auf mich zukommt. Die Kostüme der allemannischen Fastnacht gefallen mir, aber die Unmengen von Alkohol halte ich für bedenklich, vor allem, wenn mir dann torkelnd Mittelstufenschüler entgegenkommen oder besoffene Hexen mir vors Auto laufen.
Was mich aber am meisten entsetzt, ist die laute Verblödungsmusik überall – tut mir leid, gegen laut hab ich ja noch gar nichts, aber gegen diese Art von Musik… schon im Kindergarten ging es hoch her, die Kindergärtnerinnen hatten den meisten Spaß, Lucy kam mit eindeutig nicht jugendfreien Texten auf den Lippen nach Hause… das war ein Kulturschock. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, aber ich bin sehr dankbar, dass von mir keiner das erwartet, was du durchziehen musstest. Und schön, wie du im Nachhinein auch selbst drüber lachen kannst!
Wie angenehm ist doch Fasching mit den Viertklässlern, sie richten ihr Buffet selbst her und jaaaa es enthält auch Karotten, Paprika und Obst. Soe spielen selbstständig Reise nach Jerusalem und das juchheee gleich mehrmals. Die Polonaise wandert durchs ganze Schulgebäude- muss sein („wir machen gleich ne Bolognese“ ruft eine Viertklässlerin , darauf ich“ wer kocht die Nudeln?“). Und das grauseligste ist eine Runde „Werwolf“ angezettelt von der großen Hexe (mir) . wir lieben es!
LG Petra
Öha … da war meine „Faschingsfete“ mit ca. 600 Grundschülern in der Aula unserer Sekundarstufe doch deutlich entspannter. Allerdings taten mir nach Ententanz, rotem Pferd und „ich flieg, flieg …“ die Ohren weh. Und das mir, als erkläre Nicht-Faschings-Jeckin“. Ich hoffe, die Pralinen haben für Entspannung und nicht für Übelkeit gesorgt 😉