Thema verfehlt

4. Stunde, Sitzkreis, Matheunterricht. Es liegen diverse Gegenstände im Kreis, die sich prima teilen lassen. Theoretisch zumindest, denn die Meute ist regenpausengebeutelt und recht unwillig, sich auf die magischen Freuden des Halbierens einzulassen. Stattdessen wird geschubst, gekichert und all das getan, was Erstklässlern eben so einfällt in der 4. Stunde. Im Sitzkreis. Nach zwei Regenpausen.

„Was ist denn die Hälfte von 18?“, versuche ich es erneut mit genau der Mischung aus Motivation und Autorität in der Stimme, die nur durch jahrelanges Unterrichten von Sechs- bis Zehnjährigen zur Reifung kommt. Sozusagen die Raucherstimme der professionellen Primarstufenlehrkraft. Das Barrel Aging der Pädagogenstimme.

Prompt meldet sich Ronja und deutet auf ihren Bauch: „Mir ist da ganz komisch drin und mein Bruder, der hat ja auch die ganze Nacht gebrochen.“

Och nee …!

„Wenn es dir schlecht wird und du dich übergeben musst, dann läufst du einfach ganz schnell zur Toilette! Ihr wisst ja, dass ihr euch in einem solchen Fall nicht erst melden müsst, oder?“, frage ich die jetzt äußerst aufmerksamen Erstklässler. Übergeben zieht immer. Einige schauen überrascht, lege ich doch sonst so übertrieben gehobenen Wert auf höflich formulierte Fragen und Mitteilungen, falls einer der jungen Padawane – aus welchen Gründen auch immer und, fragt nicht, solche Gründe scheint es immer zu geben! – das Klassenzimmer zu verlassen gedenkt.

„Und wenn wir das nicht mehr schaffen?“

Ein berechtigter Einwand! Ich erinnere mich an einen Spuckunfall vor vier Jahren, bei dem das arme Kind die Toilettenräume erreichen wollte, was mit einer mäandernden Spur des Schreckens im Flur endete.

„Dann übergebt ihr euch in einen Mülleimer. Aber in einen mit Tüte!“

„Welche Farbe?“

„Schwarz“, antworte ich und warte auf die Folgefrage. Und da ist sie schon.

„Warum in den?“

Da ich als Lehramtsanwärterin noch seitenweise über die Wichtigkeit der Einbettung eines Lerninhalts in die Lebenswirklichkeit der Kinder sinnieren musste, freue ich mich natürlich über den nachvollziehbaren Wissensdurst meiner Klasse, lege die Mathestunde ad acta und erkläre, wie das so ist mit Mülleimern mit und ohne Beutel, aufquellendem Papier und Geruchsbildung. Geschickt flechte ich ein, dass das Waschbecken – obwohl genau über den Mülleimern und somit in per-fek-ter Eruptionshöhe angebracht –  AUF. KEINEN. FALL. als Vomitorium zu nutzen sei. Nein. Niemals und unter keinen Umständen!

„Warum nicht?“

In den nächsten Minuten referiere ich inbrünstig über Verdauungsprozesse und Abflussverstopfungen, fehlendes Werkzeug, Geruchsbildung (erneut) und Hausmeister, die in solchen Fällen anzurufen es absolut zu vermeiden gilt, zumindest falls einem an weiterer Zusammenarbeit gelegen ist und, ja, das ist es uns in den nächsten drei Jahren ganz sicher noch! Ich bin in meinem Element. Ist es nicht genau dies, wofür Grundschullehrerinnen geboren werden? Meine Wangen färben sich rosa wie junge, glückliche Ferkel auf dem Weg in die kühlende Suhle. Der ursprünglich in den Blick genommene Aspekt des Halbierens ist vergessen. Doch egal, die Erstklässler hängen an meinen Lippen, Ronja hat ihre Bauschmerzen vergessen und überhaupt ist dieser Moment eine pädagogische Sternstunde, wie wir sie in dieser Klasse so noch selten erlebt haben! Ergriffen sind sie, die Erstklässler, ergriffen! Da meldet sich Jason. Ich wedele seinen Beitrag herbei und erwarte eine Transferleistung allererster Güte.

„Können wir jetzt endlich mal Mathe machen?“

Jeden Morgen, mein Brot zu verdienen

„Mein Papa, der ist ja Anwalt, Frau Weh. Der muss immer ganz viel arbeiten. Und weg ist der auch oft. Und meine Mama, die ist auch Anwalt. Und wenn die im Gerücht ist, dann kommt der Opa und passt auf uns auf oder die Frau Lisbeth. Aber dafür kriegen meine Eltern immer viel Geld, weil die müssen ja auch immer viel arbeiten!“

Die große Pause hat begonnen und ich sitze irgendwo im Klassenraum herum und mache Dinge, die eben so gemacht werden: Sachen nachgucken, rote Kringel malen oder auch ein Herz um einen Buchstaben, der Ebru besonders gut gelungen ist. (In diesem Schuljahr sitze ich erstaunlich viel herum. Da sackt einem der Boden nicht so unter den Füßen weg, wenn es mal wieder stressig wird. Und stressig wird es seit September oft. Einmal habe ich mich sogar testweise unter mein Pult gelegt. Ich verspürte das dringende Bedürfnis nach Ruhe und Frieden. Wer kennt es nicht? Aber bereits nach wenigen Sekunden haben sich zwei Erstklässler begeistert zu mir gequetscht und meinen Pulloverärmel gestreichelt. Soviel dazu.)

Es ist 9.45 Uhr und die meisten Erstklässler haben mittlerweile die Klasse verlassen, doch ein kleines Grüppchen tauscht sich noch kauend über die beruflichen Hintergründe der Eltern aus. So wie Pascal, der mich wortreich in Kenntnis darüber setzt, dass seine Eltern eigentlich immer arbeiten, aber wenigstens viel dabei verdienen.

„Frau Weh, was machst du denn eigentlich beruflich?“

„Ich bin eure Lehrerin, Pascal.“

„Nee, ich meine, womit verdienst du denn Geld?“

Ich blicke bedeutungsschwanger im Klassenraum herum, bis mein Blick wieder auf Pascal trifft. „Hiermit.“

„Du bekommst GELD dafür, dass du bei uns bist!?“ Die Ungeheuerlichkeit hinter dieser Aussage verschlägt dem Erstklässler die Sprache. Auch der neben ihm stehende Ben Bo starrt mich entsetzt an und lässt vor Schreck sein angebissenes Pingui fallen.

„Tja, nun“, sage ich salbungsvoll, „jeden Morgen, mein Brot zu verdienen, geh ich zur Schule, wo Bildung verkauft wird. Und jetzt raus an die Luft mit euch!“

Kopfschüttelnd wenden sich die Kinder zur Klassentür. Da dreht sich der sichtlich ergriffene Ben Bo noch einmal um und wedelt mit seinem Süßwarenprodukt.

„Möchtest du mal beißen, Frau Weh? Weil, wenn du doch kein Brot hast …?“

 

 

per aspera ad astra

Nein, lustig ist das gerade alles nicht so.

Doch, es gibt Momente, über die man witzig schreiben könnte, beispielsweise wenn Johann im Kunstunterricht den Inhalt seines Pinselbechers über den neben ihm sitzenden Theodor ausschüttet und dieser wie ein Pudel im Regen die Tropfen vom Kopf schüttelt. Oder wenn Charles auf dem Boden liegt, alle Viere von sich streckt und laut tobt, dass Schule so scheiße sei und er jetzt nie wieder vom Boden aufstehen werde. Vielleicht wäre es auch ulkig, darüber zu schreiben, dass ich eine ganze Handvoll Fünfjähriger in der Klasse habe, die eigentlich noch in den Sandkasten gehören, und wirklich, wirklich noch nicht in die Schule, weswegen sie mich ab 9.00 Uhr fragen, ob sie jetzt endlich mit Lego spielen dürften. Oder über die gar nicht mal so wenigen Kinder, die den Stift noch im Faustgriff halten, denn malen, nein, das hätten sie im freien Kindergarten nie machen müssen, und deren Ooooos aussehen wie die Pfotenabdrücke bekiffter Micky Mäuse. Aber wenn man ehrlich ist, dann ist das einfach nicht lustig. Nicht, wenn man alleine inmitten einer großen Menge Kinder steht und hofft, dass ein Wunder geschehe oder bitte wenigstens der Vormittag  schnell vorbeigehen möge. Dann ist es einfach nur unglaublich anstrengend.

Klar, das ist es immer im ersten Schuljahr. Vielleicht liegt es also am zunehmenden Alter oder an der Tatsache, dass ich einfach schon zu viele Ungeheuerlichkeiten, Unzulänglichkeiten und Unzumutbarkeiten der Schulpolitik im wahrsten Sinne des Wortes habe verarbeiten müssen, dass ich diesem Zustand reservierter als früher gegenüberstehe. Weniger die Chance in diesen Momenten erkenne als die Hilflosigkeit spüre, die sich in meinem Bauch ausbreitet.

Es ist gut, sage ich zu Herrn Weh, als ich ihm von meiner neuen Klasse erzähle, dass ich keine Berufsanfängerin mehr bin. Ich wüsste sonst nicht, wie ich das alles schaffen soll. Doch wenn ich ehrlich bin, weiß ich es auch jetzt nicht.

Was ich weiß, ist, dass ich für viele Kinder auch dann noch ein Fels in der Brandung bin, wenn mein Inneres sich vor Stress verkrampft, weil Johann seinen Klebestift isst und Charles seinen Sitznachbarn mit der Schere in den Arm sticht, weil der ihn so doof angeguckt hat vorgestern in der Pause.

Außerdem weiß ich – obwohl ich es mir jetzt noch nicht ansatzweise vorstellen kann – dass mir auch diese Klasse ans und ins Herz wachsen wird. Sich in meine Gedanken weben wird und mir gerade auch die heftigen Fälle nicht egal sein werden. Weil es einem nicht egal sein darf, auch wenn es noch so viele sind, deren Verhalten so leicht als asozial, auffällig oder schulunfähig zu beschreiben wäre.

Was ich weiß, ist, dass es besser wird.

Denn das wird es zum Glück immer. Wird es doch, oder?

Erste Woche

Wochenende! Halleluja!

War ich es, die sich vor kurzer Zeit über die genügsam vor sich hinarbeitenden Viertklässler beschwerte? Oh, was war ich ignorant!

Möglich, dass diese neue Klasse diejenige sein wird, die mich Grenzen akzeptieren lehrt. Möglich auch, dass diese Klasse mich mehr fordern und herausfordern wird als jede andere zuvor. Möglich aber auch, dass diese Klasse mich wachsen lässt an Geduld und Nervenstärke. Und – vielleicht, bestimmt, ganz sicher! – werden auch die vielen (vielen!) Kinder dieser Klasse wachsen und irgendwann eine Gemeinschaft bilden, die sich selber trägt.

Nach der ersten Schulwoche kann ich nicht nur ahnen, nein, ich weiß es schon, dass meine Planungen aus den Anfängen des letzten Durchgangs hier auf keinen fruchtbaren Boden treffen werden. Zu unterschiedlich die Zusammensetzung, zu extrem die einzelnen Ausgangssituationen. Also zurück zu den Wurzeln: Training von Grob- und Feinmotorik, viel Bewegung, Übungen zur phonologischen Bewusstheit und wenn schon Buchstaben schreiben, dann auf sehr großem Papier. Immerhin: Die Erstklässler singen gerne und sie lieben es, vorgelesen zu bekommen. Dann ist es fast still. Qualitätszeit im Anfangsunterricht.

Überhaupt Zeit. Diesmal werde ich sehr viel davon brauchen.

Gedanken eines Wirsings

Anspannung und Stress türmen sich über mir auf wie Wellenberge. Ich atme.

Es ist der erste Schultag nach den Sommerferien. Genaugenommen hätte ich heute noch nicht einmal Unterricht, sondern könnte noch ein bisschen im Klassenraum herumwurschteln. Ein netter Willkommensanschrieb hier, ein kleines Blümchen dort – man kennt das ja. Schließlich kommen die Erstklässler erst einen Tag später erwartungsfroh angestiefelt. Alle vier Jahre kann man sich auf diesen Extratag freuen, während die anderen Kolleginnen bereits Sommerferienerlebnisse anhören, Bücher verteilen und schauen, welche Veränderungen der lange Sommer ihren Schülerinnen und Schülern hat angedeihen lassen: ein paar zusätzliche Zentimeter in der Länge, fünf neue Sommersprossen oder ein verschrammtes Knie.

Verdient man allerdings als Musikfachkraft sein Geld, kann man auf diesen Luxustag keinesfalls zugreifen! Da wird geprobt, geprobt, geprobt. Denn die morgige Einschulungsfeier soll ja ganz besonders schön werden. Die Eltern, Frau Weh, denk an die Eltern! Dieses Jahr habe ich sogar den Triple geholt: And the GoESch* goes to Frau Weh! Yeah!

(Immerhin kann ich mir den Tag dann auch so gestalten, wie ich es mag und – wichtiger noch – ich kann all die Dinge weglassen, die eh nur vergebene Liebesmüh‘ sind. Andenkenzettel für die Eltern? Weg damit! Aufwendige Deko passend zum Gottesdienstthema? Ach, lass mich doch in Ruh!)

Trotzdem muss ich mich mühevoll durch die nächsten vier Stunden atmen, denn natürlich ist ALLES weg: Kostüme, Texte, längst einstudierte Lieder – alles futsch. Ja, da hilft nur atmen. Vor meinem inneren Auge lasse ich das Bild eines Wirsings entstehen. Ich bin ein praller, ein wenig schrundiger, aber sehr stattlicher Kohl mit der erstaunlichen Eigenschaft des Mirdochegals! Lotuseffekts. Micha hat seinen Text vergessen? Hier hast du ein Textblatt! (tröpfeltröpfel) Lenas Mama hat das Kostüm weggeworfen, weil es so streng roch? Nimm meinen Schal, Kind! (plätscherplätscher) Frau Weh, kannst du mal ans Telefon, das Schulamt weist dir noch ein besonderes Kind zu? (plitschplatsch) Lasset die Kindlein zu mir kommen!

Willkommen im neuen Schuljahr!

*Gottesdienst – Einschulungsfeier – 1. Schulstunde. Alles in meiner Hand. Jucheissassa!

Mitten im Leben

Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen.

Er hält sich nicht an Pläne, er trifft keine Absprachen. Er geschieht.

Betroffen steht die kleine Schar Erstklässler im Kreis um die tote Spitzmaus herum. Klein liegt sie da auf dem Schulhof, geradezu winzig und still, sehr still. Eigentlich wollten wir für eine Förderstunde nur kurz das Gebäude wechseln. Doch an Normalität ist nun nicht mehr zu denken. Zu plötzlich stört der Tod die Kindern so eigene Emsigkeit.

„Vielleicht schläft sie ja nur?“, macht Lyanne sich selber Mut.

„Aber sie hat die Augen auf und da an der Schnauze ist auch Blut!“ Theo ist von der vollzogenen Endlichkeit des Mäuselebens überzeugt. Fachmännisch weist er auf die Indizien hin.

„Die arme, arme Maus!“, meint Dilara kummervoll und macht ein trauriges Gesicht. Die anderen Erstklässler nicken betroffen. So ein kleines Mäuschen und so tot. Warum bloß?

Diese Frage stelle ich mir auch. Ich friere. Mittwochs habe ich einen Schultag ganz ohne Pausenaufsichten. Anlassgemäß feiere ich diesen Tag immer mit dünner Kleidung. Mir zieht eine Gänsehaut die bestrumpfhosten Beine hinauf und eigentlich wollte ich doch im Warmen sitzen und die Sache mit der Silbensynthese noch einmal gezielt angehen. Jetzt aber blicke ich auf die tote Maus und die ergriffenen Erstklässler und als erfahrene Lehrkraft weiß ich natürlich, dass daraus heute nichts mehr werden wird. Ich seufze und ziehe den Mantel enger. Es ist absehbar, was nun passieren wird.

„Wir müssen sie begraben!“, sind sich die Erstklässler da auch schon einig und geraten nach meinem Zustimmung signalisierenden Nicken, auch wenn es nur halbherzig war, in freudvolle Geschäftigkeit. Sie teilen die Zuständigkeiten ein und tun, was getan werden muss. Einige suchen ein schönes Plätzchen (geschützt unter Büschen, aber etwas sonnig, die kleine Maus liebte bestimmt die Sonne, alle Mäuse lieben Sonne!), andere sammeln Herbstblätter in leuchtenden Farben (denn bunte Farben, da ist man sich einig, sind sehr wichtig bei einem Begräbnis und in Mexico oder woanders, da feiert man, wenn einer tot ist, mit gelben und orangenen Blumen, das hat Can am Wochenende in der Vorschau im Kino gesehen. Da war so ein Hund, der hat einen Knochen fast gefressen und dann war das aber der Knochen von einem toten Skelett und der Hund ist in einen Kaktus gefallen. Oder in ganz viele. Aber die Blumen waren orange!) und Theo und Ebru holen Sandeimer und Schaufel, denn ein Loch muss auch noch ausgehoben werden. Weder die novemberschwere Erde noch die Tatsache, dass jedes Kind einmal an die Schaufel möchte, lassen das Unterfangen zu schnell enden und so vergeht eine fröstelnde Weile und noch eine.

„Wie kriegen wir die Maus da jetzt rein? Tote Tiere darf man nicht anfassen, die können Tollwut haben.“

Ein bisschen hin und her geht es nun, denn Dilara weiß nicht, was Tollwut ist und Can verwechselt Tollwut mit der Zombieapokalypse aus dem voll gruseligen, aber coolen PC-Spiel, das sein großer Bruder ihm gezeigt hat und wo alle immer voll soooo langgehen und Geräusche machen. Doch Theo weiß um die Würde des Anlasses, schickt nach einem Kehrblech und sorgt für Ruhe. In schweigender Übereinkunft teilt ihm die Gruppe die Rolle des Bestatters zu und mit einem kleinen Plopp landet das Mäuschen in seinem Grab. Gebettet auf Herbstlaub und etwas Butterkeks, denn Mäuse – und wir alle wissen doch darum! – lieben Butterkekse. Liebevoll zugedeckt von einem Papiertaschentuch, das sogar fast noch ganz sauber ist. Die Erstklässler werden still, denn nun – so wird ihnen bewusst – müssen Worte gesprochen werden. Wichtige Worte, die den Abschied fassbar machen sollen und doch erträglich. Große Worte voller Traurigkeit über verpasste Chancen und ein Mäuseleben, dass doch viel zu kurz war.

„Auf Wiedersehen, kleine Maus. Wir haben uns gerade erst kennengelernt, aber du warst bestimmt ganz prima zu deinen vielen Mäusekindern! Und die sind jetzt sicher schon groß und passen auf sich selber auf. Du darfst jetzt hier ganz lange schlafen und du kommst bestimmt in den Mäusehimmel und der ist voller Käse!“

„Wir müssen auch etwas singen!“, weiß Theo. Alle nicken zustimmend. Sie entscheiden sich für das Martinslied, denn der Mantel, meint Leon, deckt ja den Bettler zu so wie die Herbstblätter die kleine Maus. Und ein anderes Lied wissen sie gerade auch nicht. Die hellen Kinderstimmen klingen durch die kalte Luft und ich weiß gar nicht, warum, aber plötzlich muss ich ein bisschen schlucken und ein bisschen hüsteln und vermutlich habe ich mir doch eine Erkältung oder so etwas in der Art eingefangen. Ist ja auch kein Wunder! Die Kinder nicken mir wissend zu und eine kleine Hand schiebt sich in meine. Weil der Gesang so schön ist auf dem leeren Schulhof und auch so viel Spaß macht, stimmen die Erstklässler gleich noch das Lied von der Weihnachtsbäckerei an. Mit in die Hände klatschen und laut „Du Schwein!“ rufen, denn das ist ja das Beste überhaupt an dem Lied. Dann wird gekichert und gelacht und „Tschüss, du Mäuschen!“ gerufen und noch ein bisschen mit Herbstlaub geworfen, wo wir schon hier draußen sind.

Mitten im Tod sind wir vom Leben umfangen.

Es hält sich nicht an Pläne, es trifft keine Absprachen. Es geschieht.

Viel Lärm um nichts

„Frau Weh, da liegt ein Embryo auf der Treppe!“

Süffisant ginsend steckt Benedikt aus der Vierten seinen Kopf in meine Klasse.

„Ist nicht meiner. Heb‘ ihn auf und nimm ihn mit!“, antworte ich ohne mit der Wimper zu zucken. Die Hebamme ist zu Besuch im vierten Schuljahr und lädt gerade ihr Auto aus. Außerdem habe ich genug mit den zerknirschten Übeltätern zu tun, die vor mir stehen. Traf mich doch fast der Schlag, als ich am Morgen einen Blick auf die Tafel warf und dort acht Namen vorfand. Alles Erstklässler, die sich gestern in Englisch offenbar deutlich daneben benommen und infolgedessen bei mir eine Unterschrift abzuholen haben.

„Was denkt ihr euch denn eigentlich dabei?“, will ich wissen und frage nach dem Grund der Sanktion.

„Also ich hab eigentlich gar nichts gemacht!“, empört sich Nick. „Ich hab nur dem Ole den Kopf gestreichelt.“

„Ja und ich wollte das nicht!“, unterbricht ihn Ole augenblicklich.

„Und dann?“, hake ich nach.

„Dann ist der Nick vom Stuhl gefallen.“

„Ja, nachdem DU mich runtergeschubst hast!“

„Ok. Die nächsten.“

Filiz schaut arglos die Klassenzimmerdecke an. „Ich weiß gar nicht, warum die Frau Rimsky-Korsakov immer so laut ist. Ich hab ü-ber-haupt nichts gemacht. Ehrlich, Frau Weh!“ Sie senkt den Blick aus kullerbraunen Augen von der Decke und sieht äußerst überzeugend drein. Verdächtig! Ich schaue auf den Zettel, den die Kollegin gestern in Rage auf meinem Schreibtisch hinterlassen hat.

„Da steht, du wärst auf Toilette gegangen und nicht wiedergekommen, weil du auf dem Flur Topmodel gespielt hast.“

„Ja, aber ich hab nicht gestört!“

„Du hattest das Relibuch dabei und hast laut gesungen. Warum denn überhaupt das Relibuch?“, frage ich irritiert. Es war doch Englisch dran.

Gott mag Kinder, das hab ich gesungen. Und das Relibuch geht viel besser auf dem Kopf, weil das Englischbuch ist so wabbelig.“

Filiz schüttelt sich bekräftigend.

„Und das Buch ist nicht runtergefallen von meinem Kopf. Ich kann das voll gut!“

„Die Filiz kann das echt voll gut“, mischt sich Leonie ein. „Ich hab das gesehen.“

„Stimmt“, antworte ich und lese auf dem Zettel nach, „du warst ja dabei und bist auch nicht mehr in die Klasse gegangen.“

„Ist aber auch langweilig in Reli!“

„Ich dachte, ihr hattet Englisch?“

„Ach ja, stimmt. Ist trotzdem langweilig.“

Alle nicken. Ich hebe ablehnend die Hand. „Danke, reicht.“

„Die Frau Rimsky-Korsakov ist immer so laut, das tut in den Ohren weh!“, mault Michelle.

„Und deswegen hast du was gemacht?“, frage ich. Diese Stelle auf dem Zettel kann ich nicht gut lesen.

„Ich habe mir nur den Kopfhörer vom Computer geholt und angezogen, als die so gebrüllt hat wegen dem Noah.“, entgegnet Michelle trotzig und schiebt die Unterlippe vor. Ich verzichte darauf, ihr zu erklären, warum ein solches Verhalten in bestimmten Situationen als frech eingestuft wird und wende mich Noah zu.

„Und was machst du eigentlich an der Tafel?“

Noah ist ein wahres Herzchen und musste ein ganzes Schuljahr lang nicht an eine einzige Regel erinnert werden. Umso erstaunter war ich darüber, auch seinen Namen vorzufinden. Es ist ihm unangenehm und er zieht den Kopf tief zwischen die Schultern. Ein wenig sieht er nun aus wie eine kleine, verschreckte Schildkröte.

„Na, komm“, sage ich in sanfterem Ton, „ich möchte es einfach verstehen.“

„Ich habe meinen Strohhalm aus der Kakaoflasche gezogen. Das sollen wir ja machen …“

„Jaaaa?“, ermuntere ich ihn zum Weitersprechen.

Er atmet tief ein, um sich für den letzten Teil der Beichte zu wappnen.

„Aber ich hab das auf meinem Platz gemacht und dann ist der Kakao gespritzt. Auf die Paula. Und auf Paulas Heft.“

Die anderen Erstklässler ergänzen eifrig:

„Und auf den Ranzen!“

„Und auf den Boden!“

„Und auf Frau Rimsky-Korsakov!“

Auf Frau Rimsky-Korsakov? Was zum …?

„Wieso das denn?“

„Na die war grad bei mir, weil ich mich doch ganz aus Versehen mit meinen Schuhen am Stuhl festgehakt habe!“, ergänzt Paula missbilligend, weil ich die offensichtlichen Zusammenhänge einfach nicht verstehen will.

Ich seufze. Nahezu bildhaft kann ich mir den Ablauf der Stunde vorstellen und mein Verständnis für die Kollegin wächst und wächst. Fachunterricht bei den Erstklässlern so kurz vor den Ferien ist nicht unbedingt die reine Freude.

„Aber warum ist die Frau Rimsky-Korsakov auch immer so streng mit uns?“, wundert sich Ole. „Wir machen doch gar nix!“

Ich erkläre den Erstklässlern, dass Unterrichten anstrengend ist. Gerade, wenn man eine Klasse nur selten sieht. Dass man als Lehrerin manchmal das Gefühl hat platzen zu müssen, wenn wieder eine Störung kommt. Und noch eine und noch eine. Besonders so kurz vor den Ferien.

„Also mein Papa sagt ja, dass Lehrer viel zu viele Ferien haben!“, gibt Nick zu bedenken.

„Warum hast du so viele Ferien, Frau Weh?“

„Damit ich nicht platzen muss.“

Wider die Langeweile!

„Und wann gibt es mal richtigen Unterricht?“, fragt die Schülerpraktikantin mit nur mühsam unterdrückter Schwunglosigkeit.

Ich blicke von dem Stapel Mathehefte auf, den ich gerade durchsehe, und schaue mich in der Klasse um. Die Erstklässler ergießen sich über Stühle, Bänke und den Boden. Einige sitzen im Flur oder im Treppenhaus und schaffen ordentlich was weg. Wir sind bei Countdown 6 vor den Ferien angelangt und die Tatsache, dass ich zu meinen eigenen drölfzilliarden Schülern noch eine gelangweilte Sechzehnjährige auf’s Auge gedrückt bekommen habe, um die ich mich kümmern muss, erfüllt mich nicht unbedingt mit innerlichem Halleluja. Allerdings komme ich nicht umhin, dem benachbarten Gymnasium für die hervorragende Zeitplanung Respekt zu zollen. Was für eine geschickte Idee, die gesamte Stufe 11 in den letzten zwei Schuljahreswochen ins Praktikum zu schicken. Da läuft ja eh nix mehr, oder wie war die landläufige Meinung dazu?

Hier läuft allerdings noch eine ganze Menge. Allein, man sieht es nicht auf den ersten Blick. Die Erstklässler (zumindest die meisten) arbeiten nämlich selbstständig so vor sich hin. Mit unserem Stoff sind wir durch, jetzt wird nur noch vertieft und – ja, ich gebe es zu – weggearbeitet, was ich im Überschwang zu viel kopiert habe, derweil ich akribisch jedes Arbeitsheft noch einmal auf eventuelle Lücken durchgehe. Hier kommt nichts weg!

Aber Madämchen würde gerne richtigen Unterricht sehen. Dass ich es überhaupt zulasse, mich darüber zu ärgern, zeigt, dass auch ich ganz langsam ferienreif werde. (Schon seit Tagen läuft in meinem Kopf übrigens I’m Going Slightly Mad in Endlosschleife. Muss ich mehr dazu sagen?) Dabei ist das nicht nur unreif von mir, sondern auch ungerecht. Man überlege kurz einmal, wie man selber so war mit 16 … ähm, genau. Das war das Alter, in welchem man bei morgendlichen Schwindel nicht dachte Uh, ist mir schwindlig!, sondern Hui, alles dreht sich um mich! Das muss so, das soll so sein, Beschwerden bitte ans Kleinhirn, Abteilung Entwicklung, danke. Also jetzt Unterricht. Na gut.

„So, ihr Lieben, alle mal in den Kreis kommen!“

Je nach Verfassung und Gemütszustand schlurfen oder stürzen sich die Erstklässler in die Raummitte, balgen sich kurz um die besten Plätze (direkt neben mir oder aber ganz weit weg) und harren erwartungsvoll der Dinge. Lediglich Ramon fällt fröhlich hintenüber von der Bank, was niemand weiter kommentiert und mit einem Kühlpack schnell behoben wird. Ich frage in die Runde, wer sich womit beschäftigt hat und ob jemand seine Arbeit an der Tafel vorstellen möchte. Dilara, Filiz und Merve melden sich als erste und dürfen nach vorne. Kurz bilden sie ein aufgeregt flüsterndes Grüppchen, nicken dann und schauen erwartungsvoll zu uns herüber.

„Wir haben was mit ganz schwierigen Wörtern gemacht“, erzählt Merve, „und das machen wir jetzt auch mit euch.“

Filiz hüpft ein wenig auf der Stelle – es ist so aufregend an der Tafel! – und zeichnet dann hochkonzentriert sechs Striche.

„Galgenmännchen!“

jubeln die Erstklässler und freuen sich des Lebens. Noch einmal so begeisterungsfähig sein wie mit sieben Jahren! Es wird gerätselt und geraten, ausprobiert und buchstabiert bis das korrekte Lösungswort endlich an der Tafel erscheint. (Es war übrigens Ananas. Ich wünsche mir auch bald mal wieder eine. Am liebsten in weißem Rum badend und mit Schirmchen.) Tosender Applaus kommt auf, verbunden mit dem unweigerlichen Geschrei, das immer dann ertönt, wenn es um die Auswahl einer Nachfolge geht. Doch Filiz lässt sich nicht erweichen und spricht mit unerschütterlicher Miene die einzig wahren Worte:

„Ich nehme das allerleiseste Kind dran!“

Wen wundert es da, dass die Wahl auf die phlegmatische Schülerpraktikantin fällt? Überrascht, aber erfreut, tritt diese auch sogleich zur Tafel, überlegt kurz und zieht ihre Striche. Es sind 20. Die Erstklässer staunen und ich bemerke, wie manch kleiner Kosmos ins Wanken gerät.

„Gibt es so lange Wörter?“, haucht Finja beeindruckt und ich sehe, wie die Praktikantin ein Stückchen größer wird.

„Oh ja!“, sagt sie, „Und noch viel längere. Aber die müsst ihr erst noch alle lernen.“

In den kommenden Minuten haben alle Spaß. Die Praktikantin, weil sie merkt, wie toll Nicht-Unterricht sein kann, die Erstklässler, weil sie sich für Kniffligkeiten begeistern können und ich, weil ich mich darüber freue, dass die Buchstabenkombination E-R-N-S-T-L auch 13 Jahre nach dem letzten Dreh des Glücksrads noch funktioniert.

S _ _ _ E R _ E R _ E N    S _ N _    T _ L L

Obwohl die Praktikantin am Ende gleich von mehreren Schülern dafür gerügt wird, dass das ja gar nicht ein Wort, sondern drei sind, strahlt sie noch am Ende des Vormittages und bedankt sich artig für den schönen Tag. Allerdings kann ich ihr gar nicht richtig antworten.

In mir singt es so laut.

I think I’m a banana tree
Oh dear, I’m going slightly mad
I’m going slightly mad
It finally happened, happened
It finally happened uh huh
It finally happened I’m slightly mad – oh dear!

Alles auf Anfang

Ich würde gerne schreiben, dass alles klappt.

Schreiben, dass alles kein Problem ist und Ramon in mir die verständnisvolle Lehrerpersönlichkeit gefunden hat, die er offensichtlich all die Zeit gesucht hat. Dass wir uns in die Augen geblickt haben voller gegenseitiger Wertschätzung und Wärme und wie durch Zauberhand ein ganz neues Kind unsrer Mitte entschlüpfte wie der bunte Schmetterling dem hässlichen Kokon. Aber der Schulalltag ist kein pädagogisches Wunschkonzert und grundlegende Metamorphosen daher eher selten. Tatsache ist: Ramon stört. Den Unterricht. Die Mitschüler. Mich.

Ich schrieb beim letzten Mal, dass ich mich nicht teilen kann. Jetzt weiß ich, dass ich das gar nicht muss, Ramon bündelt nämlich meine Aufmerksamkeit. Es ist ein wenig so, wie diese Szene im ersten Harry Potter Film: Hagrid ist mit dem kleinen Windelpuper Harry unterwegs durch die Lüfte und Professor Dumbledore trifft Vorbereitungen im Ligusterweg. Dazu zieht er so ein kleines Dings aus der Tasche, eine Art umgekehrtes Feuerzeug. Mit diesem Entleuchter zieht der Zaubermeister flupp flupp flupp das Licht aus den Straßenlaternen und hinterlässt nichts als nächtliches Dunkel. So geht es mir mit meinem schülerzentrierten Weitblick. Ramon schmeißt seine Sachen vom Tisch flupp! Ramon nennt Ole einen alten Wichserarschficker flupp! Ramon friemelt alle Tagestransparenzschilder von der Tafel uuuund … flupp!

Die anderen Erstklässler nutzen das so entstandene schwarze Loch und treiben allerlei Schabernack. Was Erstklässler eben so tun, wenn sie sich herrlich unbeobachtet fühlen. Sie krakeln auf den Tischen herum, halten ein Schwätzchen mit dem besten Freund (auch wenn er auf der anderen Seite des Klassenraumes sitzt) oder beschäftigen sich mit dem wahrhaft wichtigen Dingen des Lebens. Frühstück, Klogang, ein Nickerchen. Einige wenige machen mit bei diesen so herrlich aufregenden Störmöglichkeiten, die ihnen der neue Schüler präsentiert. Obwohl nein … eigentlich haben sie es nur einmal gemacht. Dann habe ich Ramon mit einem dringenden Auftrag zum Chef geschickt und ein ernstes Gespräch mit den Erstklässlern geführt. So eines von Kuchen zu Krümeln. Danach war Ruhe.

Es ist nicht so, dass Ramon und wir nur schlechte Momente hätten. Nein, es gibt auch die guten. Wenn er während der Freiarbeit ehrfürchtig über das Star Wars Lexikon streicht und fragt, ob er das jetzt wirklich lesen dürfe. Wenn er fragt, ob er am nächsten Tag eine Stunde länger bei uns bleiben könne. Wenn er auf seiner Verhaltensliste den vierten lachenden Smiley eingetragen bekommt und staunend erzählt, dass er so viele noch nie hintereinander hatte. Dann denke ich, dass wir vielleicht doch eine winzigkleine Chance haben, wenigstens den Hauch einer winzigkleinen Chance, das Atom eines Hauchs einer winzigkleinen Chance. Und dann tritt er in der Pause einem Zweitklässler mit voller Wucht gegen die Brust. Weil der ihn so angeguckt hat.

Und wir sitzen zusammen auf der Büßerbank und reflektieren. Und schweigen. Und wissen eigentlich doch beide nicht weiter. Nicht Ramon, weil er eben ein Kind ist mit einem gnadenlos vollgepackten Rucksack voller größerer und kleinerer Probleme. Und nicht ich, weil ich eben nur Frau Weh mit einem gnadenlos vollgepackten ersten Schuljahr bin und keine Sonderschullehrerin. Und wir schweigen und schweigen und schweigen. Bis Ramon leise fragt, ob er trotzdem bei uns bleiben dürfe. Aber er guckt mich nicht an dabei, denn Blickkontakt halten, das kann er nicht. Und ich schiebe ihm meine Hand hin und er greift sie. Denn irgendwas zum Festhalten braucht man eben manchmal.

Aber die wahrhaft Großen im Moment, die, die verzeihen und verstehen können, das sind die Erstklässler. Das ist Lilly, die dem verweigernden Ramon im Matheunterricht mit Engelsgeduld erklärt, dass auch er nun arbeiten müsse, denn schließlich machen das alle. Das ist Marc, der im Kreis sitzt und erklärt, dass es für Ramon ja auch viel schwerer wäre als für alle anderen. Schließlich müsse er jetzt auf einmal alle Regeln behalten, für die die Erstklässler immerhin fast ein ganzes Jahr Zeit hatten. Das ist die ganze Klasse, die Ramon nach der ersten gemeinsamen Woche die gereckten Daumen als Zeichen der Rückmeldung entgegenhält, woraufhin dieser rot anlaufend unter der Bank verschwindet. Es sind diese kleinen Momente, die hoffen lassen.

Und dennoch …

Ramon

„Alleine essen macht dick!“

Mit einem Lächeln setzt sich unsere Schulsozialarbeiterin neben mich an den großen Tisch im Lehrerzimmer.

„Ich wünschte, ich hätte mehr in Kalorien investiert.“, antworte ich und schiebe ihr eine Dose mit Kohlrabi und Möhrenschnitzen zu. „Das hilft nicht.“

Sie nimmt sich eine Möhre. „Das ist eben nicht so gelaufen, wie du wolltest.“

Sie fragt nicht, sie stellt fest. Ich nicke. Eigentlich bin ich mit der festen Absicht in die Förderkonferenz gegangen, ordentlich Rabatz zu machen und deutlich mitzuteilen, dass ich dagegen bin, einen hochauffälligen Schüler aus dem zweiten Schuljahr in mein Rudel aufzunehmen. Von wegen Recht auf dreijährigen Verbleib in der Schuleingangsphase, das Kerlchen hat extremen Förderbedarf im Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Der sprengt mir den Unterricht. Genau wie er es die letzten zwei Jahre in der anderen Klasse gemacht hat. Der ist nicht Schüler Nummer 31, der ist Nummer 31 bis 38. Nicht, dass ich eine Wahl hätte. Bis ein eventuelles AO-SF durch ist, kommt er zu mir und den Erstklässlern, da ist nicht dran zu rütteln. Ich mache mir Sorgen. Sorgen um die Ruhe in der Klasse, um die Lernatmosphäre, um die Kinder. Um mich.

Und dann wurde ich Zeugin, wie seine Mutter schrumpfte. Nicht so richtig, eher so im übertragenden Sinn. Nach dem deutlichen Statement der Klassenlehrerin war sie noch einigermaßen gefasst. Auch nach dem niederschmetternden Bericht der Fachlehrer ging es noch. Als dann aber die Schulpsychologin, die Leiterin des Offenen Ganztags und der Fachmann von der Erziehungsberatung vom Leder ließen, war sie nur noch halb so groß. Höchstens. Sie hielt die Tischkante umklammert und presste die Lippen aufeinander, als sich unsere Blicke kreuzten und sie sofort den Blick niederschlug. Wie ein geprügelter Hund, ging es mir durch den Kopf. Scheiße.

Da kriegst du ein Kind und sofort beginnt die Maschinerie der Einordnung: Apgar-Werte, U1, U2 und so fort. Wenn alles gut läuft, prima. Und was, wenn nicht? Wie fühlst du dich, wenn das Wesen, das du geboren und schon geliebt hast, bevor es dir zum ersten Mal in die Arme gelegt wird, keine Spitzenwerte erzielt? Auffälligkeiten zeigt? Vielleicht sind es körperliche Defizite, dann arbeitest du dran, mit Ergo-, mit Logo- oder anderen Therapien. Du besuchst das SPZ, ernährst dein Kind glutenfrei oder führst die Beikost streng nach Plan ein. Du kannst handeln. Wie aber fühlst du dich, wenn dir vom ersten Besuch der Krabbelgruppe an gesagt und – schlimmer noch – direkt und indirekt gezeigt wird, dass dein Kind unsozial ist? Dass es aggressiv ist und – ganz sicher! – unerzogen. Dir wird mindestens eine Mitschuld gegeben und irgendwann kommt der Punkt, an dem du dich auch schuldig fühlst, denn all die anderen können sich ja nicht irren. Als Mutter versagt. Wie fühlt sich das an?

Der Chef blickt mich auffordernd an, ich bin dran. Meine Aufgabe ist definiert, ich soll der Mutter unmissverständlich klarmachen, dass ihr Sohn bei den Erstklässlern falsch aufgehoben ist. Weil es bereits zu viele so viele sind. Weil er nicht im Ansatz die Aufmerksamkeit von mir bekommen kann, die er benötigt, um lernen zu können. Weil ich mich verdammt nochmal nicht teilen, nicht aufspalten, nicht klonen kann. Weil er mehr Förderung braucht, als wir ihm an einer Regelschule angedeihen lassen können, Inklusion hin oder her. Sie muss einen Antrag auf Überprüfung sonderpädagogischen Förderbedarfs stellen. Denn als reiner Schulantrag ohne die Unterschrift der Eltern landet dieser beim Schulamt auf direktem Wege in Ablage P.

„Hat Ramon Ihnen erzählt, dass ich ihm einen Sondereinsatz aufgetragen habe?“ Die Mutter hebt den Blick und schaut mich fragend an. „Er ist mein Pausenkaffeedienst. Wenn ich Aufsicht habe, schicke ich ihn mit einer Tasse auf Kaffeemission. Drei Treppen hoch und drei Treppen runter. Mit Milch und ohne Verschütten. Er macht das großartig!“ Ich lache sie an. „Er ist total eifrig und schafft mittlerweile schon eine halbe Tasse zu mir zu bringen. Dann klatschen wir uns ab und verraten niemandem, woher die Pfützen auf der Treppe stammen. Tut mir leid“, sage ich zu meinem Chef gewandt, „aber das kommt jetzt bitte nicht ins Protokoll, das ist unser kleines, dunkles Geheimnis.“

„Doch“, antwortet die Mutter, „er hat von Ihnen erzählt, Frau Weh. Er mag sie.“

„Ich mag ihn auch.“ Eine kleine Pause entsteht. „Sie machen sich Sorgen, oder? Die mache ich mir auch. Die große Klasse ist nicht gut für ihn. Und gerade deswegen müssen wir einen Weg finden. Egal, wie Sie sich weiter entscheiden. Mein Vorschlag ist, dass wir uns ganz kleine Schritte vornehmen. Jetzt ist erst einmal nur wichtig, dass wir Ramon integrieren und zu einem Teil der neuen Klasse machen. Alles andere besprechen wir, wenn es soweit ist. Und ohne Ihnen allen auf den Schlips zu treten“, ich blicke in die Richtung, in der die Inquisition Schulpsychologin und der Erziehungsberater hinter ihren Tassen sitzen, „aber wir machen das lieber im kleinen Kreis. Der Antrag auf dreijährigen Verbleib ist eingereicht, offiziell sind wir doch jetzt hier fertig, oder?“ Als sich das Lehrerzimmer geleert hat, ist es still im Raum.

„Wie fühlen Sie sich jetzt?“, frage ich die Mutter. Sie zuckt mit den Schultern und weint leise.

„Hat Ramon bei Ihnen eine Chance?“

Ich überlege, hat er wirklich eine?

„Es ist ein Neuanfang. Wir müssen abwarten und aufmerksam bleiben.“

Wir besprechen die nächsten Tage, klären Material und Verstärkerplan ab. Ich bekomme die Nummer der Hausaufgabenhilfe zum baldigen Vorgehensabgleich und legen einen neuen Gesprächstermin fest.

„Raten Sie mir auch zum Antrag für die Förderschule?“

Alles in mir schreit ja.

„Was wünschen Sie sich für Ihren Sohn?“, frage ich zurück.

„Dass er eine richtige Chance hat und nicht alle immer sagen, ah, das war doch der Ramon! Immer ist es der Ramon!“ Sie zerknüllt ihr Taschentuch in der Hand. „Ich weiß, dass mein Sohn nicht einfach ist. Das war er nie.“ Sie weint wieder. „Aber er ist auch ein toller Kerl!“

Wieder wird mir bewusst, wie schwer es ist, die Stärken eines Kindes nicht aus den Augen zu verlieren, wenn die Schwächen so viel auffälliger sind, sich in den Vordergrund drängen und laut ihr Vorrecht herausbrüllen. Und doch können wir nicht immer das einzelne Kind im Blick haben. Mein Gott, ich habe Verantwortung für 30 Schüler! 30 Kinder, in all ihrer Individualität! Alle haben ein Recht auf Bildung und Erziehung, ja, auch auf Schutz vor den Ramons dieser Welt. Ich schlucke und versuche meine Ängste und Bedenken, die Gedanken an Sturm laufende Miteltern und eskalierende Gruppendynamik zu verdrängen und nicke Ramons Mutter zu. Die Entscheidung ist gefallen.

„Wir versuchen es.“

Als die Mutter gegangen ist, lege ich den Kopf auf die Tischplatte und schließe die Augen. Haben wir wirklich eine Chance?