Mitten im Leben

Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen.

Er hält sich nicht an Pläne, er trifft keine Absprachen. Er geschieht.

Betroffen steht die kleine Schar Erstklässler im Kreis um die tote Spitzmaus herum. Klein liegt sie da auf dem Schulhof, geradezu winzig und still, sehr still. Eigentlich wollten wir für eine Förderstunde nur kurz das Gebäude wechseln. Doch an Normalität ist nun nicht mehr zu denken. Zu plötzlich stört der Tod die Kindern so eigene Emsigkeit.

„Vielleicht schläft sie ja nur?“, macht Lyanne sich selber Mut.

„Aber sie hat die Augen auf und da an der Schnauze ist auch Blut!“ Theo ist von der vollzogenen Endlichkeit des Mäuselebens überzeugt. Fachmännisch weist er auf die Indizien hin.

„Die arme, arme Maus!“, meint Dilara kummervoll und macht ein trauriges Gesicht. Die anderen Erstklässler nicken betroffen. So ein kleines Mäuschen und so tot. Warum bloß?

Diese Frage stelle ich mir auch. Ich friere. Mittwochs habe ich einen Schultag ganz ohne Pausenaufsichten. Anlassgemäß feiere ich diesen Tag immer mit dünner Kleidung. Mir zieht eine Gänsehaut die bestrumpfhosten Beine hinauf und eigentlich wollte ich doch im Warmen sitzen und die Sache mit der Silbensynthese noch einmal gezielt angehen. Jetzt aber blicke ich auf die tote Maus und die ergriffenen Erstklässler und als erfahrene Lehrkraft weiß ich natürlich, dass daraus heute nichts mehr werden wird. Ich seufze und ziehe den Mantel enger. Es ist absehbar, was nun passieren wird.

„Wir müssen sie begraben!“, sind sich die Erstklässler da auch schon einig und geraten nach meinem Zustimmung signalisierenden Nicken, auch wenn es nur halbherzig war, in freudvolle Geschäftigkeit. Sie teilen die Zuständigkeiten ein und tun, was getan werden muss. Einige suchen ein schönes Plätzchen (geschützt unter Büschen, aber etwas sonnig, die kleine Maus liebte bestimmt die Sonne, alle Mäuse lieben Sonne!), andere sammeln Herbstblätter in leuchtenden Farben (denn bunte Farben, da ist man sich einig, sind sehr wichtig bei einem Begräbnis und in Mexico oder woanders, da feiert man, wenn einer tot ist, mit gelben und orangenen Blumen, das hat Can am Wochenende in der Vorschau im Kino gesehen. Da war so ein Hund, der hat einen Knochen fast gefressen und dann war das aber der Knochen von einem toten Skelett und der Hund ist in einen Kaktus gefallen. Oder in ganz viele. Aber die Blumen waren orange!) und Theo und Ebru holen Sandeimer und Schaufel, denn ein Loch muss auch noch ausgehoben werden. Weder die novemberschwere Erde noch die Tatsache, dass jedes Kind einmal an die Schaufel möchte, lassen das Unterfangen zu schnell enden und so vergeht eine fröstelnde Weile und noch eine.

„Wie kriegen wir die Maus da jetzt rein? Tote Tiere darf man nicht anfassen, die können Tollwut haben.“

Ein bisschen hin und her geht es nun, denn Dilara weiß nicht, was Tollwut ist und Can verwechselt Tollwut mit der Zombieapokalypse aus dem voll gruseligen, aber coolen PC-Spiel, das sein großer Bruder ihm gezeigt hat und wo alle immer voll soooo langgehen und Geräusche machen. Doch Theo weiß um die Würde des Anlasses, schickt nach einem Kehrblech und sorgt für Ruhe. In schweigender Übereinkunft teilt ihm die Gruppe die Rolle des Bestatters zu und mit einem kleinen Plopp landet das Mäuschen in seinem Grab. Gebettet auf Herbstlaub und etwas Butterkeks, denn Mäuse – und wir alle wissen doch darum! – lieben Butterkekse. Liebevoll zugedeckt von einem Papiertaschentuch, das sogar fast noch ganz sauber ist. Die Erstklässler werden still, denn nun – so wird ihnen bewusst – müssen Worte gesprochen werden. Wichtige Worte, die den Abschied fassbar machen sollen und doch erträglich. Große Worte voller Traurigkeit über verpasste Chancen und ein Mäuseleben, dass doch viel zu kurz war.

„Auf Wiedersehen, kleine Maus. Wir haben uns gerade erst kennengelernt, aber du warst bestimmt ganz prima zu deinen vielen Mäusekindern! Und die sind jetzt sicher schon groß und passen auf sich selber auf. Du darfst jetzt hier ganz lange schlafen und du kommst bestimmt in den Mäusehimmel und der ist voller Käse!“

„Wir müssen auch etwas singen!“, weiß Theo. Alle nicken zustimmend. Sie entscheiden sich für das Martinslied, denn der Mantel, meint Leon, deckt ja den Bettler zu so wie die Herbstblätter die kleine Maus. Und ein anderes Lied wissen sie gerade auch nicht. Die hellen Kinderstimmen klingen durch die kalte Luft und ich weiß gar nicht, warum, aber plötzlich muss ich ein bisschen schlucken und ein bisschen hüsteln und vermutlich habe ich mir doch eine Erkältung oder so etwas in der Art eingefangen. Ist ja auch kein Wunder! Die Kinder nicken mir wissend zu und eine kleine Hand schiebt sich in meine. Weil der Gesang so schön ist auf dem leeren Schulhof und auch so viel Spaß macht, stimmen die Erstklässler gleich noch das Lied von der Weihnachtsbäckerei an. Mit in die Hände klatschen und laut „Du Schwein!“ rufen, denn das ist ja das Beste überhaupt an dem Lied. Dann wird gekichert und gelacht und „Tschüss, du Mäuschen!“ gerufen und noch ein bisschen mit Herbstlaub geworfen, wo wir schon hier draußen sind.

Mitten im Tod sind wir vom Leben umfangen.

Es hält sich nicht an Pläne, es trifft keine Absprachen. Es geschieht.

Haarige Zeiten

Auf der Telefonnotiz, die ich nach dem Unterricht in meinem Fach finde, und auf der Samiras Mutter um Rückruf bittet, steht dringend mit drei Ausrufezeichen. Seufzend nehme ich mir das Telefon, eigentlich wollte ich vor der Heimkehr der Wehwehchen noch schnell ein paar Einkäufe erledigen. Es sollte Salat geben. Das schaffe ich jetzt schon gar nicht mehr. Aber vielleicht ist die Sache ja auch schnell geklärt.

Samiras Mutter hebt nach dem ersten Klingeln ab, offensichtlich besteht hier wirklich unaufschiebbarer Gesprächsbedarf. In verzweifeltem Tonfall erklärt sie mir, dass sich auf dem Kopf ihrer Tochter Ungeziefer eingenistet habe und sie gar nicht wisse, was sie jetzt tun wolle. „Zuerst einmal gehen Sie in die Apotheke.“ Routiniert spule ich das schon so häufig getätigte Läuse-Infoprogramm ab, bestehend aus 50% Handlungsanweisungen („Ja, sie wiederholen die Behandlung unbedingt nach 9 Tagen!“) und 50% Beruhigungen („Sie schaffen das schon! Läuse sind ärgerlich, aber gut behandelbar.“). Ich will das Telefonat schon beenden, als ich merke, dass der Mutter am anderen Ende der Leitung noch etwas auf der Seele liegt. „Gibt es noch eine Sache, über die Sie mit mir reden möchten?“, frage ich also und hoffe insgeheim, dass sie verneinen möge. Vielleicht schaffe ich das mit dem Salat dann doch noch.

„Also da gibt es noch ein Problem.“

Pause.

„Jaha?“, hake ich nach. Ich kann nicht verhindern, dass meine Finger aufs Telefonregal trommeln.

„Ich habe auch Läuse.“

„Na dann benutzen Sie das Mittel aus der Apotheke einfach mit!“ (Salat, ich komme!)

„Ähm…“

Pause.

„Jahaaa?“ (Trommeltrommeltrommel.)

„Ich hab doch Ixtänschens! 150 Stück! Da krieg ich doch die Eier, diese Dingens, diese Nissen nicht raus.“

„Oh… ja dann… machen Sie vielleicht einen Termin beim Friseur Ihres Vertrauens aus?“ Ich bin etwas überfragt. Das bisherige Läuse-Infoprogramm sah für Sonderfälle dieser Art keine Handlungsanweisungen vor.

„Nee, jaa. Ich dachte, ich frag erstmal Sie.“

Was? Wie? Für einen kurzen Moment sehe ich mich mit einem Stielkamm in Frau Niesweins toupierter Haarfülle herumstochern, verdränge das Bild aber schnell wieder.

„Also“, lache ich nervös auf, „das lassen Sie wohl besser Ihren Friseur machen.“

„Aber ich muss Sie doch erst fragen, ob die Samira dann morgen wohl mal mit in die Betreuung gehen kann. Denn bis die Haare raus und wieder rein sind, das dauert doch fünf Stunden.“

Jens

Es hat gerade zur großen Pause geklingelt, als Jens von seiner weinenden Oma aus der Schule geholt wird. Die Nachricht vom Tod seines Vaters trifft uns nicht unerwartet, aber plötzlich. Den Kampf gegen den Krebs konnte er nicht gewinnen.

Als ich den Viertklässlern berichte, warum Jens so überstürzt aus der Schule abgeholt wurde, sind sie so regungslos, dass die Stille fast schmerzt. Bei nicht wenigen sehe ich Tränen und auch ich bin von einer Traurigkeit erfüllt, die Gedanken und Handlungen lähmen will.

„Was ist mit unserem Ausflug morgen?“, platzt Schmitti da heraus. Seit Wochen freuen sich die Kinder auf den Besuch im Freilichtmuseum, wo wir unser Wissen über Umweltschutz und Recycling vertiefen, Papier schöpfen, picknicken und einen ganzen Tag lang Spaß haben wollen. „Kommt Jens da mit?“

„Das weiß ich nicht, Schmitti.“, antworte ich und schüttle leicht den Kopf. „Das wird die Familie entscheiden. Vielleicht möchte er auch lieber zu Hause bleiben.“

Am nächsten Tag werde ich am wartenden Bus von Kindern und Müttern belagert. Die Nachricht hat sich in Windeseile herumgesprochen. Alle sind bestürzt und wollen Infos, die ich nicht habe und nicht geben kann. Schon scheuche ich die Viertklässler in den Bus, als ich aus dem Augenwinkel Jens mit seiner Mutter bemerke, die ein Stück von der Gruppe entfernt stehenbleiben. Ich gehe auf die Frau zu, die wie eine gebrochene Hülle ihrer selbst vor mir steht, und greife stumm nach ihren Händen, hoffend, dass meine Blicke ausdrücken, was ich nicht in Worte zu fassen vermag. „Es tut mir so leid“, bringe ich hervor und sie blickt unter Tränen auf. „Ich würde gerne etwas Tröstendes sagen, aber ich weiß, ich kann nur mit Ihnen weinen.“ „Passen Sie gut auf meinen Jungen auf“, bittet sie mich und blickt voller Kummer auf ihren Sohn. Ich nicke und lege Jens den Arm um die Schulter. „Ich rufe an, wenn wir wieder da sind, dann brauchen Sie nicht mit den anderen Müttern auf uns warten.“ Sie scheint erleichtert und streicht ihrem Sohn zum Abschied über den Kopf.

Ich führe Jens, der müde und abgekämpft aussieht, an den betroffen zu uns herüberschauenden Müttern vorbei in den Bus: „Komm, die anderen haben sich bestimmt schon alle mit Kaugummis versorgt. Schauen wir mal, ob wir auch noch einen abkriegen.“ Er nickt zaghaft und freut sich, als die Viertklässler sofort von ihren Sitzen aufspringen, sich um ihn scharen und Kaugummis, Gummibärchen, eine Schulter zum Ausweinen, einen Nachbarplatz zum Sitzen während der Fahrt anbieten. Ich bin erleichtert, dass die Gruppe ihn sofort umschließt und aufnimmt und drehe mich noch einmal zu den Müttern an der Haltestelle um. „Genießen Sie den Tag, wir kommen wieder!“

Jens sucht meine Nähe und so kommen wir während der Fahrt ins Gespräch. „Erzähl doch mal, wie war es denn gestern für dich?“, ich wähle bewusst einen leichten Tonfall, als ich mich zu ihm drehe. Er scheint froh über die Frage und sofort sprudelt es aus ihm heraus: Wie alle Familienmitglieder in dem engen Krankenzimmer Abschied genommen haben, dass die ganze Zeit über geweint wurde und dass er über eine Stunde neben Papa auf dem Bett lag und ihn einfach nicht loslassen konnte. Aufmerksam höre ich ihm zu, frage an manchen Stellen nach und bestätige, wonach er sucht – die Gewissheit, sich genau richtig von seinem Vater verabschiedet zu haben. „Das hast du prima gemacht, Jens! Du hast Papa gezeigt, wie lieb du ihn hast.“ Eine kleine Pause entsteht, in der wir beide unseren Gedanken nachhängen. Die nächsten Worte wähle ich mit Bedacht: „Ich kann mir vorstellen, dass es schlimm für dich war, aber vielleicht auch ein kleines bisschen schön?“ Jens blickt mich ernst an und dann – endlich – lächelt der Junge zum ersten Mal an diesem schrecklichen Tag. „Ja, das war auch schön. Ich bin ganz still liegengeblieben und habe meinen Kopf auf Papas Brust gelegt.“ Ich schlucke den Kloß in meinem Hals sofort herunter und gestatte nicht das kleinste Bisschen Traurigkeit, als ich Jens ins Gesicht blicke und anlächle: „Du bist klasse! Schön, dass du bei uns bist!“

Im Laufe des Tages glättet sich die große Falte auf seiner Stirn mehr und mehr. Die Ringe unter Jens Augen zeugen von einer langen Nacht ohne Trost, aber sein Blick klart auf und ich bin froh darüber, dass die Mutter ihn heute hat gehen lassen und ihm so eine Auszeit von der Trauer ermöglicht. Die nächsten Tage, Wochen, Monate, ja, Jahre werden schlimm werden. Beim Picknick wird er mit Leckereien und Aufmerksamkeit überschüttet und ich sehe ihm an, wie gut es ihm tut, mit seinen Klassenkameraden in der unbeschwerten Ernsthaftigkeit, die Kindern eigen ist, über das Unaussprechliche zu reden. Die Sonne wärmt uns, niemand weint und für einen Moment scheinen die Schatten gebannt. Wir stehen in der Papiermühle am Schöpfbecken, als Jens mir mitteilt, wann die Trauerfeier stattfindet. „Kommen Sie auch?“, fragt er leichthin, aber ich bemerke doch den versteckten Unterton. In den letzten Monaten hat der Junge gelernt, seine Gefühle gut zu verpacken, um seiner Mutter nicht noch mehr Kummer zu bereiten. „Natürlich!“, versichere ich ihm mit einem Lächeln, „Ich will Papa doch auch Tschüss sagen. Aber…“, jetzt furche ich die Stirn etwas, denn schlussendlich ist es doch der Humor, auf dem wir uns treffen können, „ich lege mich besser nicht daneben, oder?“ Jens platzt mit einem lauten Lachen heraus und schaut mich an, als hätte ich etwas wirklich, wirklich Verrücktes gesagt.

„Haha, das wäre aber komisch, Papa liegt doch in einem Sarg, Frau Weh!“

Radiowerbung

Lieder gesungen, die Kreide geschwungen.

Mathe gelehrt, Schulhof gekehrt.

Eltern beraten, unter Blicken gebraten.

Kaffee getrunken, Kindern gewunken.

Müll eingesammelt, Hefte verbammelt.

Schulrecht studiert, fieses Frühstück probiert.

Puschi getötet, auf Tröten geflötet.

Geschichten gelesen, im Schulamt gewesen.

Tests korrigiert, Klassenbuch geführt.

Auf Pause verzichtet, Prioritäten gewichtet.

Konferenzengenerve, Schneeballgewerfe.

Regeln verteilt, zum Bus geeilt.

Ausflug zum Zoo, wo ist das Klo?

Geburtstag gefeiert, im Schulflur gereihert.

Lappen gesucht, leise geflucht.

Aufsicht geführt, im Kleister gerührt.

Laternen kleben, Zuspruch geben.

Auch mal geschimpft, leider nicht gegen Läuse geimpft.

Ganz viel gemacht, trotzdem gelacht! (ätsch!)

 

Erleben Sie die Poesie der Primarstufe. Mit Germanwings.

Manchmal möchte ich auch einfach mal ganz weit wegfliegen!

Mitmachaktion: 5 Dinge oder mehr*

Es gibt ja soviel, was man nicht weiß, wenn man zum ersten Mal Mutter wird. Niemand sagt einem zum Beispiel, dass es wahnsinnig anstrengend ist, wenn das Kind nicht durchschläft. Dass auch die Bäuerchen des eigenen Babys einfach nur fies stinken, wenn sie auf der Kleidung antrocknen. Oder dass der positive Schwangerschaftstest in der Hand bereits das erste Warnzeichen darstellt, dass man den Kampf gegen die Schwerkraft auf kurz oder lang verlieren wird. All dies weiß man nicht. Und noch so vieles mehr.

Ich hätte mir in verschiedenen Lebenslagen einen Kurzratgeber gewünscht. Zum Beispiel: Sie haben ein Spuckbaby? Lesen Sie hier, auf welche Stoffe Sie bei Ihrer Oberbekleidung jetzt besser verzichten! Oder – als Ratgeber für Herrn Weh – 10 überlebenswichtige Sätze, die Sie einer übermüdeten Mutter niemals sagen sollten. Auch für das Kindergartenalter wäre das nicht schlecht. Gerne hätte ich diesen hier gehabt: 10 Standartfloskeln, die man parat haben sollte, wenn man vor allen anderen Müttern von der Erzieherin angesprochen wird. Ohne Beleidigungen!

Und natürlich wäre so ein Ratgeber auch für die Grundschule sinnvoll. Ich schließe hiermit also eine Lücke. Frau Weh, die Botschafterin für ein friedliches Miteinander zwischen Lehrerinnen und anderen Menschen erklärt jetzt mal, wie das so ist:

  1. Kinder, die ihr Pausenbrot (oder das Actimel, die Milchschnitte, das Kinder Pingui) vergessen haben, sind nicht akut vom Hungertod bedroht. Es ist nicht notwendig in den Unterricht zu platzen, um die gut gefüllte Brotdose nachzubringen, das Kind mehrfach zu küssen und schnell noch ein paar Verabredungstermine mit anderen Kindern zu vereinbaren.
  2. Kinder, die ohne Sportzeug zum Sportuntericht kommen, kriegen einen Anraunzer und sitzen auf der Bank. Seelische Schäden resultieren hieraus nur sehr selten. Mit einem erbosten Anruf bei der Schulaufsicht erreicht man in der Regel nichts. Sich deswegen an die Presse zu wenden, ist… unnötig.
  3. Dreckige Kinder sind glückliche Kinder. Es gibt einen guten Grund, warum weiße Tüllröckchen niemals in die engere Auswahl für eine Schuluniform kämen. Auch Löcher in Kniehöhe und im Knie selber können während und nach einer Pause vorkommen, führen meistens in das Kämmerchen des Hausmeisters, aber nicht ins Grab.
  4. Einmalig vergessene oder nicht notierte Hausaufgaben sind niemals und unter keinen Umständen ein Grund bei der Klassenlehrerin anzurufen. Und wo man gerade schon mal am Telefon ist, …! Nein, das kommt nicht gut. Man könnte es stattdessen durchaus bei einem Klassenkameraden versuchen. Vielleicht hat der ja aufgepasst.
  5. Kinder – auch wenn sie unser elterlicher Augapfel, der Sinn unseres Seins und die Liebe unseres Lebens sind – sind manchmal Monster. Sie streiten. Sie stinken. Sie wären heiße Kandidaten für einen Flug ins All ohne Rückticket. Seien Sie entspannt, das ist normal. Und es geht auch wieder vorbei.

Was sind eure High Five der Dinge, die mal gesagt werden sollten? Was möchtet ihr Eltern vor, während oder auch nach der Einschulung so richtig gerne einmal rückmelden? Oder an die Eltern: was ist so typisch (Grund-)Schule, dass es schon weh tut? Wann würdet ihr die Grundschullehrerin eures Vertrauens gerne einmal fragen, ob sie das, was sie da tut, wirklich ernst meint?

Lasst mich teilhaben an euren Lieblingsszenarien schulischer Wonnen, ich freue mich auf Rückmeldungen… 🙂

*wegen denen man niemals bei einer Lehrerin anrufen sollte

Frühstücksgespräch

So oder ähnlich jeden Morgen bei Familie Weh:

Frau Weh (bereits im Arbeitsmodus) verteilt Abschiedsküsse, Aufträge und/oder letzte Ermahnungen an die Familienmitglieder.

Miniweh (bester Laune) sitzt im Hochstuhl und verteilt Marmelade: Mama Sule? Ja? Wieda? Is winte, ja? Mama, Tuss deben!*

mi.gro. Wehwehchen (müde und irgendwie missmutig): Wieviele Stunden hast du heute? Kommst du normal, Mama?

Herr Weh (abgeklärt und sinnierend): Die Mama kommt nie normal aus der Schule.

 

* Übersetzung für Leser ohne Kleinkinderfahrung: Mama, fährst du in die Schule? Ja? Schon wieder? Ich winke, ja? Mama, gib mir einen Kuss!

Dick und Doof

In der großen Pause gab es Aufruhr. Wutentbrannt stürmen die Zweitklässler nach dem Klingeln zu mir: Der hat und… der auch… und dann… aber ich habe… und ich… und dann war der ganz alleine und alle anderen… hat Dicker zu ihm gesagt…

Die beiden Streithähne stehen weit auseinander. Beide zittern noch vor Aufregung und Tränen sind auch zu sehen. Die Klasse hat sich in zwei Lager gespalten. Beide Seiten brüllen sich an. Immerhin fliegt – von einigen nicht sehr schmeichelhaften Ausdrücken abgesehen – nichts handfesteres von einer Gruppe zur anderen. Es dauert einen Moment, bis ich sie einigermaßen geordnet in der Reihe und die Treppe hoch ins Klassenzimmer geschafft habe. Dass sofortiges Reden hier nichts bringt, ist klar ersichtlich. (Wie fast immer unterstehe ich einem gewissen Zeitdruck. Ich seufze innerlich, allein, was nützt es?) Also drücke ich Tom2 und Justin einen Zettel in die Hand mit der Aufforderung aufzuschreiben, wie sie sich gerade fühlen. Die aufgeregten Gemüter der anderen beruhige ich mit der kurzen Ansage, dass wir nach dem Wochenbericht reden.

„Aber Frau Weh! Der Tom2…!“

„NACH dem Wochenbericht!“ donnere ich und schieße einen Frau Weh Blick für spezielle Momente in die meuternde Ecke. Die Zweitklässler beruhigen sich langsam. Manch einer schreibt sich die Aufregung von der Seele.

Als die Wochenberichte fertig sind, treffen wir uns im Sitzkreis. Auch die beiden Zankäpfel haben sich zu uns gesetzt. Mit größtmöglichem Abstand zueinander. Wir singen. (Wenn nichts hilft, hilft singen!)

Am Montag spielt der Luca Fußball…

Nachdenklich schaue ich sie mir an, die Zweitklässler. Seit ich sie übernommen habe, impfe ich ihnen Gemeinschaftsgefühl und Empathie ein. Teilweise in homöopathischen Dosen.

…spielt der Luca mit seinen Freunden Fußball

Es hat sich schon viel getan in den letzten Monaten. Sie haben ein zartes Gespür für Unrecht entwickelt. Außerdem begreifen sie sich zwischendurch als Gruppe, besonders dann, wenn ich sie auf ein Spielchen herausfordere. Nur verlieren können sie noch gar nicht. Das liegt vermutlich an ihrer recht ausgeprägten Emotionalität und der noch nicht abgelegten Egozentrik einiger. Vor mir sitzt die emotionale Ursuppe der Menschheit in ihrer gesamten Bandbreite. Brodelnd, blubbernd und manchmal leicht schwefelig riechend.

…keiner sagt, du musst, keiner sagt, du sollst! Luca nimmt sich Zeit…

Ich nehme mir dann auch mal Zeit (obwohl ich sie eigentlich nicht habe),  greife die beiden Zettel und lese vor:

„Ich war ganz alleine und alle sind hinter mir her gewesen. Ich habe Angst gehabt und keiner hat mir geholfen.“

Die Zweitklässler sind still. Dann melden sich einige. Noch ein paar mehr Finger schnellen hoch.

Es ist schrecklich, wenn man ganz allein ist…Auch, wenn man eigentlich gar nicht alleine ist… Aber wenn man sich so fühlt!…Angst haben ist doof…Ich habe immer Angst, wenn ich alleine im Dunkeln bin…Ich habe NIE Angst! Ich habe Fluch der Karibik gesehen, alle Teile, das war gar nicht schlimm!…Der ist ab 12, den darfst du gar nicht sehen!…

Bevor die FSK-Diskussion ausufert, lese ich den zweiten Zettel vor: „Auf einmal hat der Justin einfach zu mir gesagt, dass ich ein fettes Ferkel bin und das war so gemein. Dann habe ich geweint.“

Das ist gemein, der Tom2 kann ja gar nichts dafür, dass er so dick ist!…Man darf keinen blöd anreden, nur weil er nicht so…na eben nicht so ist wie die anderen…Das war ziemlich doof vom Justin, da mussten wir den Tom2 doch verteidigen…

Es geht noch eine Weile hin und her. Die beiden Streithähne hören aufmerksam zu bis plötzlich Justin zu kirchern anfängt.

„Justin?“

„Frau Weh, das ist so wie in dem Film, den ich mal gesehen habe und der war ohne Farbe und mit zwei Leuten dabei und die waren wie wir: dick und doof.“

Ich erstarre innerlich. Oh nicht doch! Verdammt, alle zarten Triebe der Versöhnung roh gekappt. Ich schaue schnell in die andere Ecke, getrieben von bösen Vorahnungen.

Dort sitzt Tom2 und grinst über beide Pausbacken: „Ja, doof bist du wirklich!“

Mad World

Ein ruhiger Tag heute. Montags habe ich zwischendurch eine Freistunde und die CrazyFunkyChicken sind schon in der wohlverdienten Winterpause, also war das Unterrichtspensum überschaubar. Die Zweitklässler sind gar nicht mal so aufgedreht wie es das nahende Weihnachtsfest vermuten ließe. Das Wochenende war schön. Warum also bin ich gerade so unzufrieden?

Ich komme bei Lennox nicht weiter. Letzte Woche kam er bei Regenwetter mit völlig durchnässten Schuhen in die Schule. Er hat nur dieses Paar, das nächste bekommt er zu Weihnachten. Es sind immer Halbschuhe, Winterstiefel gibt es nicht. Die letztjährigen Winterstiefel des mittelgroßen Wehwehchens, die ich ihm heute früh zum Anprobieren gegeben habe, passen. Und gefallen ihm auch. Mitnehmen wollte er sie trotzdem nicht. Stolz? Angst? Später am Vormittag hat er sich dann übel mit Tom2 angelegt und sich in meinen Arm verkrallt, als ich die beiden getrennt habe. Diese Aggressionsschübe hat er regelmäßig. Kontrolle gleich null. Er agiert wie ein Kleinkind, das voller Wut das Feuerwehrauto gegen die Wand hämmert. Der Psychologe sagt irgendwas von Verbleib auf frühkindlicher Phase. Der Mann vom Jugendamt sagt etwas von schwierigen Familienstrukturen. Ich sage „Du lässt mich auf der Stelle los!“ und fühle mich hilflos.

Auf den Hund gekommen

Pausenaufsicht. Malte aus der 4b kommt auf mich zugestürmt. Er reißt die Augen auf und verkündet mit gequältem Gesichtsausdruck:

„Frau Weh, ich hab eine ganz schlimme Hundeallergie!“

„Ok, Malte. Aber ihr habt keinen Hund.“

„Stimmt.“

Stille

„Aber ich muss eine Jacke aus HUNDEFELL anziehen.“

„Aus Hundefell? Sicher?“

„Ja! … nee. Ich zieh beim Theater für die Weihnachtsfeier eine Jacke vom Dennis an und dem sein Nachbar, der hat einen Hund. Und der… hat schonmal auf der Jacke draufgelegen.“

Die andere Seite

Familie Weh beim Samstagsfrühstück.

Das Miniweh klettert mit einem laut vernehmlichen „Mama, Arm!“ aus seinem Stuhl. Dabei kippt es seinen Becher (glücklicherweise mit Minerwalwasser und Strohhalm gefüllt) um. Herr Weh wischt routiniert mit dem bereitliegenden Tuch auf. Eine undefinierbare Mischung aus Krümeln, Klebematsch und Wasser verteilt sich über der Tischplatte. „Oh, Wassa da!“ empört sich das Miniweh und stapft mit den Füßen durch die Lache, die sich am Boden gebildet hat. Herr Weh schimpft, woraufhin das Miniweh fröhlich und Fußtapsen hinterlassend seinen Weg um den Tisch herum aufnimmt. Ich trinke Kaffee, streiche ein Honigbrot und denke laut über die Wochenendeinkäufe nach. Die Frage, ob wir Huhn oder Fisch zum Salat nehmen, ist noch nicht geklärt. Das mittelgroße Wehwehchen liest derweil hinterm Adventskranz versteckt die tägliche Kalendergeschichte vor und bedient sich der ihm und mir aus der täglichen Praxis gut bekannten Möglichkeit, im allgemeinen Aufruhr noch zu Beachtung zu gelangen: es erhebt die Stimme:

„Die kleine Elsbeth war ein glückliches Mädchen!“

Ich wäre ja für Hühnchen. Der Fischwagen ist schließlich freitags da und nicht samstag. Allerdings gab es gestern auch schon Geflügel. Das spräche mehr für Fisch.

„Sie lebte in einer großen Wohnung und hatte ein kleines Zimmer ganz für sich allein!!“

Das Miniweh erklettert meinen Schoß, patscht mir glucksend seine Marmeladenfingerchen ins Gesicht „Mama, Mini, Kuss!“ und presst sein Gesichtchen in das Honigbrot, das ich gerade zum Mund führen wollte. Hühnchen, wir bleiben bei Hühnchen. Mit einem beleidigten määääauhi springt die Familienkatze (flohfrei!) auf Herrn Wehs Schoß, der sie mit einem lauten „Verdammt, Herr Schmidt!“ herunterwirft. Dabei stößt er an den Tisch. Die Kerzen auf dem Adventskranz flackern.

„Außerdem hatte sie ein kleines Fräulein, das sich nur um sie kümmerte!!!“

So ein kleines Fräulein wäre schon nett. Wir hatten mal eine Putzfrau. Das waren goldene Zeiten. Zumindest bis die ganze Bande dann wieder zu Hause eintrudelte und alles in den Ursprungszustand versetzte.

Herr Weh seufzt. „Wie hältst du das eigentlich aus?“

„Wieso?“, ich wische gerade Grabbel und Honig vom Miniweh und denke an den Wahnsinn, der manchmal die Zweiklässlerbande erfasst, „ist doch alles ganz entspannt hier.“