Mitten im Leben

Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen.

Er hält sich nicht an Pläne, er trifft keine Absprachen. Er geschieht.

Betroffen steht die kleine Schar Erstklässler im Kreis um die tote Spitzmaus herum. Klein liegt sie da auf dem Schulhof, geradezu winzig und still, sehr still. Eigentlich wollten wir für eine Förderstunde nur kurz das Gebäude wechseln. Doch an Normalität ist nun nicht mehr zu denken. Zu plötzlich stört der Tod die Kindern so eigene Emsigkeit.

„Vielleicht schläft sie ja nur?“, macht Lyanne sich selber Mut.

„Aber sie hat die Augen auf und da an der Schnauze ist auch Blut!“ Theo ist von der vollzogenen Endlichkeit des Mäuselebens überzeugt. Fachmännisch weist er auf die Indizien hin.

„Die arme, arme Maus!“, meint Dilara kummervoll und macht ein trauriges Gesicht. Die anderen Erstklässler nicken betroffen. So ein kleines Mäuschen und so tot. Warum bloß?

Diese Frage stelle ich mir auch. Ich friere. Mittwochs habe ich einen Schultag ganz ohne Pausenaufsichten. Anlassgemäß feiere ich diesen Tag immer mit dünner Kleidung. Mir zieht eine Gänsehaut die bestrumpfhosten Beine hinauf und eigentlich wollte ich doch im Warmen sitzen und die Sache mit der Silbensynthese noch einmal gezielt angehen. Jetzt aber blicke ich auf die tote Maus und die ergriffenen Erstklässler und als erfahrene Lehrkraft weiß ich natürlich, dass daraus heute nichts mehr werden wird. Ich seufze und ziehe den Mantel enger. Es ist absehbar, was nun passieren wird.

„Wir müssen sie begraben!“, sind sich die Erstklässler da auch schon einig und geraten nach meinem Zustimmung signalisierenden Nicken, auch wenn es nur halbherzig war, in freudvolle Geschäftigkeit. Sie teilen die Zuständigkeiten ein und tun, was getan werden muss. Einige suchen ein schönes Plätzchen (geschützt unter Büschen, aber etwas sonnig, die kleine Maus liebte bestimmt die Sonne, alle Mäuse lieben Sonne!), andere sammeln Herbstblätter in leuchtenden Farben (denn bunte Farben, da ist man sich einig, sind sehr wichtig bei einem Begräbnis und in Mexico oder woanders, da feiert man, wenn einer tot ist, mit gelben und orangenen Blumen, das hat Can am Wochenende in der Vorschau im Kino gesehen. Da war so ein Hund, der hat einen Knochen fast gefressen und dann war das aber der Knochen von einem toten Skelett und der Hund ist in einen Kaktus gefallen. Oder in ganz viele. Aber die Blumen waren orange!) und Theo und Ebru holen Sandeimer und Schaufel, denn ein Loch muss auch noch ausgehoben werden. Weder die novemberschwere Erde noch die Tatsache, dass jedes Kind einmal an die Schaufel möchte, lassen das Unterfangen zu schnell enden und so vergeht eine fröstelnde Weile und noch eine.

„Wie kriegen wir die Maus da jetzt rein? Tote Tiere darf man nicht anfassen, die können Tollwut haben.“

Ein bisschen hin und her geht es nun, denn Dilara weiß nicht, was Tollwut ist und Can verwechselt Tollwut mit der Zombieapokalypse aus dem voll gruseligen, aber coolen PC-Spiel, das sein großer Bruder ihm gezeigt hat und wo alle immer voll soooo langgehen und Geräusche machen. Doch Theo weiß um die Würde des Anlasses, schickt nach einem Kehrblech und sorgt für Ruhe. In schweigender Übereinkunft teilt ihm die Gruppe die Rolle des Bestatters zu und mit einem kleinen Plopp landet das Mäuschen in seinem Grab. Gebettet auf Herbstlaub und etwas Butterkeks, denn Mäuse – und wir alle wissen doch darum! – lieben Butterkekse. Liebevoll zugedeckt von einem Papiertaschentuch, das sogar fast noch ganz sauber ist. Die Erstklässler werden still, denn nun – so wird ihnen bewusst – müssen Worte gesprochen werden. Wichtige Worte, die den Abschied fassbar machen sollen und doch erträglich. Große Worte voller Traurigkeit über verpasste Chancen und ein Mäuseleben, dass doch viel zu kurz war.

„Auf Wiedersehen, kleine Maus. Wir haben uns gerade erst kennengelernt, aber du warst bestimmt ganz prima zu deinen vielen Mäusekindern! Und die sind jetzt sicher schon groß und passen auf sich selber auf. Du darfst jetzt hier ganz lange schlafen und du kommst bestimmt in den Mäusehimmel und der ist voller Käse!“

„Wir müssen auch etwas singen!“, weiß Theo. Alle nicken zustimmend. Sie entscheiden sich für das Martinslied, denn der Mantel, meint Leon, deckt ja den Bettler zu so wie die Herbstblätter die kleine Maus. Und ein anderes Lied wissen sie gerade auch nicht. Die hellen Kinderstimmen klingen durch die kalte Luft und ich weiß gar nicht, warum, aber plötzlich muss ich ein bisschen schlucken und ein bisschen hüsteln und vermutlich habe ich mir doch eine Erkältung oder so etwas in der Art eingefangen. Ist ja auch kein Wunder! Die Kinder nicken mir wissend zu und eine kleine Hand schiebt sich in meine. Weil der Gesang so schön ist auf dem leeren Schulhof und auch so viel Spaß macht, stimmen die Erstklässler gleich noch das Lied von der Weihnachtsbäckerei an. Mit in die Hände klatschen und laut „Du Schwein!“ rufen, denn das ist ja das Beste überhaupt an dem Lied. Dann wird gekichert und gelacht und „Tschüss, du Mäuschen!“ gerufen und noch ein bisschen mit Herbstlaub geworfen, wo wir schon hier draußen sind.

Mitten im Tod sind wir vom Leben umfangen.

Es hält sich nicht an Pläne, es trifft keine Absprachen. Es geschieht.

Jens

Es hat gerade zur großen Pause geklingelt, als Jens von seiner weinenden Oma aus der Schule geholt wird. Die Nachricht vom Tod seines Vaters trifft uns nicht unerwartet, aber plötzlich. Den Kampf gegen den Krebs konnte er nicht gewinnen.

Als ich den Viertklässlern berichte, warum Jens so überstürzt aus der Schule abgeholt wurde, sind sie so regungslos, dass die Stille fast schmerzt. Bei nicht wenigen sehe ich Tränen und auch ich bin von einer Traurigkeit erfüllt, die Gedanken und Handlungen lähmen will.

„Was ist mit unserem Ausflug morgen?“, platzt Schmitti da heraus. Seit Wochen freuen sich die Kinder auf den Besuch im Freilichtmuseum, wo wir unser Wissen über Umweltschutz und Recycling vertiefen, Papier schöpfen, picknicken und einen ganzen Tag lang Spaß haben wollen. „Kommt Jens da mit?“

„Das weiß ich nicht, Schmitti.“, antworte ich und schüttle leicht den Kopf. „Das wird die Familie entscheiden. Vielleicht möchte er auch lieber zu Hause bleiben.“

Am nächsten Tag werde ich am wartenden Bus von Kindern und Müttern belagert. Die Nachricht hat sich in Windeseile herumgesprochen. Alle sind bestürzt und wollen Infos, die ich nicht habe und nicht geben kann. Schon scheuche ich die Viertklässler in den Bus, als ich aus dem Augenwinkel Jens mit seiner Mutter bemerke, die ein Stück von der Gruppe entfernt stehenbleiben. Ich gehe auf die Frau zu, die wie eine gebrochene Hülle ihrer selbst vor mir steht, und greife stumm nach ihren Händen, hoffend, dass meine Blicke ausdrücken, was ich nicht in Worte zu fassen vermag. „Es tut mir so leid“, bringe ich hervor und sie blickt unter Tränen auf. „Ich würde gerne etwas Tröstendes sagen, aber ich weiß, ich kann nur mit Ihnen weinen.“ „Passen Sie gut auf meinen Jungen auf“, bittet sie mich und blickt voller Kummer auf ihren Sohn. Ich nicke und lege Jens den Arm um die Schulter. „Ich rufe an, wenn wir wieder da sind, dann brauchen Sie nicht mit den anderen Müttern auf uns warten.“ Sie scheint erleichtert und streicht ihrem Sohn zum Abschied über den Kopf.

Ich führe Jens, der müde und abgekämpft aussieht, an den betroffen zu uns herüberschauenden Müttern vorbei in den Bus: „Komm, die anderen haben sich bestimmt schon alle mit Kaugummis versorgt. Schauen wir mal, ob wir auch noch einen abkriegen.“ Er nickt zaghaft und freut sich, als die Viertklässler sofort von ihren Sitzen aufspringen, sich um ihn scharen und Kaugummis, Gummibärchen, eine Schulter zum Ausweinen, einen Nachbarplatz zum Sitzen während der Fahrt anbieten. Ich bin erleichtert, dass die Gruppe ihn sofort umschließt und aufnimmt und drehe mich noch einmal zu den Müttern an der Haltestelle um. „Genießen Sie den Tag, wir kommen wieder!“

Jens sucht meine Nähe und so kommen wir während der Fahrt ins Gespräch. „Erzähl doch mal, wie war es denn gestern für dich?“, ich wähle bewusst einen leichten Tonfall, als ich mich zu ihm drehe. Er scheint froh über die Frage und sofort sprudelt es aus ihm heraus: Wie alle Familienmitglieder in dem engen Krankenzimmer Abschied genommen haben, dass die ganze Zeit über geweint wurde und dass er über eine Stunde neben Papa auf dem Bett lag und ihn einfach nicht loslassen konnte. Aufmerksam höre ich ihm zu, frage an manchen Stellen nach und bestätige, wonach er sucht – die Gewissheit, sich genau richtig von seinem Vater verabschiedet zu haben. „Das hast du prima gemacht, Jens! Du hast Papa gezeigt, wie lieb du ihn hast.“ Eine kleine Pause entsteht, in der wir beide unseren Gedanken nachhängen. Die nächsten Worte wähle ich mit Bedacht: „Ich kann mir vorstellen, dass es schlimm für dich war, aber vielleicht auch ein kleines bisschen schön?“ Jens blickt mich ernst an und dann – endlich – lächelt der Junge zum ersten Mal an diesem schrecklichen Tag. „Ja, das war auch schön. Ich bin ganz still liegengeblieben und habe meinen Kopf auf Papas Brust gelegt.“ Ich schlucke den Kloß in meinem Hals sofort herunter und gestatte nicht das kleinste Bisschen Traurigkeit, als ich Jens ins Gesicht blicke und anlächle: „Du bist klasse! Schön, dass du bei uns bist!“

Im Laufe des Tages glättet sich die große Falte auf seiner Stirn mehr und mehr. Die Ringe unter Jens Augen zeugen von einer langen Nacht ohne Trost, aber sein Blick klart auf und ich bin froh darüber, dass die Mutter ihn heute hat gehen lassen und ihm so eine Auszeit von der Trauer ermöglicht. Die nächsten Tage, Wochen, Monate, ja, Jahre werden schlimm werden. Beim Picknick wird er mit Leckereien und Aufmerksamkeit überschüttet und ich sehe ihm an, wie gut es ihm tut, mit seinen Klassenkameraden in der unbeschwerten Ernsthaftigkeit, die Kindern eigen ist, über das Unaussprechliche zu reden. Die Sonne wärmt uns, niemand weint und für einen Moment scheinen die Schatten gebannt. Wir stehen in der Papiermühle am Schöpfbecken, als Jens mir mitteilt, wann die Trauerfeier stattfindet. „Kommen Sie auch?“, fragt er leichthin, aber ich bemerke doch den versteckten Unterton. In den letzten Monaten hat der Junge gelernt, seine Gefühle gut zu verpacken, um seiner Mutter nicht noch mehr Kummer zu bereiten. „Natürlich!“, versichere ich ihm mit einem Lächeln, „Ich will Papa doch auch Tschüss sagen. Aber…“, jetzt furche ich die Stirn etwas, denn schlussendlich ist es doch der Humor, auf dem wir uns treffen können, „ich lege mich besser nicht daneben, oder?“ Jens platzt mit einem lauten Lachen heraus und schaut mich an, als hätte ich etwas wirklich, wirklich Verrücktes gesagt.

„Haha, das wäre aber komisch, Papa liegt doch in einem Sarg, Frau Weh!“