In der großen Pause gab es Aufruhr. Wutentbrannt stürmen die Zweitklässler nach dem Klingeln zu mir: Der hat und… der auch… und dann… aber ich habe… und ich… und dann war der ganz alleine und alle anderen… hat Dicker zu ihm gesagt…
Die beiden Streithähne stehen weit auseinander. Beide zittern noch vor Aufregung und Tränen sind auch zu sehen. Die Klasse hat sich in zwei Lager gespalten. Beide Seiten brüllen sich an. Immerhin fliegt – von einigen nicht sehr schmeichelhaften Ausdrücken abgesehen – nichts handfesteres von einer Gruppe zur anderen. Es dauert einen Moment, bis ich sie einigermaßen geordnet in der Reihe und die Treppe hoch ins Klassenzimmer geschafft habe. Dass sofortiges Reden hier nichts bringt, ist klar ersichtlich. (Wie fast immer unterstehe ich einem gewissen Zeitdruck. Ich seufze innerlich, allein, was nützt es?) Also drücke ich Tom2 und Justin einen Zettel in die Hand mit der Aufforderung aufzuschreiben, wie sie sich gerade fühlen. Die aufgeregten Gemüter der anderen beruhige ich mit der kurzen Ansage, dass wir nach dem Wochenbericht reden.
„Aber Frau Weh! Der Tom2…!“
„NACH dem Wochenbericht!“ donnere ich und schieße einen Frau Weh Blick für spezielle Momente in die meuternde Ecke. Die Zweitklässler beruhigen sich langsam. Manch einer schreibt sich die Aufregung von der Seele.
Als die Wochenberichte fertig sind, treffen wir uns im Sitzkreis. Auch die beiden Zankäpfel haben sich zu uns gesetzt. Mit größtmöglichem Abstand zueinander. Wir singen. (Wenn nichts hilft, hilft singen!)
Am Montag spielt der Luca Fußball…
Nachdenklich schaue ich sie mir an, die Zweitklässler. Seit ich sie übernommen habe, impfe ich ihnen Gemeinschaftsgefühl und Empathie ein. Teilweise in homöopathischen Dosen.
…spielt der Luca mit seinen Freunden Fußball
Es hat sich schon viel getan in den letzten Monaten. Sie haben ein zartes Gespür für Unrecht entwickelt. Außerdem begreifen sie sich zwischendurch als Gruppe, besonders dann, wenn ich sie auf ein Spielchen herausfordere. Nur verlieren können sie noch gar nicht. Das liegt vermutlich an ihrer recht ausgeprägten Emotionalität und der noch nicht abgelegten Egozentrik einiger. Vor mir sitzt die emotionale Ursuppe der Menschheit in ihrer gesamten Bandbreite. Brodelnd, blubbernd und manchmal leicht schwefelig riechend.
…keiner sagt, du musst, keiner sagt, du sollst! Luca nimmt sich Zeit…
Ich nehme mir dann auch mal Zeit (obwohl ich sie eigentlich nicht habe), greife die beiden Zettel und lese vor:
„Ich war ganz alleine und alle sind hinter mir her gewesen. Ich habe Angst gehabt und keiner hat mir geholfen.“
Die Zweitklässler sind still. Dann melden sich einige. Noch ein paar mehr Finger schnellen hoch.
Es ist schrecklich, wenn man ganz allein ist…Auch, wenn man eigentlich gar nicht alleine ist… Aber wenn man sich so fühlt!…Angst haben ist doof…Ich habe immer Angst, wenn ich alleine im Dunkeln bin…Ich habe NIE Angst! Ich habe Fluch der Karibik gesehen, alle Teile, das war gar nicht schlimm!…Der ist ab 12, den darfst du gar nicht sehen!…
Bevor die FSK-Diskussion ausufert, lese ich den zweiten Zettel vor: „Auf einmal hat der Justin einfach zu mir gesagt, dass ich ein fettes Ferkel bin und das war so gemein. Dann habe ich geweint.“
Das ist gemein, der Tom2 kann ja gar nichts dafür, dass er so dick ist!…Man darf keinen blöd anreden, nur weil er nicht so…na eben nicht so ist wie die anderen…Das war ziemlich doof vom Justin, da mussten wir den Tom2 doch verteidigen…
Es geht noch eine Weile hin und her. Die beiden Streithähne hören aufmerksam zu bis plötzlich Justin zu kirchern anfängt.
„Justin?“
„Frau Weh, das ist so wie in dem Film, den ich mal gesehen habe und der war ohne Farbe und mit zwei Leuten dabei und die waren wie wir: dick und doof.“
Ich erstarre innerlich. Oh nicht doch! Verdammt, alle zarten Triebe der Versöhnung roh gekappt. Ich schaue schnell in die andere Ecke, getrieben von bösen Vorahnungen.
Dort sitzt Tom2 und grinst über beide Pausbacken: „Ja, doof bist du wirklich!“