„Die haben WAS!?“
Frau Schmitz-Hahnenkamps Entrüstung ob der ungeheuerlichen Vorwürfe der Drittklässler ist so gewaltig, dass ich Sorge habe mitsamt des Lehrerzimmermobiliars davon hinweggeschwemmt zu werden. Durch den Flur, das Treppenhaus hinab, auf den Schulhof und ab in den Gulli. Wortungetüme prasseln wie ein Unwetter auf mich herab. Und das ist es, ein Unwetter, ach, entfesselte Naturgewalt! Wie konnten die Drittklässler ihre Zuneigung, ihr Engagement, ihren Einsatz so falsch bewerten? Jedes ihrer Wörter trägt ein demonstratives Ausrufezeichen mit sich spazieren und gewandet sich mit dem Kleid der zu Unrecht Angeklagten. Vor Zorn des gerade erfahrenen Undanks bebt ihre Stimme, als sie mit Bitterleichenmiene zum Todesstoß ihrer Suade ansetzt:
„Und ich habe das doch alles nur für DICH getan, Frau Weh! Damit du dich in Ruhe zu Hause erholen kannst während deiner Krankheit. Es wäre doch gut, so dachte ich, wenn ich mir die Zeit nehme, die Hefte deiner Klasse einmal in Ruhe durchzusehen und zu korrigieren. Es ist ja so verständlich, dass du mit deinen eigenen Kindern, deinem Mann und allem gar nicht dazu kommst. Schließlich profitiert deine Klasse doch davon, dass ich diese Möglichkeit wahrnehme. Dann sehen die Eltern auch, dass hier korrekt gearbeitet wird.“
Sie holt Luft. Ich auch.
„Aber es war ja klar, dass deine Klasse ein Problem haben würde mit meiner konsequenten und strengen Art. Du bist ja so anders. Nein, ich will das ja gar nicht abwerten…! Aber es ist ja schon so, dass ich meine Klassen bisher immer sehr erfolgreich auf das Gymnasium vorbereitet habe. Da kommt man mit zu viel Nettigkeit ja nicht weit. Und DEINE Klasse hat sich ja auch sehr wohl gefühlt bei mir. Sie fanden es so schön ruhig!“
Frau Schmitz-Hahnenkamp schaut mir mit stechendem Blick in die Augen. Alles an ihr ist Vorwurf mit einer Garnitur aus erfahrungsbedingter Überheblichkeit verziert.
Mir liegen Dinge auf der Zunge. Es wäre ein Leichtes die Fassung zu verlieren und gleichermaßen Verletzendes auszusprechen. In meinem Kopf purzeln und ringen die Gedanken miteinander. Ich denke an das, was ich Herrn Weh, meinem Freund Marten in vielen Gesprächen, Frau Hattifnatte und nicht zuletzt mir selber versprochen habe: auf mich achtzugeben. Mich nicht fressen zu lassen von der unglaublichen Dreistigkeit anderer. Eine Grenze zu ziehen und diese fröhlich zu bewachen. Ich lege den Kopf ein bisschen schief und betrachte meine Kollegin aus dieser Perspektive. Plötzlich durchströmt mich die ungeheuer starke Gewissheit, dass ich niemals so werde. Niemals so werden kann!
Von Erleichterung durchflutet blicke ich Frau Schmitz-Hahnenkamp an: „Danke, dass du mir deine Sicht der Dinge mitgeteilt hast. Damit kann ich viel anfangen!“
Als ich meine Sachen packe und das Lehrerzimmer verlasse, zieht ein Lächeln über mein Gesicht. Auf der Treppe nach unten singe ich lauthals das Lied vom Gänseblümchen und freue mich auf meine Kinder, Herrn Weh und das alles.