Jammer, jammer, jammer

Es ist Montag und ich überlege, ob nun der Moment gekommen ist, an dem mich das Schulleben so kleinkriegt, dass ich hinschmeißen möchte, um – beispielsweise – Museumspädagogin, Vollzeitmutter oder Straßenmusikerin zu werden.

Glücklicherweise frage ich mich das in einer so zuverlässigen Regelmäßigkeit, dass ich aufgrund überstandener, vergangener Zweifel mit Fug und Recht behaupten kann, dass dem nicht so ist. Stattdessen handelt es sich meist um eine Art zyklisch wiederkehrender Unausgeglichenheit zwischen Ansprüchen (extrinsisch) und Idealvorstellungen (intrinsisch). Meist werden diese bedingt durch Schwankungen in der weiteren Lehrumgebung: Dies kann z.B. ein Wasserschaden im Klassenraum, ein krankheitsbedingt fehlender Hausmeister, aber auch eine arg fordernde Schulleitung oder helikopterisierende Elternteile sein.

Dieses Mal sind es einige Kolleginnen.

Das so unverblümt zu schreiben, kostet mich bereits Überwindung und fühlt sich ein bisschen an wie Nestbeschmutzen. Aber sollte ein Kollegium nicht eine Niederlassung des Miteinanders sein? Das Lehrerzimmer ein Ort der offenen Tür und des offenen Ohrs? So ist es zumindest in meiner (zugegeben) idealisierten Vorstellung. Sehr gerne dürfen dort politisch inkorrekte Witze erzählt oder gelegentlich mit Kopf und Faust auf den Tisch gehauen werden. Wünschenswerterweise liegt Schokolade auf dem Tisch. Oder wenigstens etwas angeditschtes Obst. Es darf über überzogene Ansprüche und realitätsferne Schulpolitik hergezogen werden. Über fehlende Ausstattung, mangelnde Unterstützung oder marode Klassenräume. Was aber gar nicht geht, ist das ständige Gejammer über Schüler und Eltern. Nee, echt jetzt!

Man möge mich bitte nicht falsch verstehen, auch ich habe in dieser Semi-Öffentlichkeit Jason Jayden aus der 4b schon einen kleinen Seuchenvogel und MamaHelene aus der 1a ein elterliches Breitbanddesaster genannt. Meist verbunden mit theatralischem Augenaufschlag und raumgreifender Geste. Aber doch nicht immer! Täglich! In jeder Pause! Und doch ist es das Thema in unserem Lehrerzimmer. Der hat, die hat und dann wollen die Eltern auch noch einen Gesprächstermin! Einen GESPRÄCHSTERMIN! Mittendrin im Schuljahr! Hat man sowas schon gehört?

Ich möchte den Kolleginnen zurufen, sie mögen auf der Stelle das Jammern sein lassen und ihr Augenmerk auf all die schönen Momente und die Privilegien dieses Berufs werfen. Auf die vielfältigen Möglichkeiten zu gestalten und Einfluss zu nehmen. Auf die Sicherheit unserer Arbeit und die Freiräume, die wir vielfach so füllen können, wie wir es selber für richtig halten. Aber ich lasse es sein, denn ich kenne ja auch die Gegenseite: die Einschränkungen, den schier unendlichen Papierkram, die Anspannung, die Überforderung. Manchmal werden diese eben zu groß, um noch objektiv argumentieren zu können. Stattdessen erwische ich mich dabei, dass ich freiwillig zusätzliche Aufsichten für angeschlagene Kolleginnen übernehme. Nicht, dass der Schulhof eine konfliktärmere Zone wäre, nein …

… aber da kann ich so flauschige Ohrenschützer tragen.

 

 

Gespräch, Teil 2

Die Chefin schließt die Türe hinter mir und weist auf einen Stuhl. Im gleichen Moment taucht eine Erinnerung in meinem Kopf auf: Ich muss fünf oder sechs Jahre gewesen sein, als ich den ersten von vielen folgenden öffentlichen Auftritten hatte. Der Bürgermeister lud zum Empfang und ich umklammerte tapfer meine Blockflöte. Ob ich wegen des zweifelsohne vorhandenen Talentes oder einfach nur der niedlichen Zöpfe wegen auf die Bühne durfte, kann ich rückblickend nicht mehr beantworten. Meine Blockflötenlehrerin – wie immer stylisch in Leopardenleggings, es waren die 80er – bemerkte meine Nervosität, beugte sich zu mir herunter und raunte „Kopf nach oben, Blick geradeaus und lächeln, lächeln, lächeln!“. Dann schubste sie mich auf das Podest. An das Vorspiel selber habe ich keine Erinnerung mehr. Seltsam, dass mir das gerade jetzt einfällt, aber ich straffe automatisch die Schultern und hebe den Blick. „Was ist der Gesprächsanlass?“, frage ich und schaue der Chefin in die Augen.

„Ich hatte eine Unterhaltung mit Frau Tipps.“, erwidert die Chefin kühl. „Darin teilte sie mir mit, du hättest ein Problem mit deinem Team und dies sei ausschlaggebend für deinen Versetzungsantrag?“

„Wenn du mit meinem Team Frau Schmitz-Hahnenkamp und mich meinst, dann habe ich kein Problem. Es existiert nämlich nicht. Weder ein Team, noch ein Problem.“ Ich zucke die Achseln. Die Chefin schaut missbilligend und räuspert sich. Beides kann sie sehr überzeugend. Sie möchte die Gründe dargelegt bekommen. Ich habe das Bedürfnis etwas weiter auszuholen.

„Wir arbeiten jetzt seit mehr als 10 Jahren zusammen. Du kennst mich als engagierte und vor allem loyale Kollegin. Ich habe nie zu denen gehört, die alles abgenickt und hinter deinem Rücken zerrissen haben. Im Gegenteil habe ich Schwierigkeiten immer direkt angesprochen und nach geeigneten Lösungen gesucht.“

Die Chefin nickt und bestätigt dies.

„Auch als Lehrerrat habe ich mich, egal wie verfahren sich eine Situation dargestellt hat, immer um eine objektive Sicht und vor allem um eine gute Gesprächskultur bemüht.“ Obwohl ich das Gefühl habe, mich wie eine Milchkuh anzupreisen, fahre ich fort. „Kommunikationsprozesse, ja, auch schwierige, liegen mir und ich habe eine gute Menschenkenntnis. Ich bin in hohem Maße teamfähig und arbeite gerne mit den Kolleginnen zusammen.“

Der Chefin wird es langsam unbehaglich ob meines Redeschwalls. Sie lenkt ein: „Ja, das weiß ich doch und dafür schätze ich dich sehr!“

„Es liegt mir fern, negativ über eine Kollegin zu reden, die nicht anwesend ist. Ich werde das auch in diesem Falle nicht tun und hätte dieses Gespräch von mir aus nicht gesucht. Die Gründe für meinen Versetzungsantrag kennst du. Wir haben darüber gesprochen, dass ich aus familiären Gründen wohnortnah versetzt werden möchte und dass es an der Zeit für neue Erfahrungen und ein neues Schulumfeld ist. Tatsächlich – und auch das weißt du – trage ich den Gedanken an eine Versetzung schon ein paar Jahre mit mir herum.“

Auch an dieser Stelle nickt die Chefin wieder, möchte aber jetzt konkret wissen, ob es einen Zusammenhang zwischen der Teamkonstellation und meiner Entscheidung gebe. Ich wähle meine Worte mit Bedacht.

„Ich habe in den letzten 1,5 Jahren viel gelernt. Über mich, über dynamische Prozesse und über die Schwierigkeit menschlicher Kommunikation. Vielleicht habe ich sogar“, überlege ich, „in den letzten Jahren mehr darüber gelernt, als in den ganzen Jahren zuvor. Ganz sicher bin ich mir aber darin, dass ich mehr darüber erfahren habe, als ich je wollte. Und darin“, jetzt kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen, „dass die letzten Jahre auch für Frau Schmitz-Hahnenkamp nicht ganz so wie erwartet verliefen. Das werte ich durchaus positiv im Sinne der Schulentwicklung.“

Auch die Chefin kann ein Schmunzeln nicht verbergen. „Eigentlich“, räumt sie ein, „wollte ich dich nur fragen, ob es ein Problem gibt, bei dem ich dich unterstützen kann. Aber ich sehe, dass du die Situation gut im Griff hast.“ Sie entlässt mich seufzend. „Und danke für die überzeugende Darstellung deiner verbalen Fähigkeiten. Jetzt weiß ich wieder, warum ich dich so überaus ungerne gehen lasse.“

 

 

Gespräch, Teil 1

„Oh, Frau Weh, es tut mir so leid, ich habe Mist gebaut!“

Die weltbeste Sekretärin steht zerknirscht vor mir und schüttelt den Kopf. Sie hatte eine Auseinandersetzung mit der Chefin, was selten vorkommt, weil sie nicht von ungefähr die weltbeste Sekretärin ist. Aber manchmal reißt auch dem geduldigsten Herzstück der Schule der Geduldsfaden.

„Nachdem die Chefin Frau Schmitz-Hahnenkamp wieder über den grünen Klee gelobt hat, weil sie so schön im Lehrerzimmer den Tisch gewischt hat, hat sie mich tatsächlich gefragt, ob ich eine Ahnung hätte, warum die Kolleginnen derzeit mal wieder das Messer auf die werte Kollegin geschliffen haben. Da habe ich sie mal gefragt, ob sie nicht langsam Gefahr läuft, auf der gezielt ausgelegten Schleimspur auszurutschen.“

Ich staune die weltbeste Sekretärin mit offenem Mund an. Was für Töne!

„Ist doch wahr! Immer diese scheinheiligen Nettigkeiten, aber grundsätzlich mit Vorbehalt. Denn weißt du“, und nun regt sie sich so auf, dass sie ihren komfortablen Bürostuhl (auf dessen Besitz ich immer ein wenig neidisch bin) verlässt und im Büro auf- und abgeht, „im gleichen Atemzug, mit dem sie geflötet hat, wie gerne sie sich doch um das Lehrerzimmer kümmert, hat sie einfließen lassen, dass sich ja eigentlich Frau Mandel darum kümmern wollte. Immer dieses Hintenrum! Ehrlich, das geht gar nicht!“

Ich denke an all die missglückten Gespräche, die ich mit Frau Schmitz-Hahnenkamp geführt und nach denen ich mich mies gefühlt habe. An die vielen Male, die sie mir scheinbar einen Gefallen getan hatte, nur um dann hintenrum der Chefin mitzuteilen, wie überlastet ich sei. Halbe Infos, die sie zu unpassendem Zeitpunkt an die Eltern ausgegeben hat, um sich selbst in ein besseres Licht zu setzen. Gemeinsame Absprachen, die nicht eingehalten oder Klassenarbeiten, die plötzlich nach anderen Maßstäben korrigiert wurden. Hmm. Es stimmt, bei allem, was sie tut und sei es noch so freundlich gemeint, bleibt ein Geschmäckle.

„Und dann habe ich dich mit ins Gespräch gebracht. Ehrlich, es tut mir so leid!“

Noch immer weiß ich nicht, warum die weltbeste Sekretärin so geknickt ist und schaue sie abwartend an.

„Ich habe die Chefin gefragt, ob sie sich eigentlich mal überlegt hat, warum du wohl gerade jetzt die Schule wechseln willst.“

Upps. Ich schnappe nach Luft. „Das ist natürlich unschön.“ Ich nehme mir ein Stück Schokolade, die vermutlich nicht fit macht, aber hoffentlich ein wenig das flaue Gefühl vertreiben wird, das sich in meiner Magengrube ausbreitet.

„Ich weiß…“ Meine Gesprächspartnerin lässt sich geknickt auf den Stuhl fallen und seufzt. „Ich wollte dich nur informieren, damit du nicht aus allen Wolken fällst, falls die Chefin etwas sagt.“

„Ok.“ Ich nicke ihr zu. „Danke.“

Ich habe den Schultag fast geschafft, als ich der Chefin auf dem Flur begegne. „Kommst du bitte mal herein?“, fragt sie und hält mir die Tür auf. Ich nicke und atme noch einmal tief durch.

 

 

an apple a day oder: Was ist guter Unterricht?

Frau Schmitz-Hahnenkamp stellt mich auf dem Weg zur Aufsicht.

In Gedanken bin ich noch beim gestrigen Unterrichtsbesuch meiner Referendarin, daher bemerke ich meine Kollegin erst im letzten Moment. Deckung suchen zwecklos. (Ich werde unaufmerksam. Tatsächlich beschäftigt mich die Erinnerung an das Nachgespräch ziemlich. Forderte mich die Fachleiterin doch freundlich, aber auch sehr bestimmt auf, die vorangegangene Stunde anhand eines Rasters verschiedener Handlungsfelder einzuordnen und zu begründen. Seltsam, als ich Referendarin war, musste ich mich selber im Gespräch erklären, da war nie die Rede davon, dass meine Mentorin wie Jeanne d’Arc hervorspringt oder gar schützende Erklärungen vor ihrem Mündel aufbaut. Tja, tempora mutantur, nos et mutamur in illis*.)

Nun aber Frau Schmitz-Hahnenkamp. Dass meine Klasse erneut ihren unbändigen Zorn hervorgerufen hat, war mir klar, als ich heute morgen einen Blick auf meine Schreibtischplatte warf. Was der bösen Hexe des Ostens die roten Schuhe, ist Frau Schmitz-Hahnenkamp das Post-it: rote, gelbe, sogar ein grünes war dabei. Darauf der übliche Beschwerdecocktail: ungemachte Hausaufgaben, verschwundene Arbeitsblätter und freches Klientel. Alles in meiner Klasse! Bevor sie jedoch ihren Monolog über meine pädagogischen Unfähigkeiten und deren Auswirkungen auf die Viertklässler beginnen kann, schneide ich ihr das Wort ab:

„Frau Schmitz-Hahnenkamp, ich denke, es wird Zeit: Du solltest dich unbedingt einmal aufmerksam mit den 10 Merkmalen guten Unterrichts befassen.“

Ihr Blick wechselt von empört zu unfassbar empört. Schon holt sie Luft und lässt eine ganze Salve auf mich nieder. Was ich mir denke, was ich da sage, sie träfe gar keine Schuld, das sei schließlich meine Klasse, sie fühle sich nur mitverantwortlich und wolle mir helfen, aber sie merke schon, das sei vergebliche Liebesmüh, ich wäre ein schwieriger Charakter und sie wolle nur nett sein, mich informieren über die katastrophalen Zustände, aber so etwas wäre ihr noch nicht passiert, guter Unterricht, pah! natürlich gäbe sie sehr guten Unterricht!

Ich ziehe einen Apfel aus der Tasche und beiße genüsslich hinein. Endlich ist sie fertig und schaut mich pikiert an – möglicherweise, weil es mir nur unzureichend gelingt, mein Grinsen zu verbergen. Aber was soll ich auch tun? Die Kollegin geht ab wie Schmitz Katze! Als sich bereits eine interessierte Schar kleiner Menschen um uns versammelt hat (was tun die da? Schließen die etwa Wetten ab?), sehe ich mich genötigt die Situation aufzuklären:“Das ist wirklich ganz furchtbar spannend, was du da sagst, aber ich weiß gar nicht, wovon du redest!? Eigentlich wollte ich dir nur mitteilen, dass sich die OVP** geändert hat und du darauf gefasst sein musst, dass du nach dem Unterrichtsbesuch von Frau Kahle um eine Stellungnahme gebeten wirst. Die Fachleiterin wird Karten mit Handlungsfeldern, Kompetenzen und Standards auf den Tisch legen. Da kommen ein paar Kernpunkte von Hilbert Meyer ganz gut an. Ich wurde davon gestern ziemlich überrascht, also dachte ich, ich sag dir das netterweise vorher. Von einer Kritik an deinem Unterrichtsstil“, und nun schüttle ich verwundert den Kopf, „kann hier wirklich keine Rede sein. Wie kommst du denn bloß auf so etwas?“

 

* Die Zeiten ändern sich und wir uns mit ihnen. Von Ovid, nicht von Weh.

** OVP steht in diesem Zusammenhang mitnichten für Originalverpackung, sondern für Ordnung des Vorbereitungsdienstes und der Staatsprüfung für Lehrämter an Schulen. Ein ziemlich wichtiges Schriftstück.

Über Triebe, Milchsäurebakterien und die Unfähigkeit daraus eine Überschrift zu machen

Frau Müller, ein für sich genommen eher unauffälliges, mittelaltes Mitglied des Kollegiums, erlebt gerade ihren zweiten Frühling. Wir alle dürfen daran teilhaben. Das ist angemessen, schließlich haben wir auch die Trauerphase nach der Trennung ihres Mannes (er hat sie wegen einer Jüngeren verlassen!), die Ignoranz- und die Wutphase zusammen durchgestanden. Dann hat sie sich auf einem Datingportal für Leute mit Niveau angemeldet und lässt es seitdem krachen. Aktuell schwelgen wir also in der Blütezeit neuer Lust und Triebe.

Es ist Montagmorgen, 7.32 Uhr, wir befinden uns im Lehrerzimmer.

„Ist ja ekelhaft, du mit deinen Karl-Heinzen!“, fällt Frau Abendroth der vom Wochenende erzählenden Kollegin ins Wort. Diese kontert beleidigt – erzählte sie doch gerade von einem äußerst vielversprechenden Date mit Dieter aus Dortmund, der ihr zunächst beim abendlichen Nudelgericht mit treuen Dackelaugen die Seelenverwandschaft an- und im Anschluss daran noch viel mehr abgetragen hat.

„Solltest du vielleicht auch mal ausprobieren!“, giftet sie nun also die ebenfalls unbemannte Kollegin an, die jedoch nur mit kehligem Lachen kontert. Frau Müller senkt die Stimme: „Das einzig Blöde an der Sache“, sie beugt sich vertraulich zu mir hinüber, „ist die Sache mit dem Pilz.“ Ich rühre konzentriert in meinem Joghurt und versuche das eben Gehörte nicht in mein Gehirn vordringen zu lassen. Auch der Information, dass sie es leider erst morgen zum Arzt schaffe, versuche ich den Eintritt in mein Universum zu verweigern.

„Muhahaha!“, schaltet sich da nun wieder Kollegin Abendroth ein; offenbar war Frau Müllers Geraune nicht leise genug. „Uns allen gehst du mit deinen Männergeschichten auf den Keks, um uns neidisch zu machen, aber in dieser Frage wendest du dich dann doch lieber an eine verheiratete Kollegin. Mu-ha-ha-HAA!“

Während ich mich noch weit weg wünsche (immerhin ist es Montagmorgen, ein nicht in allen Punkten optimal entspannendes Familienwochenende liegt hinter mir und überhaupt, wen interessiert denn eigentlich Kollegin Müllers Intimregion?!), läuft Kollegin Abendroth zur Höchstform auf, knallt den großen Ordner Sexualerziehung auf den Lehrerzimmertisch und blättert „Verhüüüütung“ flötend die Seiten durch. Wie eine äußerst vergnügte Spitzmaus sieht sie dabei aus.

„Du hast ja wohl voll einen Schaden!“ ereifert sich da erwartungsgemäß schon Kollegin Müller. Es ist ein bisschen wie beim Schlammcatchen. Nur mit weniger Dreck. Bevor die Sache eskaliert, greife ich nach Frau Müllers Handgelenk und lenke ihre Aufmerksamkeit auf mich: „Versuch es mit Joghurttampons!“ Frau Müller – unsicher, ob diese Information nun ernst gemeint ist – schaut wechselweise in mein Gesicht und dann auf den Becher in meiner Hand.

„So normaler Joghurt? Echt? Wie der da?“

Ich ziehe entsetzt meinen Arm zurück. „Nein, der ist aus Soja!!!“

Lehrerrat

Frau Mandel spricht mich am Kopierer an: „Sag mal, was war das denn mit Schmitz-H. und dir? Das hat ja Wellen geschlagen!“

Alarmiert halte ich bei meinem Versuch inne, den Papierstau durch einen beherzten Griff ins Innere zu beheben, und blicke zur Kollegin hoch.

„Ja“, sagt sie, „Donnerstagmittag lief das Telefon heiß.“ Genüsslich zählt sie an den Fingern ab: „Also… zuerst war da Frau Abendroth, die hat Schmitz-H. im Flur brüllen hören. Dann rief Frau Müller an, um nachzufragen, ob du wirklich im Samskostüm an die Decke gegangen bist.“

Ich nicke mechanisch.

„Mit Flossen und Rüssel? Respekt! Danach war meine Klassenpflegschaftsvorsitzende dran…“

Ich spüre, wie ich blass werde. Ist die Pflegschaftsvorsitzende der Viertklässler doch vor allem dafür bekannt, maßgeblich für jeden Informationsfluss jenseits des Protokolls zuständig zu sein. Sie tratscht.

„… aber die wollte mit mir nur die Tagesordnung für den Elternabend besprechen.“ Frau Mandel macht die Sache merklich Spaß. „Und dann“, sie schaut mich bedeutungsvoll über den Rand ihrer Lesebrille hinweg an, „kam der Anruf von Schmitz-H. Ich muss dir leider mitteilen, dass sich deine Lieblingskollegin in dieser Sache an den Lehrerrat wenden möchte.“

„Pffffft!“, mache ich und schüttle den Kopf. „Was hast du ihr gesagt?“

Frau Mandel zwinkert mir zu: „Na, dass du der Lehrerrat bist.“

 

Neue Punkte für das Sams

Ein einsames Sams steht in der verlassenen Lehrerküche, den Kopf ermattet auf den Kafeevollautomaten gestützt. Ich schaffe es nicht einmal meine Schweinenase abzunehmen, so müde bin ich in diesem Moment. Hinter mir liegen eine Nacht mit wenig Schlaf und zwei kranken Wehwehchen, außerdem drei Stunden Karnevalsgedöns in der Schule. Spielmannszug, singendes Dreigestirn und die völlig überdreht- und überzuckerten Drittklässler. Volles Programm also. Mein Kopf pocht und ich will nur noch einen kurzen Moment Ruhe tanken, bevor ich nach Hause fahre um die Brutpflege zu übernehmen. Da betritt die Kollegin, die ich gerade am wenigsten von allen sehen möchte, die Bühne, pardon, die Kaffeeküche.

„Ah! Wie gut, dass ich dich noch erwische! Ich denke, wir sollten uns noch einmal unterhalten!“ Gewaltig und wichtig schiebt sie sich zu mir.

Mein Kopf scheint ins Magnetfeld der Wärmeplatte geraten zu sein, jedenfalls kostet es mich unendliche Mühe ihn zu heben und Frau Schmitz-Hahnenkamp ins Gesicht zu blicken.

„Ooooh“, säuselt sie dann auch prompt, „wie siehst du denn aus? Geht es dir nicht gut? Das habe ich mir gleich gedacht heute morgen. ‚Die Frau Weh sieht aber gar nicht gut aus‘.“ Ihre Stimme nimmt einen zuckrigen Klang an, der mir in der Situation prompt Übelkeit bereitet. „Es ist ja auch gar nicht so einfach für dich! Das habe ich der Chefin gestern auch gesagt. ‚Wie Frau Weh das immer alles schafft, mit der schwierigen Klasse und dann die Familie zu Hause und das alles!‘ Ehrlich, du hast meine Hochachtung und meine Bewunderung! Aber nun sag mir doch, was hast du denn?“

Sie schaut mich an wie ein Maulwurf.

Ich greife zur Schaufel.

„Du!“, würge ich hervor, „gehst mir gerade sowas von auf den Senkel!“ Ich blitze sie an, Horden von kranken Wehwehchen und marodierenden Drittklässlern stehen hinter mir, schwenken Transparente und gröhlen Schlachtrufe. Meine Schweinenase zittert und ich stemme die Arme in meine pummelig ausgestopften Samsseiten. „Vielleicht könnten wir jetzt mal das Theaterspielen sein lassen. Was ist eigentlich DEIN Problem? Ach, ich weiß es: Dass eine Klasse es nicht nur wagt, geschlossen deine fragwürdigen Methoden zu kritisieren, sondern dass sie sich damit nicht an dich wendet, sondern an jemanden, dem sie vertraut. Weißt du was? Mach mit deiner Klasse, was immer du für richtig hältst, aber in meiner Klasse gilt ab jetzt: Keine rausgerissenen Seiten, kein weiteres Einschüchtern und keinerlei Machtmissbrauch mehr in Form von rigiden, sinnlosen Strafen! Ich bin es LEID“, ich spucke das Wort hervor wie etwas, das mir schon zu lange im Halse steckt, „ich bin es SO leid!“

Frau Schmitz-Hahnenkamp steht wie vom Donner gerührt vor mir. Man merkt ihr deutlich an, dass sie nicht mit einem solchen Ausbruch gerechnet hat. „Ähh, muss ich das jetzt verstehen? Na, egal! Ich wollte nur nett zu dir sein!“

„Ah“, falle ich ihr ins Wort, „danke für das Stichwort! Nett wäre, wenn du Dinge direkt mit mir besprechen würdest statt sie künstlich aufzublasen und damit zur Chefin zu laufen.“ Ich schiebe mir den Schweinerüssel auf die Stirn, der besseren Atmung wegen. „Und ebenfalls nett wäre es auch, wenn wir uns dabei auf einer sachlichen Ebene begegnen könnten. Was ist das hier? Ein Showlaufen der pädagogischen Eitelkeiten?“

Einen Moment sehe ich hinter die Kulissen. Ich sehe eine ältere, einsame Kollegin vor mir, die all ihre Versagensängste, ihre Selbstzweifel und ihren beinahe pathologischen Wunsch nach Anerkennung hinter einer soliden Mauer aus Selbstgerechtigkeit, Missgunst und Antipathie verbirgt. Ich muss schlucken. Dann ist es auch schon wieder vorbei. Frau Schmitz-Hahnenkamp schnauft beleidigt auf und blitzt mich böse an: „Das muss ich mir nicht sagen lassen!“ Sie rauscht aus der Küche.

„Doch“, rufe ich ihr hinterher, „genau DAS musstest du dir mal sagen lassen!“

Ich atme aus, überrascht von mir selber. Meine Hände zittern ein bisschen. Erstaunlicherweise fühle ich mich jetzt besser. Ist bestimmt was mit den Hormonen, denke ich. Als ich meine Jacke hole und in den Spiegel an der Garderobe blicke, starrt mich ein Sams an. Blaue Punkte im Gesicht. Auf seiner Stirn wächst eine schrumpelige Schweinenase. Seine Wangen sind gerötet und die Augen blitzen. Während mir langsam bewusst wird, dass ich den gesamten Schwall im vollen Kostüm von mir gegeben habe, bahnt sich ein leises Kichern den Weg nach draußen. Beim genaueren Hinsehen wirkt das Sams im Spiegel etwas irre. Aber im Großen und Ganzen doch recht zufrieden.

Wo sind all die Blumen hin?

Dass die Sache eskaliert, bemerke ich erst, als ich von der Chefin zum Gespräch gebeten werde. In diesem besonders sanften Ton, der eigentlich nicht ihre Art und zuverlässiger Anzeiger für ein Krisengespräch ist. Als sie auch noch die Türe hinter uns schließt, weiß ich, dass die Lage ernst ist.

„Frau Schmitz-Hahnenkamp hat mich angesprochen. Sie fühlt sich durch dein Verhalten bloßgestellt und vorgeführt, Frau Weh. Sie sagt, du hättest ihr keine Chance zur Richtigstellung gelassen, sondern das Bild, das deine Klasse und somit auch die Eltern von ihr haben ins Negative verzerrt. Sie ist der Meinung, du hättest die Drittklässler aufgehetzt.“

Die Chefin schaut mich an und gibt mir Zeit zu antworten. Ich kann nicht. Ich bin so völlig überrumpelt, dass mein Kreislauf, der sich bisher eher durch temporäre Abwesenheit auszeichnete, sich nun unerwartet in kräftigem Fortissimo zurück zur Arbeit meldet. In meinen Ohren rauscht es, ich fühle wie mir die Hitze den Hals hinaufkriecht und bin dankbar für den Rollkragenpullover, der die Tatsache, dass ich mich wirklich, wirklich aufrege zumindest noch eine Weile verschleiert. Tatsächlich bin ich sprachlos. Vor weniger als 10 Minuten hat sich Frau Schmitz-Hahnenkamp strahlend und voll des Lobes über die verständigen Drittklässler und das soooo tolle Gespräch mit ihnen von mir verabschiedet. Das vorhergegangene Hilfegesuch bei der Chefin mit keiner Silbe erwähnend. Ich füge auf der imaginären Sch-H-Liste, die still zu ertragen ich langsam nicht mehr ganz so gewillt bin, ein nachtragend und nach kurzem Zögern auch ein hinterhältig hinzu.

Das weitere Gespräch mit der Chefin bleibt kurz. Ich finde meine Sprache wieder und erkläre in wenigen Sätzen meine Sichtweise. Die gesamte Situation ist absurd und überzogen. Die Chefin appeliert an mein Verständnis: „Du weißt doch, wie sie ist!“ Oh, jeden Tag mehrt sich mein Wissen. Mit einem Arbeitsauftrag versehen – dem typischen Abschiedsritual eines solchen Austauschs – verlasse ich das Büro. Mir ist nicht mehr ganz so gänseblümig im Gemüt; vielmehr zerrupft, zerpflückt. Als ich aus der Schultüre hinaus in den kalten Wind trete, ist es mir, als reiße er mir das letzte Blütenblatt aus und werfe es mir hinterher.

Eindeutig:

SIE LIEBT DICH NICHT!

Das Gespräch

„Die haben WAS!?“

Frau Schmitz-Hahnenkamps Entrüstung ob der ungeheuerlichen Vorwürfe der Drittklässler ist so gewaltig, dass ich Sorge habe mitsamt des Lehrerzimmermobiliars davon hinweggeschwemmt zu werden. Durch den Flur, das Treppenhaus hinab, auf den Schulhof und ab in den Gulli. Wortungetüme prasseln wie ein Unwetter auf mich herab. Und das ist es, ein Unwetter, ach, entfesselte Naturgewalt! Wie konnten die Drittklässler ihre Zuneigung, ihr Engagement, ihren Einsatz so falsch bewerten? Jedes ihrer Wörter trägt ein demonstratives Ausrufezeichen mit sich spazieren und gewandet sich mit dem Kleid der zu Unrecht Angeklagten. Vor Zorn des gerade erfahrenen Undanks bebt ihre Stimme, als sie mit Bitterleichenmiene zum Todesstoß ihrer Suade ansetzt:

„Und ich habe das doch alles nur für DICH getan, Frau Weh! Damit du dich in Ruhe zu Hause erholen kannst während deiner Krankheit. Es wäre doch gut, so dachte ich, wenn ich mir die Zeit nehme, die Hefte deiner Klasse einmal in Ruhe durchzusehen und zu korrigieren. Es ist ja so verständlich, dass du mit deinen eigenen Kindern, deinem Mann und allem gar nicht dazu kommst. Schließlich profitiert deine Klasse doch davon, dass ich diese Möglichkeit wahrnehme. Dann sehen die Eltern auch, dass hier korrekt gearbeitet wird.“

Sie holt Luft. Ich auch.

„Aber es war ja klar, dass deine Klasse ein Problem haben würde mit meiner konsequenten und strengen Art. Du bist ja so anders. Nein, ich will das ja gar nicht abwerten…! Aber es ist ja schon so, dass ich meine Klassen bisher immer sehr erfolgreich auf das Gymnasium vorbereitet habe. Da kommt man mit zu viel Nettigkeit ja nicht weit. Und DEINE Klasse hat sich ja auch sehr wohl gefühlt bei mir. Sie fanden es so schön ruhig!“

Frau Schmitz-Hahnenkamp schaut mir mit stechendem Blick in die Augen. Alles an ihr ist Vorwurf mit einer Garnitur aus erfahrungsbedingter Überheblichkeit verziert.

Mir liegen Dinge auf der Zunge. Es wäre ein Leichtes die Fassung zu verlieren und gleichermaßen Verletzendes auszusprechen. In meinem Kopf purzeln und ringen die Gedanken miteinander. Ich denke an das, was ich Herrn Weh, meinem Freund Marten in vielen Gesprächen, Frau Hattifnatte und nicht zuletzt mir selber versprochen habe: auf mich achtzugeben. Mich nicht fressen zu lassen von der unglaublichen Dreistigkeit anderer. Eine Grenze zu ziehen und diese fröhlich zu bewachen. Ich lege den Kopf ein bisschen schief und betrachte meine Kollegin aus dieser Perspektive. Plötzlich durchströmt mich die ungeheuer starke Gewissheit, dass ich niemals so werde. Niemals so werden kann!

Von Erleichterung durchflutet blicke ich Frau Schmitz-Hahnenkamp an: „Danke, dass du mir deine Sicht der Dinge mitgeteilt hast. Damit kann ich viel anfangen!“

Als ich meine Sachen packe und das Lehrerzimmer verlasse, zieht ein Lächeln über mein Gesicht. Auf der Treppe nach unten singe ich lauthals das Lied vom Gänseblümchen und freue mich auf meine Kinder, Herrn Weh und das alles.

 

Neues aus dem Lehrerzimmer

„Was, du willst Stunden reduzieren?“,

Frau Schmitz-Hahnenkamp starrt zuerst auf den Teilzeitantrag in meiner Hand, dann saugt sich ihr Blick auf Bauchnabelhöhe fest. „Bist du etwa SCHWANGER?“

Ich blicke irritiert an mir herunter:

„Nein!“

„Ach, schade, du wärst bestimmt eine gute Mutter!“

Jetzt hätte ich gerne einen Hund. So einen von den ganz Großen.