Das Dazwischen

Noch drei Wochen bis zu den Ferien. Langsam beginnt dieser seltsame Zustand des Dazwischens. Obschon ich nichts mehr herbeisehne als das Ende des aktuellen Schuljahres, bahnen sie sich bereits einen Weg, die Ideen und Pläne für das kommende. Flüchtig notiere ich sie auf Zetteln, Bildern und Zeugniskorrekturausdrucken. Nur nichts verschwinden lassen! Die Gedanken mäandern zwischen den Schuljahren und ich bin froh darüber, zeigt es doch, dass die zur Zeit empfundene Erschöpfung eine natürliche, zirkuläre ist und keine, um die sich zu sorgen nottut. Was bleibt, ist die Empfindung, ein anstrengendes Jahr (und sind sie dies nicht alle?) bald geschafft zu haben und dennoch leise Vorfreude darüber zu empfinden, was für gute Momente die Zweitklässler nächstes Jahr, schon bald!, erwarten.

Kann ich es besser beschreiben?

Bildung ist ein Geschenk und die Vermittlung von Bildung kann ein ebensolches sein. (Dass es manchmal mehr Spaß macht, jemandem ein Geschenk zu übermitteln als eines zu empfangen, kann in diesem Zusammenhang vermutlich jeder Leser verstehen. Wenn nicht, vermittle ich gerne ein Gespräch mit dem pubertierenden Wehwehchen – es findet ganz sicher prägnante Worte!)

So zähle ich die verbleibenden Schultage herunter (es sind noch 15) und freue mich gleichermaßen auf die sich anschließende Schreibtischphase, in der ich mich hemmungslos dem Planen und Materialisieren des Kommenden verschreibe. Nicht ohne natürlich im Vorfeld den reinigenden Ritus des Aufräumens und Wegschmeißens zu begehen. Nicht ganz ernst, dennoch mit Hintergrund, fragte mich vor Jahren eine Bekannte, ob ich nicht Interesse an einer Räucherung hätte. (Nachfragen ergaben, dass es sich bei diesem Vorschlag nicht etwa um Forelle oder Saibling handelte.) Überzeugt konnte ich ihr darlegen, dass mit jedem liegengebliebenen Arbeitsblatt, welches ich entsorge, mit jeder Notiz, die nun nicht mehr von Belang sei, ich ein Stück des vergangenen Jahres abschließen und loslassen könne. In meinem Klassenzimmer befinden sich keine Geister, die sich nicht durch den beherzten Einsatz von Scheuermilch und Mülleimer zur Räson bringen ließen. Mein Raum, meine Regeln.

Und so weiß ich bereits jetzt um dieses matte, volle Gefühl des Danachs. Wenn alle Kinder verabschiedet, alle Umarmungen erwidert, alle Wünsche ausgesprochen sind. Wenn das Klassenzimmer leer ist und man selber irgendwie auch. Man schaut sich um mit dieser unwirklichen Mischung aus Reservelosigkeit und ungezähmter Freiheitsfreude, schiebt einen Stuhl an einen Tisch, sammelt eine stehengelassene Kakaoflasche, einen liegengebliebenen Stift ein und denkt Nichts. Denn für dieses Jahr ist alles gedacht, alles gesprochen, alles gewirkt.

Doch bis dahin sind es noch kaugummilange Tage, emotionsstark und aufgeladen, die es zu bestreiten gilt. Zeugnisse müssen geschrieben, Gespräche geführt, Klassenbücher ausgefüllt werden. Diplomatisch muss manches abgewogen oder bestenfalls überhört werden, um nicht der hochgradig ansteckenden Schuljahresend-Hysterie zu erliegen, der sogar zäheste Kolleginnen derzeit zum Opfer fallen.

„Was sind die beiden besten Gründe, um Lehrer zu werden?“, frage ich inmitten einer so hitzigen wie nutzlosen Auseinandersetzung im Lehrerzimmer, in der es zunächst um die Anschaffung neuer Poolnudeln, später jedoch um die Rechtfertigung des Sportlehrerdaseins im Allgemeinen geht. Erhitzte Gesichter wenden sich mir fragend zu.

„Was!?“

„Na, Juli und August!“

Fassungslosigkeit strömt mir entgegen. Dann signalisiert erleichtertes Grinsen das Ende der Auseinandersetzung.

„Du bist auch eine Poolnudel, Frau Weh!“

Lasst uns durchhalten! 🙂

Das Ende naht

Da ist er, der Schuljahresendstress. Ein bisschen früh dran in diesem Jahr. Dafür aber – so scheint es – schlägt er diesmal nicht nur zu, nein, er stürzt sich gewaltbereit und bis an die Zähne bewaffnet auf die wehrlose Lehrkraft, zerrt sie hinter die Tafel und gibt ihr so richtig eine auffe Zwölf.

Oder wie ist es sonst zu erklären, dass sich annähernd kein Zweitklässler mehr mit der Uhr auskennt? Ach was, sie kennen sich nicht nur nicht damit aus, sie bestreiten jeglichen Kontakt mit der Materie. Die Uhr? Haben wir nie gelernt, Frau Weh! Hast du uns noch nie was von gesagt! Nur den Beginn der Frühstückspause, ja den kennen sie. Man könnte vermuten, sie hätten heimlich einer Gewerkschaftssitzung beigewohnt, so sicher und einig sind sie sich in der Wahrung ihrer Rechte.

Ansonsten Geschrei an allen Fronten. Frau Killefitz-Klette fällt ganz plötzlich auf, dass es ja bald ein Notenzeugnis gibt ihre Tochter ein ernstzunehmendes Matheproblem hat, welches zwar von mir bereits mehrfach angesprochen wurde, aber erst heute, jetzt, in diesem Moment! so wichtig wird, dass sie umgehend einen Termin wünscht. Sie kann heute entweder um 10.15 Uhr oder dann ab 17.00 Uhr.

Die Klassenpflegschaft, die ein deutlich besseres Gespür für Timing hat und mich nach Schulschluss im Flur abfängt, möchte ganz schnell noch ein Sommerfest auf die Beine stellen, gerät dabei aber in Terminkollision mit dem Abschlusskonzert der kooperierenden Musikschule. Mein (nicht ganz selbstloser) Vorschlag, beides zu kombinieren, stößt auf beidseitige Empörung. „Es gibt eine Zeit zu feiern und eine Zeit zu tröten!“, verkündet die Pflegschaft. Über das diskriminierende Wort „tröten“ empört sich die Musikschulkraft lautstark. Man muss nicht sonderlich empathisch veranlagt sein, um die in den letzten 25 Jahren Blockflötenunterricht erlittenen Verletzungen und Beleidigungen zu spüren, die den Worten innewohnen. Mit der Mitteilung, ich sei dabei, mit oder ohne Blockflöte, überlasse ich die Damen sich selber und suche schleunigst das Weite, bevor noch jemand Feuer fängt.

Ja, die Eltern werden nervös, die Kinder hibbelig, die Kolleginnen dünnhäutig und die Schulleitung möchte frühzeitig Zeugnisse sehen. Aber ich muss ja noch die Uhr … und überhaupt, die Zeugnisse! Ach je! Die schuleigenen Arbeitspläne mahnen mich zur Quadratur des Kreises. Wie sonst wohl sollte ich noch drei zwei Sachunterrichtsthemen schaffen, beobachten die Zweitklässler doch seit Wochen hingebungsvoll ihre Schnecken, die in einem Terrarium im Klassenzimmer wohnen. Da wird gemessen, gewogen, gefüttert und geliebt. Die Kinder die Schnecken und die Schnecken … nun ja, die Schnecken sich selber. Sieht irgendwie auch ganz putzig aus. Die reinste Weichtierpoesie. Wusstet ihr übrigens, dass das corpus delicti bei Schnecken Liebespfeil heißt? Ramon zumindest interessiert sich sehr für das Liebesleben der Viecher und hat bereits eine Tabelle zur Häufigkeit des Paarungsaktes entworfen. Der Zweck heiligt die Mittel und Tabellen musste er sowieso noch üben.

„Wenn wir richtig leise arbeiten, Frau Weh, dann können wir die Schnecken fressen hören!“, stellt Finnja erfreut fest und ich denke ganz egoistisch, warum sich jetzt noch den Stress mit einer Magnetwerkstatt antun, wenn man es stattdessen schneckenleise in der Klasse haben kann?

„Schneckenleise ist das neue kompetenzorientiert!“, erkläre ich also dem Chef selbstbewusst, als er mich auf meine fehlenden Sachunterrichtsthemen anspricht. Für ein längeres Gespräch bleibt keine Zeit, ich habe einen Termin mit der Schulpsychologin und der Mutter von Ramon. Mal wieder. Aber, hey, zum letzten Mal in diesem Schuljahr! Noch fünf Wochen, geht mir durch den Kopf, das wuppen wir doch ganz lässig. Ich schreibe noch schnell einen neuen* Schneckenwitz** an die Seitentafel und harre der Dinge, die da noch so kommen.

 

* unbedingt empfehlenswert ist das Anlegen einer Witzekartei (nicht nur) zu den einzelnen Unterrichtsthemen. Kinder LIEBEN Witze. Sie verstehen sie nicht und erzählen können sie sie meist auch nicht, aber sie LIEBEN sie.

** Treffen sich zwei Schnecken im Wald. Eine der beiden ist total zerschrammt. Fragt die eine:
„Was hast du denn angestellt?!“
Antwortet die andere:
„Ich bin mit Vollgas durch den Wald gerannt, da schießt plötzlich vor mir ein Pilz aus dem Boden! Da konnte ich echt nicht mehr bremsen.“

 

 

 

 

Viel Lärm um nichts

„Frau Weh, da liegt ein Embryo auf der Treppe!“

Süffisant ginsend steckt Benedikt aus der Vierten seinen Kopf in meine Klasse.

„Ist nicht meiner. Heb‘ ihn auf und nimm ihn mit!“, antworte ich ohne mit der Wimper zu zucken. Die Hebamme ist zu Besuch im vierten Schuljahr und lädt gerade ihr Auto aus. Außerdem habe ich genug mit den zerknirschten Übeltätern zu tun, die vor mir stehen. Traf mich doch fast der Schlag, als ich am Morgen einen Blick auf die Tafel warf und dort acht Namen vorfand. Alles Erstklässler, die sich gestern in Englisch offenbar deutlich daneben benommen und infolgedessen bei mir eine Unterschrift abzuholen haben.

„Was denkt ihr euch denn eigentlich dabei?“, will ich wissen und frage nach dem Grund der Sanktion.

„Also ich hab eigentlich gar nichts gemacht!“, empört sich Nick. „Ich hab nur dem Ole den Kopf gestreichelt.“

„Ja und ich wollte das nicht!“, unterbricht ihn Ole augenblicklich.

„Und dann?“, hake ich nach.

„Dann ist der Nick vom Stuhl gefallen.“

„Ja, nachdem DU mich runtergeschubst hast!“

„Ok. Die nächsten.“

Filiz schaut arglos die Klassenzimmerdecke an. „Ich weiß gar nicht, warum die Frau Rimsky-Korsakov immer so laut ist. Ich hab ü-ber-haupt nichts gemacht. Ehrlich, Frau Weh!“ Sie senkt den Blick aus kullerbraunen Augen von der Decke und sieht äußerst überzeugend drein. Verdächtig! Ich schaue auf den Zettel, den die Kollegin gestern in Rage auf meinem Schreibtisch hinterlassen hat.

„Da steht, du wärst auf Toilette gegangen und nicht wiedergekommen, weil du auf dem Flur Topmodel gespielt hast.“

„Ja, aber ich hab nicht gestört!“

„Du hattest das Relibuch dabei und hast laut gesungen. Warum denn überhaupt das Relibuch?“, frage ich irritiert. Es war doch Englisch dran.

Gott mag Kinder, das hab ich gesungen. Und das Relibuch geht viel besser auf dem Kopf, weil das Englischbuch ist so wabbelig.“

Filiz schüttelt sich bekräftigend.

„Und das Buch ist nicht runtergefallen von meinem Kopf. Ich kann das voll gut!“

„Die Filiz kann das echt voll gut“, mischt sich Leonie ein. „Ich hab das gesehen.“

„Stimmt“, antworte ich und lese auf dem Zettel nach, „du warst ja dabei und bist auch nicht mehr in die Klasse gegangen.“

„Ist aber auch langweilig in Reli!“

„Ich dachte, ihr hattet Englisch?“

„Ach ja, stimmt. Ist trotzdem langweilig.“

Alle nicken. Ich hebe ablehnend die Hand. „Danke, reicht.“

„Die Frau Rimsky-Korsakov ist immer so laut, das tut in den Ohren weh!“, mault Michelle.

„Und deswegen hast du was gemacht?“, frage ich. Diese Stelle auf dem Zettel kann ich nicht gut lesen.

„Ich habe mir nur den Kopfhörer vom Computer geholt und angezogen, als die so gebrüllt hat wegen dem Noah.“, entgegnet Michelle trotzig und schiebt die Unterlippe vor. Ich verzichte darauf, ihr zu erklären, warum ein solches Verhalten in bestimmten Situationen als frech eingestuft wird und wende mich Noah zu.

„Und was machst du eigentlich an der Tafel?“

Noah ist ein wahres Herzchen und musste ein ganzes Schuljahr lang nicht an eine einzige Regel erinnert werden. Umso erstaunter war ich darüber, auch seinen Namen vorzufinden. Es ist ihm unangenehm und er zieht den Kopf tief zwischen die Schultern. Ein wenig sieht er nun aus wie eine kleine, verschreckte Schildkröte.

„Na, komm“, sage ich in sanfterem Ton, „ich möchte es einfach verstehen.“

„Ich habe meinen Strohhalm aus der Kakaoflasche gezogen. Das sollen wir ja machen …“

„Jaaaa?“, ermuntere ich ihn zum Weitersprechen.

Er atmet tief ein, um sich für den letzten Teil der Beichte zu wappnen.

„Aber ich hab das auf meinem Platz gemacht und dann ist der Kakao gespritzt. Auf die Paula. Und auf Paulas Heft.“

Die anderen Erstklässler ergänzen eifrig:

„Und auf den Ranzen!“

„Und auf den Boden!“

„Und auf Frau Rimsky-Korsakov!“

Auf Frau Rimsky-Korsakov? Was zum …?

„Wieso das denn?“

„Na die war grad bei mir, weil ich mich doch ganz aus Versehen mit meinen Schuhen am Stuhl festgehakt habe!“, ergänzt Paula missbilligend, weil ich die offensichtlichen Zusammenhänge einfach nicht verstehen will.

Ich seufze. Nahezu bildhaft kann ich mir den Ablauf der Stunde vorstellen und mein Verständnis für die Kollegin wächst und wächst. Fachunterricht bei den Erstklässlern so kurz vor den Ferien ist nicht unbedingt die reine Freude.

„Aber warum ist die Frau Rimsky-Korsakov auch immer so streng mit uns?“, wundert sich Ole. „Wir machen doch gar nix!“

Ich erkläre den Erstklässlern, dass Unterrichten anstrengend ist. Gerade, wenn man eine Klasse nur selten sieht. Dass man als Lehrerin manchmal das Gefühl hat platzen zu müssen, wenn wieder eine Störung kommt. Und noch eine und noch eine. Besonders so kurz vor den Ferien.

„Also mein Papa sagt ja, dass Lehrer viel zu viele Ferien haben!“, gibt Nick zu bedenken.

„Warum hast du so viele Ferien, Frau Weh?“

„Damit ich nicht platzen muss.“

Wider die Langeweile!

„Und wann gibt es mal richtigen Unterricht?“, fragt die Schülerpraktikantin mit nur mühsam unterdrückter Schwunglosigkeit.

Ich blicke von dem Stapel Mathehefte auf, den ich gerade durchsehe, und schaue mich in der Klasse um. Die Erstklässler ergießen sich über Stühle, Bänke und den Boden. Einige sitzen im Flur oder im Treppenhaus und schaffen ordentlich was weg. Wir sind bei Countdown 6 vor den Ferien angelangt und die Tatsache, dass ich zu meinen eigenen drölfzilliarden Schülern noch eine gelangweilte Sechzehnjährige auf’s Auge gedrückt bekommen habe, um die ich mich kümmern muss, erfüllt mich nicht unbedingt mit innerlichem Halleluja. Allerdings komme ich nicht umhin, dem benachbarten Gymnasium für die hervorragende Zeitplanung Respekt zu zollen. Was für eine geschickte Idee, die gesamte Stufe 11 in den letzten zwei Schuljahreswochen ins Praktikum zu schicken. Da läuft ja eh nix mehr, oder wie war die landläufige Meinung dazu?

Hier läuft allerdings noch eine ganze Menge. Allein, man sieht es nicht auf den ersten Blick. Die Erstklässler (zumindest die meisten) arbeiten nämlich selbstständig so vor sich hin. Mit unserem Stoff sind wir durch, jetzt wird nur noch vertieft und – ja, ich gebe es zu – weggearbeitet, was ich im Überschwang zu viel kopiert habe, derweil ich akribisch jedes Arbeitsheft noch einmal auf eventuelle Lücken durchgehe. Hier kommt nichts weg!

Aber Madämchen würde gerne richtigen Unterricht sehen. Dass ich es überhaupt zulasse, mich darüber zu ärgern, zeigt, dass auch ich ganz langsam ferienreif werde. (Schon seit Tagen läuft in meinem Kopf übrigens I’m Going Slightly Mad in Endlosschleife. Muss ich mehr dazu sagen?) Dabei ist das nicht nur unreif von mir, sondern auch ungerecht. Man überlege kurz einmal, wie man selber so war mit 16 … ähm, genau. Das war das Alter, in welchem man bei morgendlichen Schwindel nicht dachte Uh, ist mir schwindlig!, sondern Hui, alles dreht sich um mich! Das muss so, das soll so sein, Beschwerden bitte ans Kleinhirn, Abteilung Entwicklung, danke. Also jetzt Unterricht. Na gut.

„So, ihr Lieben, alle mal in den Kreis kommen!“

Je nach Verfassung und Gemütszustand schlurfen oder stürzen sich die Erstklässler in die Raummitte, balgen sich kurz um die besten Plätze (direkt neben mir oder aber ganz weit weg) und harren erwartungsvoll der Dinge. Lediglich Ramon fällt fröhlich hintenüber von der Bank, was niemand weiter kommentiert und mit einem Kühlpack schnell behoben wird. Ich frage in die Runde, wer sich womit beschäftigt hat und ob jemand seine Arbeit an der Tafel vorstellen möchte. Dilara, Filiz und Merve melden sich als erste und dürfen nach vorne. Kurz bilden sie ein aufgeregt flüsterndes Grüppchen, nicken dann und schauen erwartungsvoll zu uns herüber.

„Wir haben was mit ganz schwierigen Wörtern gemacht“, erzählt Merve, „und das machen wir jetzt auch mit euch.“

Filiz hüpft ein wenig auf der Stelle – es ist so aufregend an der Tafel! – und zeichnet dann hochkonzentriert sechs Striche.

„Galgenmännchen!“

jubeln die Erstklässler und freuen sich des Lebens. Noch einmal so begeisterungsfähig sein wie mit sieben Jahren! Es wird gerätselt und geraten, ausprobiert und buchstabiert bis das korrekte Lösungswort endlich an der Tafel erscheint. (Es war übrigens Ananas. Ich wünsche mir auch bald mal wieder eine. Am liebsten in weißem Rum badend und mit Schirmchen.) Tosender Applaus kommt auf, verbunden mit dem unweigerlichen Geschrei, das immer dann ertönt, wenn es um die Auswahl einer Nachfolge geht. Doch Filiz lässt sich nicht erweichen und spricht mit unerschütterlicher Miene die einzig wahren Worte:

„Ich nehme das allerleiseste Kind dran!“

Wen wundert es da, dass die Wahl auf die phlegmatische Schülerpraktikantin fällt? Überrascht, aber erfreut, tritt diese auch sogleich zur Tafel, überlegt kurz und zieht ihre Striche. Es sind 20. Die Erstklässer staunen und ich bemerke, wie manch kleiner Kosmos ins Wanken gerät.

„Gibt es so lange Wörter?“, haucht Finja beeindruckt und ich sehe, wie die Praktikantin ein Stückchen größer wird.

„Oh ja!“, sagt sie, „Und noch viel längere. Aber die müsst ihr erst noch alle lernen.“

In den kommenden Minuten haben alle Spaß. Die Praktikantin, weil sie merkt, wie toll Nicht-Unterricht sein kann, die Erstklässler, weil sie sich für Kniffligkeiten begeistern können und ich, weil ich mich darüber freue, dass die Buchstabenkombination E-R-N-S-T-L auch 13 Jahre nach dem letzten Dreh des Glücksrads noch funktioniert.

S _ _ _ E R _ E R _ E N    S _ N _    T _ L L

Obwohl die Praktikantin am Ende gleich von mehreren Schülern dafür gerügt wird, dass das ja gar nicht ein Wort, sondern drei sind, strahlt sie noch am Ende des Vormittages und bedankt sich artig für den schönen Tag. Allerdings kann ich ihr gar nicht richtig antworten.

In mir singt es so laut.

I think I’m a banana tree
Oh dear, I’m going slightly mad
I’m going slightly mad
It finally happened, happened
It finally happened uh huh
It finally happened I’m slightly mad – oh dear!

Hallo, ihr Kellerkinder!

Dass meinen Lippen statt des in dieser Situation deutlich angemesseneren Fluchs lediglich ein sanftes Seufzen entweicht, als die Türe des Schulkellers mit einem satten Flopp! hinter mir ins Schloss fällt, mag dem vorausgegangenen Vormittag geschuldet sein. Dieser war imperativ-mies. Zweifelhaftem Lehrerverhalten ging zweifelhaftes Schülerverhalten voraus und umgekehrt. Ein Schultag voller in Befehlsform geäußerter Hoffnungslosigkeit meinerseits, die auf völlige Ignoranz bei den Erstklässlern stieß. Mittelschwere Unfälle zwischen Milchflasche und Mensch inbegriffen. Die kleinen Dramen des Grundschulalltags in voller Blüte. Würde man diesen Morgen in Reimform bringen, man müsste sich des Trochäus bedienen. Denn den mochte ich schon früher nicht.

Nun also noch die geschlossene Kellertür.

Man sollte meinen, dass das Vorkommen von Türen, die sich nur von einer Seite (seltsamerweise immer der anderen) öffnen lassen, dem Horrorfilmgenre vorbehalten sei. Aber nein, Überraschung, auch unsere Schule verfügt über eine solche. Deswegen liegt neben der Türe auch ein Keil. Vielleicht kann ich es den vergangenen Stunden in die Schuhe schieben, vielleicht auch dem nahenden Schuljahresende, jedenfalls habe ich mich selber eingesperrt und das zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Weit nach der 6. Stunde ist nämlich niemand mehr im Haus und die Reinigungskraft kommt erst am Abend. Freude, schöner Götterfunken! Da ist es ein Segen, dass ich zumindest mein Handy dabeihabe, um Hilfe kommen zu lassen. Es ehrt unseren Hausmeister, dass er nur kurz auflacht, als ich ihm meine Misere schildere. Unglücklicherweise befindet er sich auf dem städtischen Betriebshof und braucht wenigstens noch 40 Minuten, bevor er mich aus dem Keller herausholen kann.

Einigermaßen beruhigt schiebe ich das Handy in die Hosentasche und schaue zur Gewölbedecke, an der doch tatsächlich eine einsame Glühbirne hängt. Immerhin flackert sie nicht, doch die Spinnweben, die überall um mich herum hängen, lassen die Szene schon wieder so klischeehaft wirken, dass es in einem Film eindeutig schlechte Kritiken hageln würde. Ein kaltes Lüftchen zieht über meine Oberarme, was mir prompt eine Gänsehaut beschert. Ganz schön frisch hier! Ich wandere ein wenig zwischen großen Kartons voller Sanitärutensilien herum und staune darüber, dass sich im Regal 37 Klobürsten stapeln. Gibt es da Sammelbestellungen für? Im dahinter liegenden Raum befindet sich die Lehrmittelsammlung, wegen der ich mich überhaupt hier unten aufhalte. Ich suche nämlich die Box mit den Magneten. Selbstredend ist diese nicht vorhanden. Dafür finde ich eine ganze Schachtel Klebeband (eingesackt!), vier leere Holzkästchen in perfekter Größe (eingesackt!) und eine Hasenmaske aus Pappmaché (vorgemerkt für Ostern!). Außerdem tonnenweise Weihnachtsdekoration, Bierdeckel, leere Marmeladengläser, hoppla, noch mehr Bierdeckel und ausgeblichene Krepppapierblumen. Da liegen Feierlaune und Festtagsstimmung gleich neben Muff, Gilb und Grabbel. Und der Geruch erst! So eine Mischung aus klassischer Bildung und Moder. Ich nehme einen tiefen Atemzug. Hier kann man die Historie unseres Bildungswesens noch mit allen Sinnen erfahren.

Nach 20 Minuten des Herumstreunens wird es mir etwas langweilig.

Und hungrig.

Und kalt.

Ist aber auch blöd, das Ganze!

Da erscheint mir plötzlich die Schulpsychologin aus der Fortbildung: „Entspannen Sie sich im Alltag, wann immer sie können!“

Gut, denke ich, dann mach ich das jetzt mal. Ich lasse mich auf einen in die Jahre gekommenen Thron neben der Türe plumpsen, der offenbar einmal als Requisite in einer Märchenaufführung gedient haben muss, und lasse ganz entspannt den Blick schweifen, der unerwartet von einem Pferdekopf an der Wand gegenüber erwidert wird.

HUUUU!

Jetzt habe ich mich aber doch erschreckt! Leicht peinlich berührt hüpfe ich von meinem Sitz herunter, um mir den Kopf einmal genauer zu betrachten. Auch dieser ist aus Pappmaché hergestellt und innendrin hohl. Mir ist nicht ganz klar, warum die Maske grün angestrichen ist, aber die Herstellungsart zeugt von Qualität. Ich setze mir den Pferdekopf testweise auf und probe ein dumpfes Wiehern. Gar nicht mal schlecht, denke ich, als ich den Schlüssel im Schloss der Kellertüre höre. Noch mit dem grashüpfergrünen Pferdekopf angetan drehe ich mich um, höre einen Schrei und dann – Mistmistmist! – das altbekannte Flopp!

Ich ziehe mir die Maske ab und bin mindestens genau so überrascht wie die Kollegin, die mir gegenübersteht. (Allerdings bin ich nicht so blass und fasse mir auch nicht aufs Herz.) Ich entschuldige mich ganz zerknirscht vieltausendmal für den Schrecken, den ich ihr eingejagt habe und es ist sicher nicht sehr nett, dass ich sie dafür rüge, den Keil nicht unter die nun erneut zugefallene Kellertüre geschoben zu haben. Aber ich habe jetzt wirklich Hunger und es ist empfindlich kalt hier unten! Kälte und Hunger, das lässt das wahre Ich zum Vorschein kommen und meines ist – ich muss es zu meiner Schande gestehen – in diesem Falle nicht besonders leidlich. Die nächsten 30 Minuten vertreiben wir uns mit dem Austausch kollegialer Informationen („Die Magnete befinden sich im Lehrerzimmer.“ „Ja, Klebeband habe ich hier irgendwo gesehen.“ „Guck mal, wie viele Klobürsten!“) und dem Bau eines Bierdeckelhauses. Ihres wird größer, wahrscheinlich ist die Kälte Schuld. Um nicht völlig zu erstarren, greifen wir uns eine Klobürste und geben eine Version von We are the champions zum Besten, die ihresgleichen sucht. Trotzdem sind wir beide sehr froh, als endlich der Hausmeister seinen Kopf durch den Türspalt schiebt und ein fröhliches „Hallo, ihr Kellerkinder!“ herunterschickt.

Ich bedanke mich bei ihm mit einem herzlichen Niesen und einer frisch eingesungenen Klobürste.

Gegen Ende des Schuljahres werden wir eben alle ein bisschen gaga.

 

Metarmorphosen

Es ist ein bisschen wie Achterbahnfahren, dieses Abschiednehmen von den Viertklässlern. Nur mit weniger Übelkeit, dafür deutlich emotionaler. Ich hätte es nicht unbedingt erwartet, habe ich die Bindung zu meinen letzten Klassen doch immer für stärker gehalten, aber da habe ich mich wohl getäuscht. Am Vorabend war unser Abschiedsfest, das wir für die Eltern gegeben haben und nun sitzen die Viertklässler mit müden, aber leuchtenden Augen an ihren Tischen.

„Mein Vater hat geheult!“, posaunt Schmitti mit einer Mischung aus Stolz und leichter Peinlichkeit heraus.

„Ja“, stimmt Nino ihm zu, „meine Mutter auch, als ich ihr das Herz gegeben habe und wir dabei noch das Lied weitergesummt haben.“

„Ich fand alles toll!“, schwärmt Friederike, deren Oma mir am Ende unseres Bühnenprogramms stumm vor Ergriffenheit die Hand geschüttelt hat und gar nicht mehr loslassen wollte. „Und Sie?“

Ich überlege. Tatsächlich war der ganze Abend eine runde Sache. Die Kinder haben sich ins Zeug gelegt. Alle konnten ihre Texte und Lieder auswendig, niemand hat sich bei den Instrumentalstücken verspielt. Nicht nur ich habe an vielen Stellen eine ordentliche Gänsehaut vor Rührung bekommen.

„Für mich war am schönsten, als wir mit den Eltern gemeinsam das Schlusslied gesungen haben.“ Viele Kinder nicken, auch ihnen hat der leise Abschluss des Festes gefallen.

Alle sind sich einig, dass sie eine Superleistung auf die Bühne gebracht haben und ich stimme ihnen zu, es war ein großartiger Abend und eine tolle Show. Deine letzte hier, schleicht sich ein Gedanke in meinen Kopf, aber ich will ihn noch nicht weiterdenken, fühle doch auch ich mich genau wie meine Klasse irgendwie dazwischen. Jetzt sind es noch zwei Wochen, die aber randvoll mit Aktivitäten, Ausflügen, Aufräumen und Abschiednehmen sind. Eine seltsame Zeit. Und genau so seltsam fühle ich mich. Unausgeglichen, reizbar. Neben den Zeugnissen für die Viertklässler liegen die ersten Planungsbögen für die Neuen. Parallel dazu wächst der Altpapierstapel in der Kiste unter meinem Schreibtisch. Elf Jahre an einer Schule machen eine ganze Menge Papier! Alles will durchgesehen werden nach dem Aschenputtelprinzip: Die Guten ins Töpfchen, die schlechten…

Wo  ich meine ganzen Materialien lagern will, die sich jetzt noch in der alten Schule (oh, ich nenne sie jetzt schon die alte Schule!) befinden, weiß ich noch nicht. Vielleicht sollte ich einen Container mieten? Einen genauen Überblick habe ich noch gar nicht, verteilt sich doch alles schön auf mehrere Räume, einschließlich des Dachbodens. Ehrlich, Schuldachböden sollten abgeschafft oder zumindest versiegelt werden!

Ich gehe dann mal wieder räumen..

Alles dreht am Rad

Heute hätte ich die Drittklässler an die Wand klatschen können. (Ob in der Hoffnung auf fesche Prinzen oder freche Frösche sei mal dahingestellt. Hauptsache einen Moment Ordnung im Chaos.) Da fehlen auf einmal Hefte und Hausschuhe, Hausaufgabenhefte und – schlimmer noch! – jegliche Haltung. Die Kinder lümmeln auf ihren Stühlen und kleben an ihren Tischplatten als wäre die Schwerkraft dieser Tage mal eben verdoppelt worden. Dann noch die Hitze! Die Drittklässler benehmen sich wie Dörrpflaumen. Aufmüpfige Dörrpflaumen!

„Boah, Frau Weh“, stöhnt Giuliano als er von mir einen Vermerk wegen nicht gemachter Hausaufgaben kassiert, „Sie sind doch bestimmt auch froh, wenn Sie uns mal eine Weile nicht sehen, oder?“

Ich hebe meinen Blick vom Heft und schaue ihn mit schmalen Augen an. „Ja“, antworte ich, „das kannst du aber laut sagen!“ Eine Weile spielen wir das Spiel wer zuerst blinzelt. Giuliano verliert und grinst frech: „Aber nach spätestens drei Wochen vermissen Sie uns!“

Ich gehe mit: „Frühestens nach fünf!“

„Vier!“

Vielleicht viereinhalb! Aber nur, wenn du deine Hausaufgaben erledigst!“

„Warum müssen wir eigentlich noch arbeiten?“, schaltet sich da Sinan ein. „Mein Bruder auf Hauptschule muss gar nix mehr machen, die gehen nur noch draußen und Filme und so.“

Ich werfe einen bösen Blick in die Runde: „Hier wird bis zum letzten Tag gearbeitet. Ach, was sag‘ ich, bis zur letzten Minute!“

„In der letzten Minute singen wir aber. Mit Ihnen übrigens!“, entgegnet Friederike spitz.

Ich seufze theatralisch: „Ihr seid wirklich ein unmöglicher Haufen!“

Giuliano lacht frech: „Ha ha, Sie vermissen uns jetzt schon!“