Ramon

„Alleine essen macht dick!“

Mit einem Lächeln setzt sich unsere Schulsozialarbeiterin neben mich an den großen Tisch im Lehrerzimmer.

„Ich wünschte, ich hätte mehr in Kalorien investiert.“, antworte ich und schiebe ihr eine Dose mit Kohlrabi und Möhrenschnitzen zu. „Das hilft nicht.“

Sie nimmt sich eine Möhre. „Das ist eben nicht so gelaufen, wie du wolltest.“

Sie fragt nicht, sie stellt fest. Ich nicke. Eigentlich bin ich mit der festen Absicht in die Förderkonferenz gegangen, ordentlich Rabatz zu machen und deutlich mitzuteilen, dass ich dagegen bin, einen hochauffälligen Schüler aus dem zweiten Schuljahr in mein Rudel aufzunehmen. Von wegen Recht auf dreijährigen Verbleib in der Schuleingangsphase, das Kerlchen hat extremen Förderbedarf im Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Der sprengt mir den Unterricht. Genau wie er es die letzten zwei Jahre in der anderen Klasse gemacht hat. Der ist nicht Schüler Nummer 31, der ist Nummer 31 bis 38. Nicht, dass ich eine Wahl hätte. Bis ein eventuelles AO-SF durch ist, kommt er zu mir und den Erstklässlern, da ist nicht dran zu rütteln. Ich mache mir Sorgen. Sorgen um die Ruhe in der Klasse, um die Lernatmosphäre, um die Kinder. Um mich.

Und dann wurde ich Zeugin, wie seine Mutter schrumpfte. Nicht so richtig, eher so im übertragenden Sinn. Nach dem deutlichen Statement der Klassenlehrerin war sie noch einigermaßen gefasst. Auch nach dem niederschmetternden Bericht der Fachlehrer ging es noch. Als dann aber die Schulpsychologin, die Leiterin des Offenen Ganztags und der Fachmann von der Erziehungsberatung vom Leder ließen, war sie nur noch halb so groß. Höchstens. Sie hielt die Tischkante umklammert und presste die Lippen aufeinander, als sich unsere Blicke kreuzten und sie sofort den Blick niederschlug. Wie ein geprügelter Hund, ging es mir durch den Kopf. Scheiße.

Da kriegst du ein Kind und sofort beginnt die Maschinerie der Einordnung: Apgar-Werte, U1, U2 und so fort. Wenn alles gut läuft, prima. Und was, wenn nicht? Wie fühlst du dich, wenn das Wesen, das du geboren und schon geliebt hast, bevor es dir zum ersten Mal in die Arme gelegt wird, keine Spitzenwerte erzielt? Auffälligkeiten zeigt? Vielleicht sind es körperliche Defizite, dann arbeitest du dran, mit Ergo-, mit Logo- oder anderen Therapien. Du besuchst das SPZ, ernährst dein Kind glutenfrei oder führst die Beikost streng nach Plan ein. Du kannst handeln. Wie aber fühlst du dich, wenn dir vom ersten Besuch der Krabbelgruppe an gesagt und – schlimmer noch – direkt und indirekt gezeigt wird, dass dein Kind unsozial ist? Dass es aggressiv ist und – ganz sicher! – unerzogen. Dir wird mindestens eine Mitschuld gegeben und irgendwann kommt der Punkt, an dem du dich auch schuldig fühlst, denn all die anderen können sich ja nicht irren. Als Mutter versagt. Wie fühlt sich das an?

Der Chef blickt mich auffordernd an, ich bin dran. Meine Aufgabe ist definiert, ich soll der Mutter unmissverständlich klarmachen, dass ihr Sohn bei den Erstklässlern falsch aufgehoben ist. Weil es bereits zu viele so viele sind. Weil er nicht im Ansatz die Aufmerksamkeit von mir bekommen kann, die er benötigt, um lernen zu können. Weil ich mich verdammt nochmal nicht teilen, nicht aufspalten, nicht klonen kann. Weil er mehr Förderung braucht, als wir ihm an einer Regelschule angedeihen lassen können, Inklusion hin oder her. Sie muss einen Antrag auf Überprüfung sonderpädagogischen Förderbedarfs stellen. Denn als reiner Schulantrag ohne die Unterschrift der Eltern landet dieser beim Schulamt auf direktem Wege in Ablage P.

„Hat Ramon Ihnen erzählt, dass ich ihm einen Sondereinsatz aufgetragen habe?“ Die Mutter hebt den Blick und schaut mich fragend an. „Er ist mein Pausenkaffeedienst. Wenn ich Aufsicht habe, schicke ich ihn mit einer Tasse auf Kaffeemission. Drei Treppen hoch und drei Treppen runter. Mit Milch und ohne Verschütten. Er macht das großartig!“ Ich lache sie an. „Er ist total eifrig und schafft mittlerweile schon eine halbe Tasse zu mir zu bringen. Dann klatschen wir uns ab und verraten niemandem, woher die Pfützen auf der Treppe stammen. Tut mir leid“, sage ich zu meinem Chef gewandt, „aber das kommt jetzt bitte nicht ins Protokoll, das ist unser kleines, dunkles Geheimnis.“

„Doch“, antwortet die Mutter, „er hat von Ihnen erzählt, Frau Weh. Er mag sie.“

„Ich mag ihn auch.“ Eine kleine Pause entsteht. „Sie machen sich Sorgen, oder? Die mache ich mir auch. Die große Klasse ist nicht gut für ihn. Und gerade deswegen müssen wir einen Weg finden. Egal, wie Sie sich weiter entscheiden. Mein Vorschlag ist, dass wir uns ganz kleine Schritte vornehmen. Jetzt ist erst einmal nur wichtig, dass wir Ramon integrieren und zu einem Teil der neuen Klasse machen. Alles andere besprechen wir, wenn es soweit ist. Und ohne Ihnen allen auf den Schlips zu treten“, ich blicke in die Richtung, in der die Inquisition Schulpsychologin und der Erziehungsberater hinter ihren Tassen sitzen, „aber wir machen das lieber im kleinen Kreis. Der Antrag auf dreijährigen Verbleib ist eingereicht, offiziell sind wir doch jetzt hier fertig, oder?“ Als sich das Lehrerzimmer geleert hat, ist es still im Raum.

„Wie fühlen Sie sich jetzt?“, frage ich die Mutter. Sie zuckt mit den Schultern und weint leise.

„Hat Ramon bei Ihnen eine Chance?“

Ich überlege, hat er wirklich eine?

„Es ist ein Neuanfang. Wir müssen abwarten und aufmerksam bleiben.“

Wir besprechen die nächsten Tage, klären Material und Verstärkerplan ab. Ich bekomme die Nummer der Hausaufgabenhilfe zum baldigen Vorgehensabgleich und legen einen neuen Gesprächstermin fest.

„Raten Sie mir auch zum Antrag für die Förderschule?“

Alles in mir schreit ja.

„Was wünschen Sie sich für Ihren Sohn?“, frage ich zurück.

„Dass er eine richtige Chance hat und nicht alle immer sagen, ah, das war doch der Ramon! Immer ist es der Ramon!“ Sie zerknüllt ihr Taschentuch in der Hand. „Ich weiß, dass mein Sohn nicht einfach ist. Das war er nie.“ Sie weint wieder. „Aber er ist auch ein toller Kerl!“

Wieder wird mir bewusst, wie schwer es ist, die Stärken eines Kindes nicht aus den Augen zu verlieren, wenn die Schwächen so viel auffälliger sind, sich in den Vordergrund drängen und laut ihr Vorrecht herausbrüllen. Und doch können wir nicht immer das einzelne Kind im Blick haben. Mein Gott, ich habe Verantwortung für 30 Schüler! 30 Kinder, in all ihrer Individualität! Alle haben ein Recht auf Bildung und Erziehung, ja, auch auf Schutz vor den Ramons dieser Welt. Ich schlucke und versuche meine Ängste und Bedenken, die Gedanken an Sturm laufende Miteltern und eskalierende Gruppendynamik zu verdrängen und nicke Ramons Mutter zu. Die Entscheidung ist gefallen.

„Wir versuchen es.“

Als die Mutter gegangen ist, lege ich den Kopf auf die Tischplatte und schließe die Augen. Haben wir wirklich eine Chance?

31 Kommentare zu „Ramon

  1. Puh, das ist echt…
    Es regt zum Nachdenken an.
    Vieles, was du schreibst, kenne ich.
    Und immer sieht man oft nur das „Negative“.

  2. Danke für diesen Beitrag voller Idealismus, Hoffnung und den Perspektivwechsel. Und Respekt für diese Entscheidung bei dieser Klassengröße. Ich weiß, wovon ich spreche, bei einer jahrgangsgemischten Klasse mit 28 Kindern einschließlich eines Förderkindes. Diesen Blog lese ich sehr, sehr gerne. Es tut sooo gut, zu wissen, dass man nicht alleine ist mit seinen Visionen, Hoffnungen, Ideen, den Momenten zum Schmunzeln und den Momenten der Verzweiflung!

  3. Alle Achtung !! Das wird nicht einfach, aber wenn etwas gelingt, wird es eine ganz große Freude und ein wichtiger Schritt für alle Beteiligten

  4. Ich habe Tränen in den Augen.
    Du hast das Richtige getan, ganz sicher!
    Auch wenn es nicht funktioniert, das weiß man vorher nie.
    Und deine Zweifel sind wohl mehr als verständlich.
    Es machen sich die besten Wünsche und unendlich viele positive Schwingungen auf den Weg zu dir!
    Alle Liebe
    Britta

  5. Wow, jetzt sitz ich hier und hab eine Träne im Knopfloch, weil du so genau Herz und Kopf und Bauch getroffen hast. Was für eine Verantwortung wir doch oft tragen und welche Türen wir doch oft mit unseren Entscheidungen öffnen oder schließen. Ich wünsche ganz viel Kraft bei diesem Weg und dieser Chance, ein offenes Auge für alle Kinder und Geschehnisse und auch die Kraft und den Mut für Grenzsetzung, wenn es sein muss. Eine Gratwanderung in jedem Falle …

  6. Hut ab, liebe Frau Weh, vor deinem Handeln!
    Ich kenne (leider) beide Seiten, die als Lehrerin und die als Mutter. Vor vielen Jahren war ich zu einer Teilkonferenz meines Sohnes (damals 4. Klasse) als Mutter eingeladen, da er sich seinen Mitschülern, seinen Lehrerinnen und den Betreuerinnen der OGS gegenüber nicht so benahm, wie man es erwartet. Ich saß bei den verschiedenen Berichten auf meinem Stuhl und rutschte immer tiefer. Wäre da nicht die Mathelehrerin meines Sohnes gewesen (eine nicht besonders gut angesehene Lehrerin), die dann etwas Positives über ihn berichtete. So rutsche ich wenigstens nicht ganz unter den Tisch. Jedes Kind verdient seine Chancen, nur leider macht es uns unser Schulsystem nicht besonders leicht. Gerade die großen Klassen finde ich ein Unding!
    Ich wünsche dir viel Kraft und hoffe, dass deine Bemühungen auch belohnt werden.
    Genieße das lange Wochenende (in der Hoffnung, dass ihr auch eins habt).
    Liebe Grüße, Heike

  7. Landen die Schulanträge ohne Elternzustimmung tatsächlich beim Schulamt in Ablage P?
    Ich bin jetzt gar nicht im Bilde, um welches Bundesland es sich bei dir handelt, Frau Weh, aber in den meisten Ländern kann die Schule doch bei emotional-sozialem Förderbedarf sehr wohl einen Antrag stellen, auch OHNE Zustimmung der Eltern?!
    Dies war nur mein erster Gedanke beim Lesen.
    Ich finde es bewundernswert, wie du mit der Situation umgehst. Immerhin scheint es ja so, als wäre die Mutter gewillt, mitzuarbeiten und sie sieht auch selbst die Probleme.
    Das sind ja schonmal ganz gute Voraussetzungen.
    Da kann man nur die Daumen drücken!
    Aber man sollte das Wohl der anderen 30 Kinder auch nicht ausblenden… Es kann klappen, es kann auch schief gehen, das ist ja klar. Hoffen wir mal das Beste!
    LG
    Manu

  8. Deine Worte. …einfach ein Wahnsinn. Sie tun so gut! Auch wenn es manchmal schwer fällt, aber Herz und Bauch sind so wichtig! Danke für deinen kleinen Wachrüttler! Habe auch so ein Kind in meiner Klasse!
    LG Grille

  9. Ich weiß genau, wie es dir geht! Mein Ramon hieß Tobias und war insgesamt 6 Jahre in meiner Klasse. Ich habe eine Mehrstufenklasse und in Österreich haben wir gottseidank nur 25 Kinder in der Klasse. Es war schwer, manchmal habe ich geglaubt, ich gebe auf, aber wir haben eine großartige Beziehung aufgebaut und es gemeinsam -auch mit einer total verzweifelten Mutter- geschafft. Dazu hat es viel Liebe und Geduld gebraucht und vor allem auch
    das „getragen“ und „ertragen“ werden in der Gruppe. Ich wünsche dir viel Kraft für dich und auch dieses Kind, das wahrscheinlich genau dich braucht :-)! Ganz liebe Grüße, Gela

  10. Wow!!! Liebe Frau Weh, die Chance hast du ihm doch schon gegeben, egal, wie der Versuch ausfällt. Du hast gezeigt, dass du in Ramon nicht nur den „Störfaktor“ und das „Risiko“ siehst, sondern ein Kind, das etwas kann, mit dir kooperiert und dem du etwas zutraust. Und der Mutter hast du das ebenfalls bedeutet. Mit deinem Bericht hast du uns Lesern ebenfalls – mal wieder – gezeigt, dass wir nicht nur auf Leistung, Funktionieren, … achten dürfen. Natürlich sind da die anderen Kinder, die dann häufig benachteiligt werden. Da gerecht zu sein, gelingt vermutlich nie. Aber du schaffst kleine Lichtblicke und Sonnenstrahlen und das ist sehr viel, ganz großes Hutziehen! Achte trotzdem gut auf dich, man kann nicht alle Schäden heilen und muss manchmal auch Dinge tun, die weh tun. Ich drücke dir die Daumen, dass ein kleines Wunder geschieht, du volle Kaffeetassen erhältst und deine Nerven behältst. Alles Gute, Sissi

  11. Großartig Frau Weh!
    Ob ihr eine Chance habt, das kann hier wahrscheinlich keiner beantworten und wird nur die Zeit zeigen. Aber Sie scheinen der einzige Mensch zu sein, der überhaupt bereit ist, Ramon eine Chance zu geben und nicht von vorneherein einen Stempel aufzudrücken.

  12. Liebe Frau Weh,

    dein Beitrag hat mich sehr gerührt und berührt. Ich finde es großartig, wie du dich für Ramon einsetzt und einsetzen willst. Leider wird mein Beitrag jetzt kritisch und ich hoffe, dass er richtig ankommt.
    Ich habe mich in der Grundschule auch oft für solche Kinder eingesetzt, da sie mir sehr am Herzen liegen. Aufgrund von unvorhersehbaren Ereignissen landete ich dann vor Jahren in der Förderschule für soziale und emotionale Entwicklung. Da habe ich jetzt eine winzige Klasse, voller Ramons. Und ich habe festgestellt, dass hier eine individuelle Förderung deutlich besser funktioniert. Die Kinder fühlen sich entlastet, werden gelenkt und unterstützt, haben Rückzugsmöglichkeiten, die du mit so vielen anderen Kindern gar nicht bieten kannst. Und wir haben die Zeit, um mit dem Einzelnen zu reflektieren und Ziele festzulegen.
    In den letzten Jahren haben meine Kollegen und ich beobachtet, dass die Kinder immer später zu uns kommen. Sie sind also älter und haben mehr erlebt und ertragen. Vor wenigen Jahren war es noch so, dass diese Kinder ein bis drei Jahre bei uns waren. Dann konnten sie wieder an öffentliche Schulen umgeschult werden. Heute ist es so, dass sie so spät an die Förderschule kommen und dann überaltert sind. Das heißt, dass sie schon eine oder mehrere Jahrgangsstufen im normalen System wiederholt haben und bei uns kaum noch die Chance haben einen normalen Schulabschluss (ja, den kann man bei uns erwerben!!) erhalten können, da sie ihre Schulpflicht erfüllt haben!!

    Dir, Ramon und deinen anderen Schüler wünsche ich, dass ihr eine Gemeinschaft werdet und sich Ramons Verhaltensauffälligkeiten vermindern. Die Chance besteht durchaus. Habe ich selbst als damalige Grundschullehrerin in einigen Fällen erlebt. Wenn du aber merkst, dass es nicht innerhalb eines Jahres (oder ein ähnlicher Zeitraum) klappt, bitte ich dich sehr an meinen Post zu denken und im Sinne von Ramon zu handeln. Vielleicht ist es dann noch rechtzeitig, so dass er nach wenigen Jahren auf der Förderschule ganz normal den Unterricht besuchen kann. Möglicherweise vielleicht sogar mit seinen alten Klassenkameraden??

    Dir wünsche ich ganz viel Kraft und Energie und Ramon wünsche ich viel Akzeptanz und dass er von dem positiven Klima profitiert.

    Herzliche Grüße!

    1. Danke dir für deinen ausführlichen Kommentar, in dem ich keinerlei Kritik erkenne, sondern schlicht und ergreifend die Wahrheit.
      Zweifellos wäre Ramon an einer entsprechenden Förderschule wesentlich besser aufgehoben als er es bei uns ist. Leider haben wir in NRW aufgrund der Illusion einer Inklusion zum Nulltarif kaum Chancen, Schüler frühzeitig abzugeben. Ohne Elternantrag funktioniert gar nichts, außer es liegt Selbst- oder Fremdgefährdung vor. Selbst mit Elternantrag obliegt der Schule die Bringpflicht nachzuweisen, dass zuvor alle möglichen Förderangebote eingesetzt wurden. Je nach Sichtweise der Schulaufsicht kann das Verfahren dann bereits an dieser Stelle abgebrochen werden wegen mangelnder Förderung. Läuft es weiter, weil lückenlose Förderpläne dokumentiert sind, dann kann die Dauer des Verfahrens bis zu einem Schuljahr betragen. In Ramons Fall wäre ein Wechsel also zum Schuljahr 2016 / 17 möglich. Da hat er dann bereits drei Schuljahre bei uns durchlaufen. Ich finde das genauso falsch wie du, besonders in Hinblick darauf, dass unsere Förderschulen hervorragend ausgestattet sind und die Kollegien über die entsprechende Ausbildung verfügen.
      Meine Hoffnung ist, dass ich die Mutter beim Elterngespräch in einigen Wochen, wenn ich Ramon im Unterricht erlebt habe, davon überzeugen kann, dass ein Antrag der richtige Weg ist. Zunächst war es mir aber wichtiger, ihr das Gefühl zu geben, dass ihr Sohn von mir angenommen wird und dass er eine weitere Chance erhält. Mit welcher Begründung hätte ich, die ich ihn bisher noch nicht unterrichtet habe, ihr von der weiteren Regelbeschulung abraten sollen? Hörensagen? (Oho, hier merkt der kundige Leser die zurückliegenden vier Staffeln Anwaltsserie 😉 ).
      Ich hoffe für uns alle, dass sie zustimmt und Ramon möglichst bald die Förderung erhält, die ich ihm in diesem System mit Sicherheit nicht geben kann. Aber tatsächlich kommt es zum jetzigen Zeitpunkt nicht auf zwei oder drei Wochen an.
      Liebe Grüße zurück.

  13. Liebe Frau Weh, danke für deine offenen Worte. Du hast mir direkt aus der Seele geschrieben. Wie oft verlieren wir im alltäglichen Stress den Blick fürs Positive. Wer schwierige Kinder in der Klasse hat, weiß, wie gründlich man manchmal suchen muss, um das Gute immer zu finden. Danke auch dafür, dass du uns auch wieder mal an die andere Seite der Geschichte erinnert hast. Das Leid dieses einzelnen Kindes und seiner Mutter geht oft hinter den Bedürfnissen der Masse unter.
    Ich drücke euch ganz doll die Daumen für euren Weg. Lass uns bitte teilhaben, wie es läuft.
    Liebe Grüße
    Bettina

  14. Liebe Frau Weh,
    egal, ob es klappt oder nicht: Du hast durch diese Entscheidung einen so starkmachenden Punkt in das Leben von Ramons Mutter gesetzt, der unglaubliche Kräfte auslösen kann. Gerade wenn sich die große Klasse nicht als möglich für Ramon herausstellen sollte. Beide, Ramon und seine Mutter, sind in dir jemandem begegnet, der trotz der Widrigkeiten unserer RegelschulStruktur, an sie glaubt. Sie nicht fallen lässt – weil zu anstrengend. Ich finde, dass du da ganz große Klasse gezeigt hast!
    Nichtsdestotrotz auch von mir der Wunsch an dich: Verlier auch dich nicht aus dem Blick. Du schreibst von den 30 Kindern. Und dein Kopf liegt am Ende auf dem Tisch. Verlier ihn nicht.

  15. Liebe Frau Weh,

    vielen herzlichen Dank für deine ausführliche Antwort.
    Da wurde mir wieder bewusst, wie unterschiedlich die Bundesländer die Be- und Umschulung handhaben. In Bayern, wo ich unterrichte, wird es auch immer schwieriger, aber es ist machbarer als bei euch. Das es so schwierig (also unmöglich) ist, war mir bislang nicht bewusst!
    Unter den von dir beschriebenen Umständen muss ich auch sagen, dass du mehr als lehrbuchhaft reagiert hast! Du hast der Mutter wieder etwas Mut gegeben und ihr vor allem auch wieder eine neue (alte, aber verschüttete) Sichtweise auf Ramon ermöglicht.
    Ich hatte schon viele Elterngespräche, wo die (meist) Mütter in Tränen ausbrachen, wenn man etwas Positives über ihr Kind sagt. Ein Lob ist hochemotional und vor allem weittragend. Zunächst für Eltern und Kind, wenig danach auch für dich und anschließend in der Klasse spürbar.

    Ich wünsche dir die notwendige Energie, durch das nächste Jahr möglichst wenig beschwert zu kommen!! Bei uns in der Förderschule gibt es mehrere erzieherische Slogans. Zwei davon, die eigentlich das Gleiche aussagen, möchte ich dir mitgeben:
    1. Ressourcen- und nicht defizitorientiert handeln. (Oder auf Englisch: Catch him, when he is being good!). Dein Beitrag zeigt, dass du das schon tust, aber ein paar Schlagworte helfen ab und an.
    2. Stärke die Stärken von Ramon, schwäche die Schwächen.

    Ich drücke dir die Daumen, dass du die Mutter ganz auf deine Seite bekommst!

    Alles Gute!!!

  16. Eine sehr mutige Entscheidung. Ganz schön schwer, das Wohl eines einzelnen mit dem Wohl von 30 weiteren Kindern abzuwägen. Ich hoffe, dein Mut bringt dir Respekt ein, da der Hauptteil der Last vor allem auf deinen Schultern ruht. Ganz egal, wie es ausfällt, zeigt das aber, dass du eine wundervolle Lehrerin bist, die an ihre Kinder glaubt!

  17. Herzlichen Glückwunsch zu dieser Entscheidung 🙂
    Ich habe eigentlich alle wirklich schwierigen Kinder, mit denen ich je zusammengearbeitet habe, wirklich lieb gewonnen und einen Weg gefunden, wie man mit ihnen umgehen konnte, wenn ich sie erstmal richtig kennen gelernt habe. Allein, die Zeit, jedes Kind richtig kennen zu lernen fehlt bei 30 Kindern in einer Klasse vorne und hinten.

  18. Ich kann deine Entscheidung sehr gut verstehen und denke, du bist so vernünftig auch im Umgang mit deinen eigenen Ressourcen, dass du merkst, ob es gut geht für euch alle oder nicht. Als Mama eines Kindes, das in der ersten und zweiten Klasse mehrere Ramons in der Klasse hatte, verstehst du sicher auch, wie erleichtert wir Eltern waren, als die zwei aggressivsten Kinder endlich aus der Klasse waren und die Lehrerin anfangen konnte, Unterricht mit dem verbliebenen Rest zu machen. So leid es mir um die beiden Jungen tat, die im Grunde nichts für die an ihnen ausgebliebene Erziehung konnten.

    1. Das Problem ist, dass ich keine Wahl habe. Ich könnte mich vor das Schulamt stellen und laut brüllen, dass es nicht funktioniert. Leider interessiert das keinen. So ein AO-SF Verfahren ist eine Sache für sich. Und egal, wie es läuft, ein Jahr wird der Junge so oder so bei uns bleiben. Hoffen wir also für alle Beteiligten, dass es irgendwie klappt …

  19. Liebe Frau Weh, ich sitze hier mit Tränen in den Augen. Tränen aus Dank, dass du der Mutter ein Stückchen hochgeholfen hast. Aber auch Tränen, weil Ramon definitiv ein großes Päckchen zu der täglichen Last dazu ist, die du ohnehin als Lehrerin schleppen. Ich wünsche mir, dass sich Ramon integrieren lässt, dass er von dir und von der Klasse profitieren kann. Aber ich wünsche mir auch, dass der Mutter weitere Hilfen zur Seite gestellt werden können, dass sie den Mut findet und die Kraft, Anträge zu stellen, die nötig sind.

    Wir schulen jetzt ein Kind zur 8. Klasse um. Seit drei Jahren höre ich nichts positives aus dem Mund der Klassenlehrerin. Probleme werden nicht direkt ans Elternhaus weitergegeben, die kommen angeblich nicht mal bis zur Klassenlehrerin. Ein Fragebogen zu medizinischen Tests (Wahrnehmungsstörung) konnte nicht bewertet werden, weil jegliche Objektivität fehlte. Irgendwas läuft da falsch und wir bekommen nicht raus, was es ist. Egal was ich sage, egal was die Psychologin der Klassenlehrerin direkt sagt – alles wird wiederlegt, wird abgewiegelt. Ja, mein Kind ist ein kleiner Ramon. Mit Mangel an emotionaler Kompetenz, mit Problemen in der sozialen Kompetenz. War alles bekannt, war alles kein Problem … Ausgliederung wird akzeptiert, Ausschluss aus Gruppenarbeiten ebenso.

    Hat irgendwer mal aufgedröselt, warum Ramon so ist? Ob es medizinisch bedingte Defizite sind oder psychologische? Wo unsere herstammen, weiß ich. Auch das es kein Versagen in der Erziehung ist. Aber auch, dass das nicht nachschulbar ist. Man kann es bedingt lernen, aber dazu muss das Kind bereit sein – und reif genug dafür.

    Wir schulen um, die neue Schule weiß alles. Alles was es über das Kind zu wissen gibt, alle meine neutral vorgebrachten Kritikpunkte, unsere Wünsche. Sie nehmen das Kind. Ich bete, dass in den zukünftigen Klassenlehrern ein wenig Frau Weh drinsteckt.

  20. Frau Weh,

    Ja! Ja, ihr habt eine Chance! Und egal, wie das Ganze in Eurem Klassenzimmer ausgehen wird: in 20 Jahren wird Ramon am Frühstückstisch bei einer halb vollen Tasse Kaffee sitzen und sich dankbar an die Lehrerin erinnern, die ihm diese Chance gegeben hat.

  21. Ich muss jetzt schnell noch eine Spur hier hinterlassen, damit mein Häkchen für „Informiere mich …“ auch abgesendet wird.

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