Anspannung und Stress türmen sich über mir auf wie Wellenberge. Ich atme.
Es ist der erste Schultag nach den Sommerferien. Genaugenommen hätte ich heute noch nicht einmal Unterricht, sondern könnte noch ein bisschen im Klassenraum herumwurschteln. Ein netter Willkommensanschrieb hier, ein kleines Blümchen dort – man kennt das ja. Schließlich kommen die Erstklässler erst einen Tag später erwartungsfroh angestiefelt. Alle vier Jahre kann man sich auf diesen Extratag freuen, während die anderen Kolleginnen bereits Sommerferienerlebnisse anhören, Bücher verteilen und schauen, welche Veränderungen der lange Sommer ihren Schülerinnen und Schülern hat angedeihen lassen: ein paar zusätzliche Zentimeter in der Länge, fünf neue Sommersprossen oder ein verschrammtes Knie.
Verdient man allerdings als Musikfachkraft sein Geld, kann man auf diesen Luxustag keinesfalls zugreifen! Da wird geprobt, geprobt, geprobt. Denn die morgige Einschulungsfeier soll ja ganz besonders schön werden. Die Eltern, Frau Weh, denk an die Eltern! Dieses Jahr habe ich sogar den Triple geholt: And the GoESch* goes to Frau Weh! Yeah!
(Immerhin kann ich mir den Tag dann auch so gestalten, wie ich es mag und – wichtiger noch – ich kann all die Dinge weglassen, die eh nur vergebene Liebesmüh‘ sind. Andenkenzettel für die Eltern? Weg damit! Aufwendige Deko passend zum Gottesdienstthema? Ach, lass mich doch in Ruh!)
Trotzdem muss ich mich mühevoll durch die nächsten vier Stunden atmen, denn natürlich ist ALLES weg: Kostüme, Texte, längst einstudierte Lieder – alles futsch. Ja, da hilft nur atmen. Vor meinem inneren Auge lasse ich das Bild eines Wirsings entstehen. Ich bin ein praller, ein wenig schrundiger, aber sehr stattlicher Kohl mit der erstaunlichen Eigenschaft des Mirdochegals! Lotuseffekts. Micha hat seinen Text vergessen? Hier hast du ein Textblatt! (tröpfeltröpfel) Lenas Mama hat das Kostüm weggeworfen, weil es so streng roch? Nimm meinen Schal, Kind! (plätscherplätscher) Frau Weh, kannst du mal ans Telefon, das Schulamt weist dir noch ein besonderes Kind zu? (plitschplatsch) Lasset die Kindlein zu mir kommen!
Willkommen im neuen Schuljahr!
*Gottesdienst – Einschulungsfeier – 1. Schulstunde. Alles in meiner Hand. Jucheissassa!