Viel Rauch

Ein wenig scheine ich mich verloren zu haben in den Turbulenzen der letzten Wochen.

Ständige Besuche im Klassenraum, inhaltlich wieder und wieder gleiche Gespräche mit verschiedensten Stellen, seitenweise diagnostische Beobachtungen, Fallanalysen und Beurteilungen. Das Ergebnis? Unbefriedigend. Das AO-SF für Ramon ist abgelehnt worden, die Schulbegleitung ebenso und die Begründungen fühlen sich an wie eine ins Gesicht geworfene Torte: zuckersüß, aber eben doch eine Klatsche. Die Förderschulkolleginnen, die Ramon getestet und dem Unterricht mehrere Tage beigewohnt haben, waren sich einig: Es läuft super! Ramon hat eine funktionierende emotionale Bindung zu mir aufgebaut, er respektiert mich und passt sein Verhalten zunehmend positiv der Klasse und den dort herrschenden Regeln an. Er hat die Chance, die ihm der Wechsel in diese Gruppe geboten hat, nicht nur erkannt, sondern in der ihm eigenen Weise am Genick gepackt und zur Blutsbrüderschaft gezwungen.

„Ja, Frau Weh, die 30 anderen Kinder drumherum, das ist heftig. Sie haben unser aufrichtiges Bedauern und unseren Respekt. Aber für Ramon, der die Fähigkeit und Einsicht zeigt, sein Verhalten zu ändern, ist es hier tausendmal besser als an einem Förderort für sozial-emotionales Verhalten. Da wären es nicht die guten Dinge, die er sich abschauen würde.“

Auch der Schulpsychologe findet professionell positive Worte. Er lobt das strikte Classroommanagement, die Arbeitsatmosphäre und das Sozialverhalten der Zweitklässler. Die Jugendamtsmitarbeiterin stimmt ihm zu. Ramon ist erfolgreich in die Gruppe integriert, da könne § 35a SGB VIII leider nicht greifen. Die Pausenprobleme? Ja, nun, vielleicht könnte man die Aufsicht aufstocken? Das störende Verhalten in der Klasse? Naja, da waren ja auch noch ein paar andere Kinder auffällig! Die Schülerzahl scheine ihr etwas hoch, aber, gut, so sei es nunmal. Sicherlich könne eine Schulbegleitung die Lehrerin entlasten, aber dafür sei sie nicht gedacht. Tut uns leid, Frau Weh.

Mitten in diesem Gemenge dann der Vorfall mit der Kollegin und der Schulleitung. Zu viel. (Ich wollte schon viel früher danke sagen für die aufbauenden und verstehenden Kommentare, allein ich konnte nicht. Ich musste mich einkugeln und Wunden lecken. Aber jetzt geht es wieder. Also: Danke für das Verständnis, für die Aufmunterung und danke für Farin Urlaub! Was habe ich für ein Glück mit diesem Blog und mit euch als Leserinnen und Lesern!) Ich mache einen Haken hinter die letzten Wochen und besinne mich auf das, was offenkundig ganz gut läuft: der Unterricht mit den Zweitklässlern. Natürlich bleibt ein schales Gefühl zurück. Alle beteiligten Stellen haben erkannt, dass Ramon Hilfe braucht, aber niemand fühlt sich zuständig, weil es für ihn in dieser Klasse funktioniert. Das bleibt bitter, auch wenn es in schöne Worte gekleidet ist.

Jetzt sind es noch zwei Wochen bis zu den Herbstferien. Die werde ich den Zweitklässlern und auch mir so ruhig machen wie eben möglich. In den Fokus nehme ich die Pausensituation. Auch hier muss eine Entspannung machbar sein, ohne zwangsläufig mehr Lehrerinnen in der Aufsicht zu haben. Vielleicht greift ein Verstärkersystem? Die Sache mit der Kaffeetasse läuft nach wie vor gut, aber ich kann beim besten Willen nicht noch mehr Kaffee trinken. Da krieg ich’s ja am Magen …

Schriftverkehr

Der Zustand, der keiner ist, darf so nicht bleiben.So schön es ist, dass die Kinder sich untereinander akzeptieren, meine Akzeptanz reicht nicht so weit. Ich möchte, dass keiner meiner Schüler einer Gefahr ausgesetzt wird oder blaue Flecken in der Pause kassiert. Auch im 2. Schuljahr setze ich eine Lern- und Arbeitsatmosphäre voraus, die frei von Störungen ist. Und schlussendlich kann ich es nicht verantworten, dass meine Aufmerksamkeit in so hohem Maße nur auf ein Kind gerichtet ist. Eine Schulbegleitung für Ramon ist kein pädagogisches Zückerchen, das mir den Alltag versüßen würde, sondern eine notwendige Bedingung zur Regelbeschulung des Kindes.

Da das Schulamt auch weiterhin keinen Handlungsbedarf sieht, wende ich mich an das Jugendamt als kostentragende und letztendlich entscheidende Instanz. Parallel schalte ich die Schulpsychologin ein, die im Fall Ramon bereits die letzten zwei Jahre involviert war, und bitte um einen Unterrichtsbesuch. Ich telefoniere mit der Psychologin des Jungen und der Erziehungsberatungsstelle, die die Familie betreut. Morgen gehe ich erneut der Schulsekretärin der benachbarten Förderschule auf die Nerven, wann endlich eine Kollegin für das sonderpädagogische Gutachten vorbeikommt. Alle bitte ich um schriftliche Unterstützung bezüglich der so dringend benötigten Schulbegleitung und bereite mich anhand der Schriftstücke, meiner Unterlagen und einer Schülerakte, die so dick ist, dass sie nicht mehr in meine Tasche passt, akribisch auf das Gespräch mit dem Jugendamt vor. Es geht um alles. Oder nichts.

Der Ist-Stand:

  • Ramon ist offiziell seit diesem Schuljahr Schüler des 2. Schuljahres. Es ist sein 3. Schulbesuchsjahr. Der dreijährige Verbleib in der Schuleingangsphase ist Bedingung für die Eröffnung eines Verfahrens zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Bereich emotionale und soziale Entwicklung. Nach mehreren Gesprächen hat sich die Mutter überzeugen lassen, dass eine Förderschule der bessere Lernort für ihr Kind wäre.
  • Parallel zum AO-SF Verfahren läuft der Antrag zur Schulbegleitung. Seit einiger Zeit kann dieser nicht mehr direkt beim Jugendamt gestellt werden, sondern es muss der Dienstweg eingehalten werden.
  • Im Vergleich zum letzten Schuljahr hat sich Ramons Unterrichtsverhalten deutlich gebessert. Er verweigert nicht mehr komplett, sondern nimmt am Unterrichtsgeschehen teil. Dabei braucht er ständige Aufmerksamkeit, starke Lehrerpräsenz und konsequentes Handeln. Laut der behandelnden Psychologin ist eine Verhaltensänderung nur über eine funktionierende Beziehungsebene zu erreichen.
  • Die Einsatzbereiche, in denen eine Schulbegleitung meines Erachtens besonders notwendig sind, sind die Begleitung außerhalb des direkten Unterrichts (Raumwechsel, Lehrerwechsel, Pausen), sowie die Hilfestellung während der Lernzielkontrollen, die er im besten Fall in einem separaten Raum ableisten sollte, um die eigene, aber auch die Konzentrationsfähigkeit der anderen Schüler nicht zu beeinträchtigen.
  • Der erste Einsatzbereich dient unmittelbar dem Schutz vor Selbst- und Fremdgefährdung.

Nach meinem letzten Beitrag zu Ramon habe ich eine E-Mail erhalten, in der mich jemand fragt, wie ich es vor mir selber vertreten könnte, ein solches Kind nur aufgrund meines überzogenen Selbstbildes auf die anderen Kinder loszulassen. Ob ich so überzeugt von mir und meiner naiven Gutherzigkeit sei, dass ich die Verantwortung dafür tragen könnte, dass Ramons Mitschüler Aggressionen und Gewalt ausgesetzt wären. Mein Verhalten sei zutiefst unpädagogisch und unprofessionell. Und die Tatsache, dass ich geradezu danach geschrien hätte, Ramon in meiner Klasse aufzunehmen, jawohl der Gipfel allen unprofessionellen Handelns. Schön, wenn man sich selber so toll fände. Aber was könne man von einem Blog, der sich Kuschelpädagogik nenne, schon erwarten?

Liebe mir unbekannte Schreiberin,

zunächst: ich konnte Ramon nicht ablehnen. Es ist mein Job Kinder zu unterrichten. Alle, wie sie da sind. Da kann ich nicht einfach sagen, ätsch, dich will ich nicht in meiner Klasse! Es. Ist. Mein. Job. Ramon musste die Klasse wiederholen, also wiederholt er. Natürlich hätte ich der Mutter damals sagen können, dass ich dagegen bin. In die Klasse wäre er mir dennoch gesetzt worden. Und was wäre das für ein Start geworden? So konnten wir eine Vertrauensbasis schaffen, aufgrund derer sich die Mutter davon überzeugen ließ, den AO-SF Antrag zu stellen. Der Rest ist Bürokratie, Durchhaltevermögen und ein langer Atem. Denn den braucht es, um Hilfe zu bekommen in so einer Situation. Also Ramon war alles andere als mein 31. Wunschkind.

Und zum Rest: Ich verbringe täglich mehrere Stunden mit unheimlich vielen Kindern in einem Raum. Und sie lernen noch etwas dabei! Klar finde ich mich da toll. Einer muss das doch tun! 😉

 

Schulbegleitung selbstgemacht

Das neue Schuljahr begrüßt mich mit der Mitteilung, das Schulamt habe die beantragte Schulbegleitung für Ramon abgelehnt. Die Notwendigkeit sei nicht in der gebotenen Höhe vorhanden. Dies sieht der Vater von Lilly anders, hat Ramon seiner Tochter doch bereits am ersten Schultag nach den Ferien einen gezielten Tritt in den Genitalbereich verabreicht, der ein sichtbares Hämatom zur Folge hatte. Auch die am Folgetag eingeworfene Fensterscheibe scheint eine gewisse stumme Dringlichkeit auszustrahlen, aber die erneut kontaktierte Schulrätin rät mir zur Lehrerfortbildung zwecks Verbesserung des Umgangs mit auffälligen Schülern. Ich kann nur den Kopf schütteln. Ich weiß gar nicht, wie viele solcher Veranstaltungen ich in den letzten Jahren bereits besucht habe. Mich zum Klonen zu schicken wäre deutlich sinnvoller gewesen. (Für den Grundschulbereich gilt unbedingt und ganz ohne Frage: Klonen kann sich lohnen!)

So sitzen die Zweitklässler bereits nach nur einer Schulwoche in einer Krisensitzung beisammen. Unter ihnen der kopfhängenlassende Ramon, der – wider Erwarten, auch meines – ganz selbstverständlich einen Platz in der Klassenstruktur eingenommen hat und sein Störverhalten während des Unterrichts deutlich nach unten korrigiert hat, fast ganz ohne mein Zutun. Woraufhin die Zweitklässler genau das tun, was Kinder untereinander eben tun, sie rücken ein bisschen zusammen und machen Platz in der Klassengemeinschaft. Schließlich gehört Ramon jetzt dazu. Der ist echt seltsam. Aber na und, dann ist das eben so.

Ja, wir machen Abstriche. Die Hausaufgaben sind selten vollständig, die Geräusche, die Ramon während stiller Arbeitsphasen produziert, klingen eigentlich immer irgendwie unanständig und sein Vokabular … ach je. Noch fällt er jeden zweiten Tag vom Stuhl, aber jetzt landet er auf dem Boden und nicht mehr auf seinem Sitznachbarn. Wenn wir eine Lernzielkontrolle schreiben, geht er ab wie eine Rakete, rast durch den Klassenraum und schlägt mit dem Lineal auf sämtliche Möbel. „Wir ignorieren Störungen“ ist zur neuen Kernregel der Zweitklässler geworden, mantramäßig bete ich es ihnen vor. Ob ich damit sie oder mich mehr beruhigen will? Wer weiß. Aber er hat Kontakte geknüpft, sogar positive. Immernoch ist er mein Kaffeedienst und lässt jetzt schon über die Hälfte im Becher. Emma, deren Eltern schon im Vorfeld der Versetzung die Chefetage in Aufruhr versetzten, reicht ihm dann mit freundlichem Gesicht den Wischlappen und zeigt auf die Pfützen. Ramon wischt auf und sagt „danke, Emma“. „Bitte schön, Ramon“, sagt Emma und ich sitze daneben und bin sprachlos ob der Sogwirkung eines funktionierenden Miteinanders.

Aber die Pausen, die sind schrecklich. Und der Weg zur Turnhalle. Lehrerwechsel. Die Toilettengänge und eigentlich alle Phasen zwischendurch. Ramon ist kein Kind, das zwischendurch gut verträgt. Zwischendurch, das ist Kontrollverlust, Chaos und Aggression. Da bin ich nicht da, um einen Blickkontakt herzustellen, eine Hand auf eine Schulter zu legen oder leise „Turbopower“ zu flüstern, unser Codewort für superheldenmäßiges Wohlverhalten. Hier wäre der Raum für eine Schulbegleitung, die Präsenz zeigt, wenn ich es nicht schaffe, weil ich ungeklont eben nicht überall sein kann (was eigentlich verwunderlich ist, denn immerhin habe ich auch hinten Augen und megagute Ohren, die fast alles mitbekommen. Ich kann zwar keine Wände hochlaufen, aber angesichts einer zu Boden fallenden Kakaoflasche sind meine Reflexe legendär. So ganz will ich einen möglichen Spinnenbiss also nicht ausschließen. Grundschullehrerinnen sind irgendwie schließlich allesamt Wonder Women!)

„Ramon bittet euch um Hilfe“, dolmetsche ich die Körpersprache des neben mir hockenden Häufchen Elends. „Im Unterricht klappt es mittlerweile ganz gut, aber der Weg in die Pause und zurück, der ist noch sehr, sehr schwierig.“ Die Zweitklässler nicken wissend. So viele haben schon Schläge, Anrempler oder Tritte kassiert. Dass bisher erst drei Familien bei mir vorstellig geworden sind, ist eigentlich überraschend. „Wer von euch könnte sich vorstellen, Ramon zur Seite zu stehen und ihm dabei zu helfen, unsere Regeln zu beachten?“ Als sich über ein Drittel der Klasse meldet, stupse ich Ramon an und flüstere ihm zu, er solle mal aufsehen. Schnell sucht er sich Begleitung für die nächsten Tage aus und verschwindet wieder in seiner Schutzhaltung. Ich nicke den Zweitklässlern zu: „Wir schaffen das!“

„Wir schaffen alles!“, antwortet Can im Brustton der Überzeugung und ich möchte ihm am liebsten ein High five für das wir geben. Vor einem Jahr hätte er noch ich gesagt.