Endspurt

So langsam reicht es. Die Viertklässler sind durch … und ich bin es ebenfalls.

Auch wenn wir eine gute Zeit miteinander hatten, jetzt ist der Punkt erreicht, an dem das Ende greifbar und nötig ist. Einige haben bereits abgeschlossen mit der Grundschule, quittieren jede Hausaufgabe und jede Unterrichtseinheit mit einem genervten „Häääh!?“, begleitet von raumgreifenden Gesten, die ausdrücken wollen, dass Arbeit zum jetzigen Zeitpunkt ja wohl reine Schikane sei und überhaupt, der Cousin von der anderen Schule, der guckt jetzt nur noch Filme im Unterricht! Frau Weh, warum machen wir das eigentlich nie? Hääääh!? Wofür eigentlich noch arbeiten, scheinen sie zu denken, ist doch alles gesagt in dieser Angelegenheit.

Die Kinder gruppieren sich neu, aufgeteilt in die eine Schule und die andere und noch weitere. Traurig für diejenigen, die alleine weiterziehen mit dieser Mischung aus Trotz und Ängstlichkeit. Zwischendurch dann doch wieder aufflammend ein Wir-Gefühl, meist bei den Proben zu Abschlussfest und Gottesdienst. Dann sind sie wieder die Weh-Klasse, die ich wiedererkenne und so vermissen werde, wenn die Neuen kommen, die noch andauernd aufs Klo laufen und an mir herumzuppeln müssen.

(Ach, die neuen Erstklässler! Und die neuen Erstklässlereltern erst! Alles wieder von vorne, alles wieder neu.)

Doch erst einmal gilt es jetzt, einen schönen Abschluss zu gestalten. Und schön wird er werden, das wird er immer! Bunt und laut und fröhlich möchte ich die Vierer rausschmeißen verabschieden, sie noch einmal in den Arm nehmen, um anschließend tief Luft zu holen und die vergangenen vier Jahre ziehen zu lassen. Vier Jahre, die mich viel Kraft gekostet haben, mir aber auch so viel geschenkt haben.

Die den Boden bereitet haben für die Lehrerpersönlichkeit, die ich der nächsten Klasse sein werde. Schon jetzt beschäftigt es mich, das neue erste Schuljahr. Lässt mich in neue Richtungen schauen, Erprobtes reflektieren und Konzepte überdenken. Was für ein Glück, dass wir immer wieder die Chance bekommen, unser Handeln zu steuern, uns und unser Tun auszuprobieren. Ist es das nicht?

Doch jetzt: tief Luft holen und rein in den Endspurt.

Liebe Eltern

Wenn Sie als Grundschullehrerin auf eine Party gehen (und ich kann Ihnen versichern, so häufig kommt das nicht vor, die Müdigkeit am Ende einer Woche kann überwältigende Formen annehmen!), dann hören Sie unter Garantie zwei Sätze:

Mit den Kleinen ist es aber doch noch nett!

und

So viel Ferien möchte ich auch einmal haben!

An Ihrem Schmunzeln sehe ich, dass auch unter Ihnen die ein oder der andere vor vier Jahren so gedacht haben mag. Selbstverständlich schätzen Sie die Situation mittlerweile deutlich realistischer ein!

Jedes einzelne Ihrer Kinder ist ein Geschenk! Im ersten Schuljahr fühlte sich dieses Geschenk aber vor allem nach … viel Arbeit an! (Aber Kompliment an Sie für die Bereitstellung, mir war wirklich keinen Tag langweilig!) Vielleicht liegt es auch an dieser Lebendigkeit, dass es mir vorkommt, als sei doch gerade erst die Einschulung gewesen, der Haustiertag, die Lesenacht, die Klassenfahrt. So viele Erlebnisse, so viele Momente, die ich mit Ihren Kindern geteilt habe. Das schafft eine Verbundenheit und eine tragfähige Basis für das, was noch kommt.

Ich möchte die Gelegenheit in diesem Rahmen nutzen, um Ihnen zu danken! Zu Beginn des ersten Schuljahres habe ich Sie um Vertrauen gebeten und Sie als Eltern wissen, dass es gar nicht so einfach ist, die Verantwortung für das, was einem am wichtigsten ist, jemandem zu übergeben, den man überhaupt nicht kennt. Sie haben mir aber nicht nur von Anfang an Ihr Vertrauen geschenkt, sondern darüber hinaus meine Arbeit mit Ihren Kindern mit Wohlwollen, Wertschätzung und Unterstützung begleitet. Danke dafür, ich habe mich darüber sehr gefreut! So wie es mir auch jeden Tag eine Freude war, Ihre Kinder ein Stück weit zu begleiten.

Natürlich waren Sie und ich nicht immer einer Meinung. Aber wie Sie alle wissen, darf man in einer guten Beziehung den anderen auch einmal doof finden. Das gehört dazu. Hauptsache ist doch, dass man am Ende sagen kann: Hey, das haben wir gut hinbekommen!

Und das ist es, womit ich meine kleine Ansprache nun auch beenden möchte:

Hey, das haben Sie und ich und natürlich ihr, meine Lieben, gut hinbekommen.

Danke!

Vandale und Liebe

Großer Unmut bei den Viertklässlern. Es geht um die Ehre. Da wird nicht gespaßt.

„So geht das einfach nicht weiter, Frau Weh!“

„Nein, das halten wir nicht länger aus!“

Natürlich verbieten ihnen Alter und Würde den der Situation eigentlich angemessenen Gefühlsausbruch, aber sich ein bisschen echauffieren, das darf wohl drin sein. Es geht um die OGS. Genauer um die Gruppe der OGS-Kinder, die in diesem – unserem! – Klassenraum die Hausaufgaben erledigt. Und, ach, wenn es doch nur die Hausaufgaben wären, die sie erledigen! Aber nein, sie stiften Chaos und hinterlassen apokalyptische Verwüstung, so man den aufgebrachten Viertklässlern Glauben schenken darf. Da liegen Schnipsel auf dem Boden, unter den Tischen finden sich angebissene Dinge und überall, ja, Frau Weh, da können Sie mal gucken, überall bleiben Stifte, Radiergummis und Flaschen liegen! Pfui aber auch!

(Den meisten geschätzten Leserinnen wird es bewusst sein, aber Nichteingeweihten möchte ich kurz erläutern, dass ein Klassenraum in der Grundschule nicht nur irgendeinen Raum darstellt. Nein, er ist so viel mehr! Das eigene Klassenzimmer ist Keimzelle und Mutterschoß der Bildung gleichermaßen, nicht das Zuhause, aber doch heimeliger Ort des Geborgenseins. Kinder identifizieren sich mit ihrem Klassenraum und teilen geheimes Wissen um sein Wesen. Flecken an den Wänden sind nicht einfach nur irgendwelche Makel, sie erzählen Geschichten vom Ausbruch plötzlichen Unwohlseins oder explodierten Kakaoflaschen. Fensterbretter oder Tafelecken sind keine unbelebten Gegenstände, markieren sie doch gleichermaßen Platzwunden wie historische Ereignisse. Bis hin zum mumifizierten Popelbällchen unter dem Regalbrett ganz untenhintenlinks weiß eine Klasse um ihren Raum. Und der Raum weiß um seine Klasse. So ist das nun einmal.)

Und jetzt das!

Gesittet, wie sie nun einmal meistens nach bald vier Grundschuljahren sind, einigen sich die Viertklässler auf gestrenge Worte und persönliche Ansprache auf mehreren Ebenen. Sie wollen es ohne Körpereinsatz versuchen, was ich mit hochgezogener Augenbraue und ironischem Unterton sehr begrüße, und fast können wir uns wieder dem Unterricht zuwenden, da meldet sich Shirin.

„Da ist noch was, Frau Weh. Jeden Tag ist was auf meinen Tisch gekritzelt.“

Auf ihrem Platz, so berichtet sie mir, sitzt nachmittags Enes. Und Enes macht das jeden Tag! Während der Rest der Klasse in den Arbeitsmodus wechselt, schaue mir das Werk des jungen Vandalen an und erkenne ein mittelgroßes, krakeliges Herz, das mit Bleistift quer über die Tischplatte gezeichnet wurde. Hmm.

„Shirin, kann es sein, dass Enes Gefühle für dich besitzt?“

Shirin nickt, ja, so ist das wohl, aber sie kann diese Gefühle nicht erwidern. Ich nicke. Ja die Liebe … das ist alles nicht immer so einfach. Wir überlegen gemeinsam, wie wir Enes davon abhalten können, Shirin weiterhin unerwünschte Bekundungen zukommen zu lassen ohne ihn bloßzustellen. Gleichzeitig kommen wir auf die Lösung und zwinkern uns verschwörerisch zu.

Als wir nach der sechsten Stunde den wieder aufgeräumten Klassenraum verlassen, steht auf Shirins Tisch eine Botschaft. Natürlich mit Bleistift.

Lieber Enes,

ich möchte deine Gefühle nicht verletzen. Aber hör jetzt SOFORT damit auf, was auf meinen Tisch zu krakeln! Das ist voll uncool!

Deine Shirin