Anarchie im Adventskalender

21.12.2015

Liebe Zweitklässler,

heute dürft ihr euch eine Aufgabe für eure Lehrerin überlegen.

Es ist gerade 8:15 Uhr, als mich der Hausmeister im Flur vor meinem Klassenraum sitzend antrifft.

„Was machst du denn hier? Solltest du nicht eigentlich da drin sein?“, nickt er in Richtung verschlossener Klassentür.

„Ich bin rausgeflogen“, antworte ich schulterzuckend.

„Ist mir auch schon passiert“, sagt er tröstend, murmelt irgendetwas von verstopftem Abfluss und geht seines Weges.

Die Zeit verstreicht. Schon 8:20 Uhr. Was die Zweitklässler jetzt wohl machen? Ob ich mal klopfen soll? Nein, das ist würdelos. Aber vielleicht mal kurz das Ohr an die Tür …? Nur ganz kurz! Ganz schön leise da drin. Sie können ja schon, wenn sie wollen. (Sie wollen nur so selten.) Und wenn sie mich jetzt die ganze Stunde vor der Türe sitzen lassen, die kleinen Seuchenvögel? Ha, dann hole ich mir einen Kaffee und das neue Lehrerheftchen vom VBE aus dem Lehrerzimmer! Da komme ich ja sonst nie zu.

Eigentlich ganz schön so … Darf ich das überhaupt? Die ganze Zeit so vor der Türe rumsitzen? Ob die sich da drinnen jetzt gerade beaufsichtigt fühlen? Hmm … die kichern doch!? Vielleicht klettern die Zweitklässler gerade alle hintenrum aus dem Fenster und lachen sich halb tot. Und ich sitze hier mit Kaffee und Schule heute und kriege nix mit. Das ist unprofessionell.

Ich hasse unprofessionell.

Doch! Die kichern! Also sind sie noch drin, das ist gut! Worüber reden die denn so lange? Meine Güte, nächstes Jahr bekommt die Klasse einen stinknormalen Adventskalender mit Süßkram, statt einen mit gruppendynamischen Aufgaben. Mir doch egal, wenn die alle überzuckern. Sind sie ja sowieso im Advent, überzuckert und überdreht! Gut, wenn ich die jetzt mal zwei Wochen nicht sehe! Da drehen einige echt hochtourig. Ganz schön anstrengend, diese Tage vor Weihnachten. Wenn die Eltern das mal wüssten … Alle überzuckert!

Ich glaube, ich bin gerade ein bisschen unterzuckert. Sind eigentlich noch Kekse im Lehrerzimmer? Aber wenn ich da jetzt noch einmal vorbeigehe, dann kriegt bestimmt der Chef mit, dass ich Unterricht schwänze. Hmm …

Aber eigentlich mache ich das gar nicht. Also schwänzen. Ich bin ja herausgebeten worden. Das ist was anderes. Der Kaffee? Ja, gut, da könnte man jetzt drüber streiten. Aber immerhin rauche ich nicht! Das wäre daneben! Aber rauchen fand ich schon immer unattraktiv. Mein erster Freund hat geraucht. Damals war das ja noch schick. Aber damals fuhr man ja auch noch Mofa. Also, die anderen fuhren Mofa. Ich hatte ein Fahrrad. Und Blockflötenunterricht. Nix mit Rauchen und so.

Gleich halb neun! Ich geh da jetzt rein! Mir doch egal, wenn die Zweitklässler noch nicht fertig sind! Die sollten sich schließlich nur eine Aufgabe ausdenken, keine neue Regierungsform initiieren.

Ah, Schritte! Ich höre Schritte!

„Frau Wehee, Sie können jetzt wieder reinkommen!“, Sophie guckt mich mit ernstem Gesicht an und deutet in den Raum.

Neugierig betrete ich den Raum und setze ich mich auf meinen Platz im Kreis. Einige Zweitklässler schauen betont streng, andere unterdrücken mühsam ein Grinsen.

„Danke, Sophie!“, sagt Nick hoheitsvoll und wendet sich mir zu. „Wir haben uns entschieden, was Ihre Aufgabe ist, Frau Weh.“

Kunstpause.

„Wir haben beschlossen, dass wir einfach mal machen dürfen, was wir wollen.“

„Hah, das macht ihr doch sowieso! Außerdem ist das keine Aufgabe für mich. Das ist eine Aufgabe für euch!“, entgegne ich spitzfindig. Und dafür saß ich jetzt ewig im kalten Flur? Wenn das mal keinen Blasenpips gibt!

Großes Gelächter erfüllt die Klasse.

„Haha, Frau Weh, witzig!“

„Der war gut, Frau Weh!“

„Haben Sie nicht verstanden, stimmt’s?“

Jetzt ist aber langsam gut. Entrüstet ziehe ich eine Augenbraue hoch und fast sofort wird es wieder ruhig in der Klasse.

„Wir haben das gerade schon gemacht. Also, was wir wollten. Und Ihre Aufgabe war mal gar nix zu machen. Das wünschen Sie sich doch. Haben Sie am Freitag noch gesagt, das Sie mal nix machen wollen. Und das“, jetzt muss sogar der so gefasste Nick glucksen, „haben Sie auch schon gerade gemacht. Also nix! Wir sind gut, ne?“

advenire

Frau Weh unter'm Weihnachtsbaum

„Hier, hab ich für dich gemalt“, nuschelt Ramon und schiebt mir einen Zettel auf den Schreibtisch.

Ramon hasst malen. Jedes Bild, das es während des Unterrichts oder als Hausaufgabe auszumalen gilt, führt unweigerlich zu einer mittelgroßen Katastrophe mit fliegenden Stiften und fliehenden Worten. Kunst ist das Fach, das er am wenigsten mag. Gleich neben Mathe und Deutsch. Und Religion. Uuh, und Englisch, da wird ja auch immer so viel geschnibbelt und geklebt. Aber jetzt ist Advent und die Zweitklässler sind Weihnachtswichtel in besonderer Mission: Sie bringen Freude (und Kekse und Weihnachts-CDs und zuckerbunte Klitzekleinigkeiten) und verteilen sie freigiebig. Ramon malt also. Das erste Mal in diesem Schuljahr.

Ich streiche ihm über den asymmetrisch geschnittenen Rambohaarschnitt. „Lass mich mal sehen.“

Die kleine Frau Weh hat nur drei Finger an jeder Hand und keine Nase. Dass sie keine Füße hat, ist nur gut, denn dann kann sie nicht weglaufen, so wie der Papa. Aber was für ein warmes Lächeln in ihrem Gesicht! Sie schwebt ein wenig über den Dingen, das hat er gut beobachtet, und auch der lange Hals, der ihr ermöglicht über alles einen wachen Blick zu haben, sagt mir zu. Die Haare sind etwas in Unordnung und könnten mal wieder einen ordentlichen Schnitt vertragen, aber vor Weihnachten kommt ja auch alles immer so geballt, wann soll man es da noch zum Friseur schaffen? Die Augen sind groß und blicken deutlich wacher als in echt, dafür ist der orange Jumpsuit etwas übertrieben. Im Original trage ich lieber was über’m Popo.

Der Weihnachtsbaum ist festlich geschmückt mit Kugeln und Lichtern und obendrauf sitzt noch ein Stern mit richtigen Zacken, obwohl die so schwer zu malen sind. Die Tannenspitzen zeigen alle nach oben, was für ein optimistischer Zug! Der Baumstamm – breit, stabil und erdverbunden – bringt Stabilität und Beständigkeit in das Bild. Auf die Frage, ob die kleine Frau Weh ein Laserschwert in der Hand halte, lacht Ramon auf und schüttelt energisch den Kopf. Das sei doch die Verbindung zum Himmel. Die trage doch jeder in sich, habe die Religionslehrerin gesagt. Und rot muss die sein wegen der Liebe. Liebe ist viel auf dem Bild, das kann ich schon erkennen.

„Schönes Bild!“, meint Marc anerkennend, als er vorbeikommt, um sich mein Klebeband auszuleihen.

„Ja, superschönes Bild!“, bestätige ich und lächle Ramon zu. Blickkontakt. Ganze 5 Sekunden. Ankommen hat viele Gesichter.

 

Alles wird gut

Es liegt an mir den Kindern Ruhe zu geben in dieser Zeit.

Ruhe, Zuversicht, Sicherheit. So ungleich wichtiger als die Vermittlung von Kompetenzen oder die Arbeit an Schulprogramm und Leistungskonzept. Viel geredet wird von den Zweitklässlern nicht über das aktuelle Zeitgeschehen. Es ist schwer, das Unbehagen der eigenen Eltern in Worte zu fassen, wenn man sieben Jahre alt ist. Aber dass in manchen Familien Thema ist, was uns als Thema aufgezwungen wurde, weil es so unfassbar und nah ist, das spüre ich daran, dass in diesen Tagen mehr Kontakt gesucht wird. Da sitzen Michelle und Samira ganz eng auf einem der kleinen Arbeitsteppiche über einem Buch. Marc begrüßt mich mit einer wortlosen Umarmung. Merve und Nick streiten über Religion und stolpern dabei über die abwertenden Verallgemeinerungen der Eltern. Ich höre zu und rücke sanft zurecht, wo Ängste in falsche Worte gekleidet werden.
Wir malen Kerzen. Für unsere Fenster, aber auch für die, in denen es dunkel ist. „Kerzen helfen“, sagt Sophie und erzählt, dass ihre Oma immer in der Kirche eine anzündet und sie das dann auch darf, mit dem langen Docht, der dort liegt, unter der Maria mit ihrem Baby.
„Warum helfen Kerzen denn?“, fragt Yasin und verharrt, den Pinsel in der Luft.
„Na, weil die doch Licht bringen und das brauchen ja alle.“, antwortet Ole und zählt an seiner Hand Pflanzen, Tiere und Menschen auf.
„Haha, das sind ja alles Nomen!“, lacht Leonie und freut sich über ihre Feststellung.
„Ist doch klar, dass das alles Nomen sind“, ärgert sich Ole. „die brauchen ja auch alle einen Namen, um zu existieren. So wie wir eben auch das Licht brauchen. Alles braucht einen Namen.“
Wie so oft staune ich über die schlichte Wahrheit, die einige Kinder zu äußern imstande sind, und argwöhne, dass so mancher Philosoph heimlich auf Schulhöfen gelauscht haben muss. Vor unserer Klassentüre mögen Kolleginnen krank sein, Elterngespräche für Unruhe sorgen oder die Welt hart auf die Bremse treten. In unserem Raum bereitet die Ruhe den Boden für Gedanken. Mir kommt das Zitat von Etty Hillesum in den Kopf, das über meinem Schreibtisch hängt:
„Das ist eigentlich unsere einzige moralische Aufgabe: sich selbst große Flächen urbar zu machen für die Ruhe, für immer mehr Ruhe, sodass man diese Ruhe wieder auf andere ausstrahlen kann. Und je mehr Ruhe in den Menschen ist, desto ruhiger wird es auch in dieser aufgeregten Welt sein.“
Diese Worte möchte ich so sehr verinnerlichen wie kaum etwas anderes. Die darin enthaltene Wahrheit verinnerlichen und weitergeben an die Menschen, die um mich herum sind. Gerade, weil sie sieben Jahre alt sind. Sieben Jahre sind ein gutes Alter für Ruhe und große Gedanken.
Ein bisschen, weil es Spaß macht, aber auch ein bisschen, weil es hilft, dem seltsamen Gefühl im Bauch zu begegnen, geben die Zweitklässlern ihren Kerzen Namen. Kraftvolle und schöne. Da gibt es die Kerze Traum und die Kerze Frieden, die Kerze Wünsche und die Kerze Wir alle. Meine Kerze heißt Alles wird gut und die Kinder nicken zufrieden, als sie es hören. „Das glaubst du immer, Frau Weh, oder? Dass alles gut wird, meine ich. Du sagst das oft!“
„Klar“, lautet meine Antwort und die lächelnde Zuversicht, die ich in meine Stimme lege, bringt die Kinder in Bewegung wie das Licht einer Straßenlaterne Nachtfalter zum Tanzen bringt. „Daran glaube ich ganz fest. Alles wird gut!“