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Frau Weh unter'm Weihnachtsbaum

„Hier, hab ich für dich gemalt“, nuschelt Ramon und schiebt mir einen Zettel auf den Schreibtisch.

Ramon hasst malen. Jedes Bild, das es während des Unterrichts oder als Hausaufgabe auszumalen gilt, führt unweigerlich zu einer mittelgroßen Katastrophe mit fliegenden Stiften und fliehenden Worten. Kunst ist das Fach, das er am wenigsten mag. Gleich neben Mathe und Deutsch. Und Religion. Uuh, und Englisch, da wird ja auch immer so viel geschnibbelt und geklebt. Aber jetzt ist Advent und die Zweitklässler sind Weihnachtswichtel in besonderer Mission: Sie bringen Freude (und Kekse und Weihnachts-CDs und zuckerbunte Klitzekleinigkeiten) und verteilen sie freigiebig. Ramon malt also. Das erste Mal in diesem Schuljahr.

Ich streiche ihm über den asymmetrisch geschnittenen Rambohaarschnitt. „Lass mich mal sehen.“

Die kleine Frau Weh hat nur drei Finger an jeder Hand und keine Nase. Dass sie keine Füße hat, ist nur gut, denn dann kann sie nicht weglaufen, so wie der Papa. Aber was für ein warmes Lächeln in ihrem Gesicht! Sie schwebt ein wenig über den Dingen, das hat er gut beobachtet, und auch der lange Hals, der ihr ermöglicht über alles einen wachen Blick zu haben, sagt mir zu. Die Haare sind etwas in Unordnung und könnten mal wieder einen ordentlichen Schnitt vertragen, aber vor Weihnachten kommt ja auch alles immer so geballt, wann soll man es da noch zum Friseur schaffen? Die Augen sind groß und blicken deutlich wacher als in echt, dafür ist der orange Jumpsuit etwas übertrieben. Im Original trage ich lieber was über’m Popo.

Der Weihnachtsbaum ist festlich geschmückt mit Kugeln und Lichtern und obendrauf sitzt noch ein Stern mit richtigen Zacken, obwohl die so schwer zu malen sind. Die Tannenspitzen zeigen alle nach oben, was für ein optimistischer Zug! Der Baumstamm – breit, stabil und erdverbunden – bringt Stabilität und Beständigkeit in das Bild. Auf die Frage, ob die kleine Frau Weh ein Laserschwert in der Hand halte, lacht Ramon auf und schüttelt energisch den Kopf. Das sei doch die Verbindung zum Himmel. Die trage doch jeder in sich, habe die Religionslehrerin gesagt. Und rot muss die sein wegen der Liebe. Liebe ist viel auf dem Bild, das kann ich schon erkennen.

„Schönes Bild!“, meint Marc anerkennend, als er vorbeikommt, um sich mein Klebeband auszuleihen.

„Ja, superschönes Bild!“, bestätige ich und lächle Ramon zu. Blickkontakt. Ganze 5 Sekunden. Ankommen hat viele Gesichter.

 

Es ist Advent

„Gut, dass ist Advent!“

Der kleine Grabowski schaut in die Kerzenflammen und rückt sich die Teppichfliese unterm Popo zurecht. „Ja“, stimmt ihm auch Schmitti zu und haut seinem Sitznachbarn in die Rippen, der sich noch nicht entscheiden kann, wohin mit seinen Beinen. Die anderen Drittklässler sagen nicht viel, die morgendliche Dunkelheit im Klassenraum lässt sie ruhiger werden. Am Adventskranz brennen zwei Kerzen, wir singen. Eben haben wir erfahren, wie das Wort Advent auf Russisch, Polnisch, Italienisch, Portugiesisch, Droidisch* und Spanisch heißt und auf welche Weise diese Zeit in den Familien begangen wird.

Es sind diese 10 Minuten, die nicht nur den Kindern im Moment viel bedeuten. Auch ich tanke auf während dieser Zeit der Ruhe. Nach dem gemeinsamen Lied lese ich ein Märchen vor. Jeden Tag eins. Jeden Tag in absoluter Stille. Da sitzen sie, die Drittklässler, so wie ich sie gerne immer hätte: aufmerksam, konzentriert und ruhig. Vielleicht genieße ich diesen Zustand so, weil ich weiß, dass seine Dauer begrenzt ist. Allerspätestens zur Pause wird es wieder rund gehen, die Kolleginnen werden sich anschließend bei mir über verschiedene Schüler beschweren. Ich werde Elterninfos schreiben, die ignoriert oder bestritten werden, Konsequenzen durchsetzen und mich fragen, ob die Mühe, die ich mir mache, es eigentlich wert ist.

Morgen früh aber, wenn die Drittklässler fernab jeder Spielkonsole gebannt die Prinzessin ins Schlafgemach begleiten, um den Frosch an die Wand zu werfen, wird sie es wieder wert sein.

Es ist Advent. Gut so.

* Star Wars ist immer noch ein sehr großes Thema.