Das Leben der Anderen

Als ich heute von der Schule nach Hause komme, finde ich einen unerwarteten Brief vor. Der Absender, ein Herr Hans-Günther Schimmelpfennig aus Gelsenkirchen, ist mir unbekannt. Neben dem heute nicht mehr so geläufigen Vornamen lässt auch die sorgfältige und doch leicht knitterige Schrift auf einen älteren Verfasser schließen.

Neugierig öffne ich den Umschlag und lese folgende Zeilen:

„Sehr geehrte Frau Weh,

rein per Zufall bin ich auf eine Seite im Internet gestoßen, die mich neugierig gemacht hat. Ist das die Frau Weh, die ich kenne?

In einem Artikel vom 05.04.2007 ist dort zu lesen, dass ein „Kulturkreis geselligen Miteinanders und Austauschs“ sein 50-jähriges Jubiläum gefeiert hat. Dazu ein Foto: Die 1. Vorsitzende, Frau Weh, inmitten weiterer Vereinsmitglieder. Die Dame könnte vom Aussehen her die Frau Weh sein, die ich kenne.

Verzeihen Sie mir, dass ich Ihre Adresse herausgesucht habe, aber sind Sie es vielleicht? Ich weiß, dass die Eheleute Weh damals einen Umzug angestrebt haben. Erinnern Sie sich an vielleicht an die Familien Schimmelpfennig-Werner aus Gelsenkirchen? Wenn dem so wäre, würde ich mich sehr freuen, wenn Sie sich melden würden.

Mit freundlichen Grüßen

Hans-G. Schimmelpfennig“

Als ich das entsprechende Foto im Internet aufrufe, muss ich lächeln. Da sitzt in einer kleinen Gruppe Menschen, die sich um sie gruppiert haben, tatsächlich eine ältere Dame, schick frisiert und verschmitzt lächelnd. Klein und zierlich ist sie, das kann ich erkennen. Gekleidet ist sie stilvoll mit Strickjäckchen in keckem Pink zum adretten Rock, was sofort ein anerkennendes Lächeln bei mir aufziehen lässt. Die Dame scheint mit sich selbst und der Welt recht zufrieden zu sein. Ja, denke ich, das könnte ich in 35 Jahren tatsächlich sein. Beziehungsweise, berichtige ich mich, wäre es nicht schön, so zu werden?

In welcher Beziehung steht Hans-G. Schimmelpfennig, den ich im Kopf sofort noch um ein paar Jahre älter mache, wohl zu ihr? Er siezt sie, ein Paar können sie wohl nicht gewesen sein. Oder – Moment! – er spricht vom Ehepaar Weh, hat er sich vielleicht aus der Ferne nach ihr gesehnt? Waren Sie vielleicht Nachbarskinder und haben sich aus den Augen verloren? Den Artikel, den er zitiert, ist 10 Jahre alt. Wie lange mögen sich beide nicht mehr gesprochen haben? 20 Jahre? Oder 40? Ein ganzes halbes Leben mag vorbeigezogen sein. Möglicherweise ist dies seine Art der Rückschau, die Herrn Schimmelpfennig dazu bewogen hat, mir einen Brief zu schreiben, getragen von der Hoffnung, ich sei diejenige, welche. Ich stelle mir ihn vor, wie er auf Antwort wartet, vielleicht ist er aufgeregt, ungeduldig oder erwartungsvoll. Aber vielleicht mischt sich auch ein kleines bisschen Traurigkeit in sein Warten. 10 Jahre sind eine so lange Zeit. Ob die andere Frau Weh noch lebt? Wird Herr Schimmelpfennig sie finden? Wen werde ich am Ende meines Lebens vermissen, suchen, wessen Verlust vielleicht beweinen? Weder Frau Weh noch Herrn Schimmelpfennig kenne ich und trotzdem verspüre ich an diesem Mittag ganz unvermittelt Wehmut darüber, dass dieser Brief an mich nicht das Ende einer Suche ist, die so viel Zeit wohl nicht mehr erwarten kann. Es ist der Gedanke an die Vergänglichkeit, der mit diesen Zeilen zum Klingen gebracht wurde. Mir kommt die Aschermittwochsliturgie in den Sinn: Memento homo, quia pulvis es, et in pulverem reverteris. Die Zeit, die wir haben, ist ein Geschenk. Und sie ist endlich.

Als ich den Brief erneut zur Hand nehme, muss ich nicht überlegen, bevor ich zum Telefon greife und die sorgfältig notierte Nummer wähle. Nach dreimaligen Klingeln meldet sich eine warme, ältere Stimme.

„Guten Tag, Herr Schimmelpfennig. Mein Name ist Frau Weh, ich habe einen Brief von Ihnen erhalten …“

 

P.S. Vielen Dank für die vielen netten Worte zur Begrüßung in diesen Tagen! Ich habe mich über jedes einzelne gefreut!

Apfelzeit

Zum Geburtstag bekomme ich in der Regel von meiner Klasse einen Blumenstrauß. Zu Weihnachten gibt es ein Geschenk. Natürlich ein kleines oder eines, das dem Einsatz in der Schule dient. Alles andere verbietet sich ja (fast) von selbst. So weit, so gut. Dass nun die Zweitklässler vor mir stehen – mitten im Jahr und ohne erkennbaren Anlass – und zwischen sich einen Korb Äpfel balancieren, trifft mich unerwartet.

„In Amerika“, liest Luisa von einem Zettel ab, „schenken die Schüler ihrem Lehrer einen Apfel als Zeichen der Anerkennung und als Dank für die Arbeit.“ Sie schaut von ihrem Zettel auf. „Du hast ja auch manchmal Arbeit mit uns, sagt mein Papa.“ Sie überlegt. „Aber du sagst ja eigentlich immer, dass du nur Freude mit uns hast.“ Ihre Nase kräuselt sich nachdenklich. „Egal. Trotzdem haben wir alle einen Apfel mitgebracht für dich, damit du ganz gesund bleibst und froh. Hier!“ Die Zweitklässler stellen den Korb vor mir auf den Boden.

Ich schlucke ein bisschen. Und atme. Und so.

Weinst du jetzt etwa!?“, fragt Can und schüttelt fassungslos den Kopf. (Erwachsene!)

„Quatsch!“, raunze ich ihn an, „Das ist flüssige Freude.“

Liebe Frau Weh

Jetzt trudeln sie ein, die Briefe der Fünftklässler. Es ist eine nette Geste, dass die Deutschkollegen der weiterführenden Schulen zu Beginn des 5. Schuljahrs an die Grundschullehrerin schreiben lassen. Natürlich ist es reguläres Thema und selbstverständlich wissen sie um die hohe Schreibmotivation der meisten Kinder. Aber dies schmälert nicht im Geringsten die Freude, diese Briefe zu bekommen.

Liebe Frau Weh, lese ich da, es geht mir so gut in der neuen Schule. Ich lese von Neuorientierung, Stolz auf Leistungen, von neuen und alten Freunden. Manchmal lese ich auch noch ein wenig Ängstlicheit aus den Zeilen und oft Unmut über so viele Stunden, schwere Rucksäcke und lange Tage. Aber immer erkenne ich Entwicklung und Wachstum in dem, was die Kinder mir schreiben. Und eines noch: Erinnerung.

Wissen Sie noch, unsere Klassenfahrt?

Es war so schön im vierten Schuljahr.

Hoffentlich sind Ihre neuen Schüler so toll wie wir!

Ich denke gerne an Sie zurück.

Es ist schön, solche Briefe zu bekommen und sie einzuordnen in den Lauf unserer Arbeit, der von Ankunft bis Abschied reicht. Ich wünschte mir mehr davon. Einen zum Schulabschluss, egal welchem. Einem bei Berufsantritt. Vielleicht auch zu Hochzeit, Geburt und hoffentlich niemals eine Todesanzeige. Die Gedanken an die Grundschulzeit werden verblassen. Erinnerungen an so viele gemeinsame Stunden werden verdrängt von neueren Eindrücken. Das ist richtig so! Dennoch wünsche ich mir, dass ein Stück dieser umsorgten Zeit sich tief ins Lebensbild meiner Schüler legt und sie irgendwann rückblickend lächeln lässt.

Weißt du noch, damals?

Prima Klima?

2. Stunde, Kunst (oder etwa nicht?) in meinem 4. Schuljahr:

Mit Hingabe formen die Viertklässler in Gruppenarbeit kleine Inseln aus Knetgummi. Wir haben bereits eine intensive Sachunterrichtsstunde zum Klimawandel hinter uns und alle sind froh, ein wenig entspannen zu können. Es ist nicht leicht, Schüler mit dem Thema zu konfrontieren, ohne dass sich bei manchen unmittelbar Ängste aufbauen. Tatsächlich, so habe ich in den letzten Jahren erfahren, sind die Antennen von Kindern viel sensibler auf Zukunft ausgerichtet, als die mancher Erwachsener. Denn es geht um ihre Zukunft. Und von der haben viele Zehnjährige bereits ein klares Bild. So wollen wir leben ist daher ein passender Titel für die Miniaturwelten, die hier gerade entstehen. Ich erkenne Häuser, Bäume und sogar ein winziges Schweinchen. „Das sieht toll aus!“, lobe ich Giuliano, „Ist das Schwein von dir?“

„Ja“, bestätigt der Junge stolz und weist mich darauf hin, dass hinter dem Bauernhof auch noch ein Kaninchenstall stünde. Ich bin hingerissen und spare nicht mit Lob. Auch die anderen Gruppen können gute Arbeit vorweisen und die Stimmung steigt, als ich die unausweichliche Frage, ob es auch Noten für die Werke gäbe, positiv beantworte. Für Noten würden die Viertklässler alles tun.

Sie befüllen die Plastikwannen, in denen die Kneteinseln stehen, vorsichtig mit Wasser und posieren stolz vor meiner Kamera. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ich Ergebnisse aus dem Kunstunterricht fotografiere und auf unsere Schulhomepage stelle, ist doch der Kunstunterricht meine heimliche Liebe, der sowohl die Viertklässler als auch ich hingebungsvoll frönen. So argwöhnen sie auch nichts, als ich den Vorschlag mache, doch noch ein paar kleine Eisberge ins Wasser zu lassen, der Optik wegen.

Im Gegenteil: „Coole Idee, Frau Weh!“, rufen sie und übersehen in ihrem Eifer völlig, wie seltsam es ist, dass ich auf einmal gleich mehrere Beutel mit Eiskugeln aus einer Kühltasche ziehe. Stattdessen lassen die Gruppen fröhlich Eisberg um Eisberg ins Wasser plumpsen und freuen sich darüber, dass die Inseln kleine Tropfen abbekommen.

„Vorsicht!“, ruft Giuliano, „Die Kaninchen!“

Da klingelt es zur Pause.

Ich gestehe, dass ich der globalen Erwärmung in den nächsten Minuten ein wenig zuarbeite, indem ich die Eiskugeln, die munter um die Inselchen tanzen, mit einem Schuss heißen Wassers zu Leibe rücke. Alles für die Show, denke ich, als der Miniaturmeeresspiegel ansteigt und die ersten Zäune, Menschen und – ja! – auch den Kaninchenstall versinken lässt. Den Rest besorgt der völlig überheizte Klassenraum. Am Ende der Pause sind die Inselstaaten der Viertklässler überschwemmt.

„Was ist denn hier passiert!?“

Ungläubiges Entsetzen ist den Kindern ins Gesicht geschrieben, als sie fassungslos vor den Überresten ihrer Arbeit stehen. Ich lasse sie wüten, horche aber aufmerksam auf den Erkenntnistransfer, der nicht lange auf sich warten lässt.

„Es ist ja auch superheiß hier, kein Wunder, dass alles schmilzt!“

„Das ist wie mit der Erderwärmung und dem Polareis.“

„Der Meeresspiegel ist angestiegen und hat alles kaputt gemacht.“

Ich kann nicht anders, ich freue mich über die hellen Köpfe vor mir, die bereits Rettungsmöglichkeiten erwägen. Für ihre Kneteinseln hier und für die Welt da draußen.

 

 

Lotuseffekt

In dem Moment, in dem ich den gestrigen Beitrag abschicke, schießt es mir durch den Kopf: Oh Gott, du hast dich gerade vor 2000 Menschen ausgezogen!

Mein Finger schwebt über dem Button mit der Aufschrift Papierkorb. Ich könnte den Schaden noch begrenzen. Doch dann schüttle ich den Kopf. Nein, manche Dinge müssen ausgesprochen werden und dürfen es auch. Das Heldinnencape befindet sich in der Wäsche. Es ist so wichtig für mich auch den Normalmodus zu akzeptieren. Februar, da bist du ja wieder! Ich schalte den Computer aus.

Beinahe lasse ich die Ballettstunde verfallen; das Letzte, was ich an diesem Abend möchte, ist mir gleich in mehrfacher Ausfertigung zu begegnen. Und in einem vollverspiegelten Raum gibt es wenig Möglichkeiten, sich selber aus dem Weg zu gehen. Dennoch fahre ich, möchte durch die Bewegung Körper und Seele frei machen. Viel lieber als der sich schüttelnde Hund im Regen wäre ich ja ein Lotos oder eine Akelei. Klein, hübsch und mit bewundernswerter Selbstreinigungsfähigkeit. (Die hat der Weißkohl übrigens auch. Aber wer vergleicht sein verletzliches Inneres schon gerne mit einem Blähgemüse?)

In der Ballettschule dann der Schock – krankheitsbedingt haben die anderen beiden Teilnehmerinnen abgesagt. Ich habe eine Einzelstunde. Nehmen die Demütigungen heute gar kein Ende? Verbissen stehe ich an der Stange und wärme mich auf. Bein nach vorne, Ballen, Spitze. Bein zur Seite, Ballen, Spitze. Bein nach hinten. Die Ballettlehrerin korrigiert aufmerksam meine Bewegungen, drängt auf eine aufrechtere Haltung. Kopf hoch, mehr Stolz! Wenn sie wüsste…

Irgendwann nach unzähligen Wiederholungen immer gleicher Bewegungsabläufe merke ich plötzlich verwundert, dass es mir gut geht. Der Ärger ist nicht mehr da, auch der über mich selber. Zum ersten Mal in der Stunde hebe ich den Blick und sehe mir im Spiegel in die Augen. Da stehe ich, nicht perfekt, nicht durch und durch gut, aber ein kleines Lächeln in den Mundwinkeln. Die Ballettlehrerin bedeutet mir kurz zu warten und legt eine neue CD ein. David Garrett dröhnt aus den Boxen. Freiheit flutet mein Herz.

Als ich heute den Computer anschalte, finde ich eure Kommentare und E-Mails. Ich schlucke und blinzle ein paar Tränen weg. Ist es Erleichterung? Scham?

Es ist, was es ist, sagt die Liebe.

Danke.

Happy Birthday!

Heimlich, still und leise ist mein kleiner Lieblingsblog heute 2 Jahre, 2 Wochen und 2 Tage alt geworden. Das Ganze eine Spur leiser als letztes Jahr , aber dennoch voller Freude.

Diese letzten zwei Jahre sind eine Zeit voller Entwicklung, die sich auch in den Beiträgen widerspiegelt. Anstrengungen, Aufregungen, viel Spaß, aber auch bedrückende Erlebnisse habe ich hier öffentlich gemacht, anfänglich für einige wenige Leser, später für ein immer größer werdendes Publikum. Immer, wirklich immer habe ich positive Rückmeldungen bekommen, die mir deutlich machen, dass dieser blog nicht nur konsumiert, sondern mit wirklichem Interesse und Anteilnahme gelesen wird. Das erfüllt mich mit Freude! Ich habe an dieser Stelle so viele Tipps bekommen, gut gemeinte Kritik, Denkanstöße und immer wieder Zustimmung. Manche von euch haben mir den Kopf zurechtgerückt, wenn es nötig schien, gut so! So viele von euch haben sich bei mir für meine Gedanken und Texte bedankt, was in diesem Medium leider nicht immer selbstverständlich ist. Dieses Danke möchte ich euch heute zurückgeben:

Danke, dass ihr meinen blog und auch mein Lehrersein begleitet!

Danke für eure Kommentare, eure guten Wünsche und die Bestätigung, die ihr mir so selbstverständlich gebt. Würde jede Kollegin, jeder Kollege so viel Rückendeckung erfahren, der Beruf wäre leichter!

Auf viele weitere geteilte Momente, herzlichst

eure Frau Weh

 

Krieg und Frieden

„Und an diesem schrecklichen Tag kamen die Phosphorbomben. Phosphor bringt Leid, so großes Leid, denn es brennt die Haut weg. Wir hörten das Surren, die Motorengeräusche und sind nur noch gerannt, gerannt bis wir im Bunker waren.“

Oma Elsa erzählt von ihrer Schulzeit in den Kriegsjahren. Es ist totenstill in der Klasse, die Drittklässler sitzen wie erstarrt auf ihren Plätzen und hängen an ihren Lippen. Haben sie eben noch das ein oder andere cool! fallen lassen, als es um den Aufmarsch der Truppen, das Paradefahren der Panzer ging, so ringen sie nun um Fassung, als die alte Dame von Todesangst, Fliegeralarm und stundenlangem Ausharren in dunklen Kellern berichtet. Den ersten Toten hat sie mit 6 Jahren gesehen, einen Nachbarn, vor ihren Augen erschossen, an den Füßen die Treppe heruntergezerrt. Sie spricht mit fester Stimme von den Gräueln ihrer Kindheit. Einer Kindheit, die von Überlebensangst, Entbehrung und Hunger gekennzeichnet war.

In den meisten Augen sehe ich Entsetzen, in vielen auch Tränen schimmern. Die alte Dame erzählt packend und nimmt die Kinder mit auf ihre Reise in die Vergangenheit. Auch ich muss mich räuspern, als ich sie am Ende der Stunde frage, wie ihr Weiterleben nach diesen furchtbaren Erfahrungen möglich war. Sie blickt mich ruhig aus wasserblauen Augen an und denkt über die Antwort nach: „Sie werden es verstehen, Frau Weh. Es ist die Liebe.“  Die alte Dame streicht sanft über den Arm der neben ihr sitzenden Enkelin. „Es ist die Liebe zu Kindern, die mich mein Leben lang getragen hat. Die Welt für kleine Seelen ein bisschen besser zu machen. Ja, das war und ist es immer noch. Das ist mein Frieden.“ Ich nicke, antworten ist mir nicht möglich.

Wie immer nach einem Besuch verabschiedet sich die Klasse mit einem Lied. Für Oma Elsa haben wir „Kein schöner Land“ eingeübt. Sie freut sich. Als ich sie zur Türe begleite, greift die alte Dame nach meinem Arm und lächelt. „Danke“, sagt sie, „es war mir eine Freude kommen und berichten zu dürfen!“

Ich bin berührt.

Als Gott die Grundschullehrerin erschuf

Kischtig? Vielleicht. Wahrheitswahrscheinlichkeit? Hoch.

Als Gott die Grundschullehrerin erschuf

Als Gott die Grundschulehrerin erschuf, machte er bereits den sechsten Tag Überstunden. Da erschien ein Engel und sagte: „Herr, Ihr bastelt aber lange an dieser Figur!“

Gott sprach: „Hast du die speziellen Wünsche auf der Bestellung gesehen? Sie soll pflegeleicht, aber nicht aus Plastik sein, sie soll 160 bewegliche Teile haben; sie soll Nerven wie Drahtseile haben und einen Schoß, auf dem zehn Kinder gleichzeitig sitzen können. Trotzdem muss sie auf einem Kinderstuhl Platz haben. Sie soll einen Rücken haben, auf dem sich alles abladen lässt, und sie soll in einer überwiegend gebückten Haltung leben können. Ihr Zuspruch soll alles heilen, von der Beule bis zum Seelenschmerz. Sie soll sechs Paar Hände haben!“

Da schüttelte der Engel den Kopf und sagte: „Sechs Paar Hände, das wird kaum gehen!“

„Die Hände machen mir keine Kopfschmerzen“, sagte Gott, „aber die drei Paar Augen, die eine Grundschullehrerin haben muss.“

„Gehören sie denn zum Standardmodell?“, fragte der Engel.

Gott nickte: „Ein Paar Augen, das durch geschlossenen Türen blickt, während sie fragt: Was macht ihr denn da drüben? – obwohl sie es schon lange weiß. Ein zweites Paar im Hinterkopf, mit dem sie sieht, was sie nicht sehen soll, aber wissen muss. Und natürlich noch zwei Augen hier vorn, aus denen sie ein Kind ansehen kann, das sich unmöglich benimmt, und die trotzdem sagen: Ich verstehe dich und habe dich lieb! – ohne dass sie ein einziges Wort spricht.“

„Oh, Herr!“, sagte der Engel und zupfte Gott sachte am Ärmel, „geht schlafen und macht morgen weiter.“

„Ich kann nicht“, sagte Gott, „denn ich bin nahe daran etwas zu schaffen, das mir einigermaßen ähnelt. Ich habe bereits dafür gesorgt, dass sie sich selbst heilt, wenn sie krank ist; dass sie 30 Kinder mit einem einzigen Geburtstagskuchen zufrieden stellt; dass sie einen Achtjährigen dazu bringen kann, sich vor dem Essen die Hände zu waschen, einen Siebenjährigen davon überzeugt, dass Knete nicht essbar ist und übermitteln kann, dass Füße zum Laufen und nicht zum Treten von Mitschülern gedacht waren.“

Der Engel ging langsam um das Modell der Lehrerin herum. „Zu weich“, seufzte er.

„Aber zäh!“, sagte Gott energisch. „Du glaubst nicht, was sie alles leisten und aushalten kann!“

„Kann sie auch denken?“

„Nicht nur denken, sondern sogar urteilen und Kompromisse schließen,“ sagte Gott, „und vergessen!“

Schließlich beugte sich der Engel vor und fuhr mit dem Finger über die Wange des Modells. „Da ist ein Leck,“ sagte er, „ich habe ja gesagt, Ihr versucht zu viel in das Modell hineinzupacken.“

„Das ist kein Leck“, sagte Gott. „Das ist eine Träne. Sie fließt bei Freude, Trauer, Enttäuschung, Schmerz und Verlassenheit.“

„Ihr seid ein Genie“, sagte der Engel.

Da blickte Gott versonnen: „Die Träne ist das Überlaufventil!“

(nach H. Wenke)

 

Es ist Advent

„Gut, dass ist Advent!“

Der kleine Grabowski schaut in die Kerzenflammen und rückt sich die Teppichfliese unterm Popo zurecht. „Ja“, stimmt ihm auch Schmitti zu und haut seinem Sitznachbarn in die Rippen, der sich noch nicht entscheiden kann, wohin mit seinen Beinen. Die anderen Drittklässler sagen nicht viel, die morgendliche Dunkelheit im Klassenraum lässt sie ruhiger werden. Am Adventskranz brennen zwei Kerzen, wir singen. Eben haben wir erfahren, wie das Wort Advent auf Russisch, Polnisch, Italienisch, Portugiesisch, Droidisch* und Spanisch heißt und auf welche Weise diese Zeit in den Familien begangen wird.

Es sind diese 10 Minuten, die nicht nur den Kindern im Moment viel bedeuten. Auch ich tanke auf während dieser Zeit der Ruhe. Nach dem gemeinsamen Lied lese ich ein Märchen vor. Jeden Tag eins. Jeden Tag in absoluter Stille. Da sitzen sie, die Drittklässler, so wie ich sie gerne immer hätte: aufmerksam, konzentriert und ruhig. Vielleicht genieße ich diesen Zustand so, weil ich weiß, dass seine Dauer begrenzt ist. Allerspätestens zur Pause wird es wieder rund gehen, die Kolleginnen werden sich anschließend bei mir über verschiedene Schüler beschweren. Ich werde Elterninfos schreiben, die ignoriert oder bestritten werden, Konsequenzen durchsetzen und mich fragen, ob die Mühe, die ich mir mache, es eigentlich wert ist.

Morgen früh aber, wenn die Drittklässler fernab jeder Spielkonsole gebannt die Prinzessin ins Schlafgemach begleiten, um den Frosch an die Wand zu werfen, wird sie es wieder wert sein.

Es ist Advent. Gut so.

* Star Wars ist immer noch ein sehr großes Thema.

 

 

Frau Weh(mut)

Unverkennbar Schuljahresende.

Wann sonst hat man das Gefühl, alles ziehe so rasant an einem vorbei, dass man kaum noch zum Luftholen kommt? Ist es nicht als würde man einer kleinen Murmel am oberen Treppenabsatz einen Stips geben, woraufhin sie – poingpoingpoing – uneinholbar Stufe für Stufe herabkullert? So jedenfalls fühle ich mich gerade. Eben waren es noch Wochen um Wochen, jetzt lassen sich schon Stunden abzählen. Wo soll ich also mit dem Erzählen anfangen? Vielleicht bei dem Fauxpas, den sich Supermom beim Elterntralalafest geleistet hat? Oder lieber bei einer unglaublichen Nachricht, die mir das Schulamt zukommen ließ? Möchtet ihr von der traurig-schönen-lustigen Abschiedsfeier mit den Zweitklässlern hören oder doch lieber vom Kolleginnenabschied mit Luftpumpen, Bananafishbones und den CrazyFunkyChicken?

Nein, ich starte bei den Zweitklässlern, haben sie mir doch heute eine Überraschung bereitet, die so gelungen war, dass mir ganz urplötzlich die gänsehäutige Gewissheit die Arme heraufkroch, dass ich diese Klasse trotz allem irgendwo ins Herz geschlossen habe. Und – fast schöner noch – Spuren hinterlassen habe.

Kurz vor der Frühstückspause bauten sie sich aufgeregt vor mir auf. Alle, wie sie da waren: Amelie, Pauline, Lennox, Justin, Mia-Sophie und so viele mehr. „Frau Weh, fragen Sie sich nicht, warum wir Sie letzte Woche immer Kaffeetrinken geschickt haben? Wir haben Ihnen ein Abschiedslied gemacht.“

Und dann sangen sie. Metrisch nicht sehr rein, aber voller Inbrunst, auf die bekannte Melodie des Irischen Segenswunsches getextet.

Liebe Frau Weh, wir haben Sie lieb und der Abschied fällt uns richtig schwer.

Weil wir richtig Spaß hatten, wollen wir uns nicht so trennen.

Refrain

Liebe Frau Weh, wir hatten Spaß mit Ihnen und der ganzen Klasse.

Sie sind nett, hübsch und lustig, deshalb haben wir Sie ganz doll lieb.

Refrain

Dicke Tränen werden nun fallen, weil Sie uns ins Herz gewachsen sind.

Und wenn Sie uns jetzt verlassen, sticht ein großes Loch in unser Herz.

Refrain

Wir gehen nicht ins 3.Schuljahr, weil Sie ja nicht mehr da sind.

Und ins 4. gehen wir auch nicht, weil Sie ja nicht dabei sind.

Refrain

Und wir wollen noch etwas sagen, Sie sind die beste, die es gibt.

Wir werden Ihnen ganz doll versprechen, wir arbeiten leise und lieb normal.

Und bis wir uns wiedersehen, hoffen wir, dass Gott Sie nicht verlässt.

Er halte Sie in seinen Händen, doch drücke seine Faust Sie nicht zu fest!

Was soll ich sagen? Ich musste mal schlucken.

Und dann musste ich sie mal drücken.