Am nächsten Morgen beichte ich der Klasse meine Tat. Natürlich ist die Empörung groß, schließlich hat man sich Mühe gegeben. Einige Kinder räumen ein, dass es mir wahrscheinlich um den Effekt gegangen und dieser ja immerhin deutlich geworden sei. Nach einigem Hin und Her beschließt die Klasse großmütig, mir die Methodenwahl zu verzeihen, wenigstens habe man ja noch Fotos von den Werken.
Ich warte ab, bis es wieder ruhig ist, und teile den Viertklässlern dann mit, dass ich bei der Aktion geschummelt habe. Sie schauen mich ratlos an. Sie haben mir doch schon verziehen! Ich stelle eine große Glasvase auf mein Pult. Sie ist gut mit Wasser gefüllt. Auf meine Aufforderung lösen Sinan und Schmitti je 10 Eiskugeln aus der Folie und lassen sie ins Glas fallen. Friederike stellt fest, dass der Wasserspiegel steigt. Ich zwinkere ihr zu und lasse sie mit einem Folienstift den aktuellen Füllstand auf die Vase zeichnen.
Während wir uns die Zeit mit adverbialen Bestimmungen vertreiben, schmelzen die Eiskugeln.
„Da ist ja gar nicht mehr Wasser drin!?“, staunt Celina, als wir uns nach der Pause erneut mit dem Phänomen beschäftigen. „Haben Sie wieder geschummelt?“, fragt Nick streng. Aber da ich wegen meiner Pausenaufsicht den Klassenraum mit den Kindern gemeinsam verlassen habe, wird klar, dass ich diesmal meine Finger nicht im Spiel habe.
„Aber dann ist das Abschmelzen der Pole ja gar kein Problem.“, Katherine kratzt sich am Kopf. Ratlosigkeit macht sich breit. Ich schlage vor, mehrere Teams zu bilden, um herauszufinden, was genau der Meeresspiegelanstieg mit dem Klimawandel zu tun hat. Die Gruppen sind schnell gebildet. Einige Kinder sitzen bereits am Computer, manche holen sich Lexika, Bücher und Zeitschriften. Alisas Gruppe bittet um die Genehmigung, weitere Experimente durchzuführen. Ich erkläre mich bereit, neue Eiskugeln aus der Lehrerküche zu holen und freue mich über die unverhoffte Gelegenheit, dies mit einer Tasse Kaffee und einem kurzen Plausch mit der weltbesten Sekretärin zu verbinden.
Als ich mit Kaffee und Eiskugelbeuteln wiederkomme, arbeiten fast alle Gruppen mit Feuereifer. Alisas Team hat auf die Schnelle eine neue Insel geknetet und – ich staune! – Landzungen eingebaut, auf denen die Mädchen nun die Eiskugeln ablegen. Auch hier wird der Wasserstand mit Marker auf der Seite festgehalten. Vorsichtig tragen sie die Schale auf die Fensterbank.
Am Ende der Arbeitszeit hält eine Gruppe einen Kurzvortrag über die verschiedenen Faktoren globaler Erwärmung. Das meiste ist korrekt, bei manchem muss ich intervenieren. Schwierige Inhalte müssen noch einmal etwas heruntergebrochen werden, damit alle Viertklässler das Phänomen verstehen.
Eine weitere Gruppe hat sich das große Mammut-Buch der Technik vorgenommen und hält einen etwas kruden Vortrag über Archimedes. Besonders die Tatsache, dass der alte Grieche nackt im Zuber hockte, als er seine Entdeckung der Verdrängung machte, sorgt für Heiterkeit.
Die Eiskugeln aus Alisas Gruppe sind noch nicht alle geschmolzen, aber es lassen sich bereits Schlüsse ziehen, dass Schmelzwasser sehr wohl für einen Anstieg des Wasserspiegels verantwortlich sei, allerdings müsse es sich vor dem Schmelzen auf Land befunden haben.
Ich bin zufrieden mit dem Verlauf der Stunden, die Kinder ebenfalls. Als wir den Klassenraum verlassen, hakt sich Friederike bei mir ein: „Das war schon fies von Ihnen, Frau Weh! Erst unsere Inseln zerstören und uns dann auch noch in die Irre führen wollen. Gut, dass wir so schlau sind!“
Ich schweige und lächle.