Lehrergesundheit

„Und woran glaubst du?“, fragt mich die Kollegin lustlos und tippt mit ihrem Kugelschreiber auf dem Block herum.

Wir befinden uns mitten in einer lehrergesundheitsfördernden Fortbildung mit einer angegrauten Schulpsychologin, die zwar für alles Verständnis, aber für nichts eine Lösung hat. Sie spiegelt und bestärkt uns, nickt wissend und gütig ob der vielzähligen Ansprüche, die auf uns herabregnen, kann uns aber nichts bieten außer Allgemeinplätzen und Tipps, die in jeder Frisörzeitschrift zu finden sind. Und jetzt auch noch Partnerarbeit. Gemeinsam sollen wir nach dem suchen, was uns hält. Ganz toll.

Gesprächsfetzen dringen an mein Ohr. Die Kolleginnen um uns herum glauben wahlweise an das Gute im Menschen oder den Lernwillen jedes Kindes. Erwartungsgemäß mustergültig. Ich will nach Hause.

„Und?“, dringt die Stimme meiner Kollegin an mein Ohr.

„Ich glaube an guten Sex“, antworte ich im Brustton der Überzeugung.

„An guten Sex und an Schokolade. Beides finde ich gleichermaßen wichtig, wobei ich ehrlicherweise anmerken muss, dass ich von einem der beiden etwas zu viel und vom anderen etwas zu wenig habe.“

Die Kollegin reißt ungläubig die Augen auf. Offensichtlich hatte sie mich auch dem mustergültigen Antwortstyp zugerechnet.

„Tatsächlich ist es so, dass ich das eine deutlich besser in meinen Alltag integrieren kann. Während beim anderen … tja, das ist echt manchmal schwierig mit der Zeitplanung! Ich hab Familie, weißt du? Abends bin ich SO müde, das kann sich kein Mensch vorstellen! Und jetzt, in der Heuschnupfenzeit ist das noch viel schlimmer. Die Allergietabletten mähen mich regelrecht nieder. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich in Konferenzen mit offenen Augen geistig irgendwo im Nirwana spaziere. Und morgens? Pfff! Mein Wecker reißt mich um 5.30 Uhr aus dem Tiefschlaf, das ist schon genug Interruptus. Schokolade hingegen steht ständig zur Verfügung und bewegen muss man sich auch nicht dabei.“

Mit einer Mischung aus Grunzen und Schnauben prustet die Kollegin ihre Erheiterung lautstark in den Raum. Sofort wenden sich uns neugierige Augenpaare zu. Leider nimmt auch die umherwandelnde Schulpsychologin unmittelbar Kurs auf unser fröhliches Stelldichein.

„Und?“, fragt sie in dieser großmüttelichen Gütigkeit, die mir schon seit 85 Minuten auf die Nerven geht. „Sie kommen gut voran, wie ich höre. Was haben Sie gefunden, das sie hält?“

Eine leichte Röte zieht mir die Wangen hinauf. Wann lerne ich dummes Huhn eigentlich endlich, mich in Gesellschaft angemessen zu verhalten? Ich möchte sofort im Boden versinken. Da kommt mir meine Kollegin zu Hilfe und stammelt unter Glucksen eine Antwort: „Bei der Stange. Toblerone. Also Stange. Frau Weh braucht regelmäßig … Schokolade und so.“

Die Kollegin japst kläglich nach der Luft, die ich gerade anhalte. Doch die Schulpsychologin ist begeistert und klatscht in die Hände: „Hören Sie zu, meine Damen, wir haben hier einen ganz wichtigen Aspekt: Die Sorge um sich selber! Seien Sie gut zu sich! Genießen Sie!“

Sich selber mitreißend wallt die Psychologin vor unseren Augen auf und ab, wirft die Arme in großer Geste und bestärkt uns wortgewaltig in unserem kläglichen Bemühen gut zu uns selber zu sein. Sie scheint sich zu vergrößern, zu verdoppeln, nein – sie bläst sich nahezu übermenschlich auf vor Überschwang. Schokolade, Yoga, Relaxen in der heißen Badewanne! Ein wahres Potpourri der Möglichkeiten schwirrt im Raum. Alles scheint ein erwägenswerter Weg zur Erleuchtung zu sein.

„Ich möchte auf der Stelle sterben!“, raunt mir die Kollegin zu, über deren Wangen nun Tränen fließen im verzweifelten Bemühen, das Lachen zu unterdrücken. Ich nicke stumm, während ich staunend Zeugin einer verbalen Erruption allererster Güte werde. Was für ein Geschwafel!

Noch völlig ergriffen von der Gewalt der eigenen Worte blickt die Schulpsychologin auf ihre Uhr und verkündet eine kleine Pause. Es war nun doch ein wenig anstrengend, nicht wahr?

„Lust auf einen Kaffee in Freiheit?“, fragt mich die Kollegin.

Wenig später sitzen wir in einem kleinen Café und schütteln gemeinsam die Köpfe über die unsinnige Veranstaltung. Eine von so vielen unsinnigen Veranstaltungen! Wir reden über den Job, die Familie und die Unmöglichkeit allem gerecht zu werden. Über Schokolade reden wir übrigens nicht. Die essen wir.

P.S. Ich weiß, dass Schokolade keine Probleme löst.

Aber das tut ein Apfel ja auch nicht.

 

Entspannung, mach schon!

Wir schreiben den ersten Osterferientag. Ich habe soeben mein Arbeitszimmer betreten und falle einer plötzlichen Lähmung anheim. Der Anblick des ganzen Müssens und Sollens, der sich mir in ordentlichen und nicht ganz so ordentlichen Stapeln präsentiert, lässt keinen Zweifel aufkommen: Da geht noch was.

Über meinem Kopf bildet sich eine dunkle Wolke und in meinem Bauch ein Knubbel aus Unbehagen. Die kleine Frau Weh sitzt auf meiner Schulter, wackelt fröhlich mit den Zehen und spannt einen Schirm auf, da ergießt sich auch schon ein Schwall desolater Gedanken aus der Arbeitszimmerwolke. „Jetzt entspann dich doch mal“, zwitschert der kleine Quälgeist in mein linkes Ohr, „sind doch Ferien!“

„Ja, aber schau dir das hier doch mal an!“, entgegne ich und deute mit einer Armbewegung auf das ganze unsortierte Vorhaben, das sich auf Schreibtisch, Regalen und Boden drängt. „Wie soll ich mich entspannen? Das muss alles weggearbeitet werden.“ Die Tropfen, die auf mich herabfallen, werden immer größer und schwärzer. Nun haben sie bereits Farbe und Konsistenz dicker Tinte angenommen.

„Haha“, lacht die kleine Frau Weh gehässig und lässt ihr Pferdeschwänzchen wippen, „und dann noch die ganze Vorbereitung bis zum Sommer! Die Zeugnisse! Das neue, hochproblematische Kind! Wie viele Schüler hast du jetzt eigentlich mittlerweile?“ Sie legt die Stirn in Falten und zählt übertrieben an den Fingern ab. „Ui! Willst du denen wirklich noch allen gerecht werden und wie stehts eigentlich mit der eigenen Familie?“

„Ach, sei still!“, entgegne ich und schlage den Kalender zu, der mir mit bunten Post Its zuwinkt, auf denen Termine und Verabredungen notiert sind, die nur in den Ferien möglich zu sein scheinen, weil der Alltag kaum mehr weiße Flecken auf der Landkarte vorzuweisen hat. Zeit, dass sich was ändert, denke ich und es ist weniger die Tatsache, dass ich mich mit einem eingebildeten Alter Ego unterhalte (welches mittlerweile übrigens fröhlich durch die Pfützen schwerer Gedanken hüpft, die sich auf der Schreibtischplatte gebildet haben) als das Thema dieser Unterhaltung. Es gibt nichts zu beschönigen: Jetzt gerade ist alles ein wenig zu viel.

Dieses Gefühl ist nicht neu und es ist auch nicht überraschend. Tatsächlich empfinden die meisten meiner Kolleginnen so, wenn sie ein erstes Schuljahr führen und vielleicht ähnlich familiär eingespannt sind. Auch ich kenne bereits diese zyklischen Phasen, die besonders in der Zeit zwischen Oster- und Sommerferien beachtliche Höhe erreichen können. Die Frage ist nur, wie damit umgegangen wird. Wo kann Zeit eingespart, besser genutzt oder Arbeit umstrukturiert werden? Wie kann ich mich selber nicht verlieren in all dem Kümmern um und Sorgen für? Wo soll ich bloß anfangen und – wichtiger noch – wo soll, wo muss ich aufhören damit?

Die kleine Frau Weh, durchaus für Gemeinheiten zu haben, aber immerhin auch mit einem Minimum an Anstand ausgestattet, schleppt derweil eine Tasse Kaffee an und lässt sich mit einem Schnaufen auf dem Teelöffel nieder. Herzhaft beißt sie in ein Heidesandplätzchen, das sie hinter der Tasse hervorzieht, und deutet mit einem Kopfnicken zum Telefon: „Nun mach schon!“

Ich überlege nicht mehr, denn überlegt habe ich schon lange genug, stattdessen greife ich zum Telefonhörer und vereinbare einen Supervisionstermin mit der Schulpsychologin.

„Na also!“, nickt die kleine Frau Weh besserwisserisch und beugt sich über den Tassenrand, um ein winziges Schlückchen schwarzen Kaffees zu trinken. Ich kann nicht anders, ich gebe ihr einen kleinen Stipps, woraufhin sie mit flatternden Röcken in der Tasse landet und mich lautstark zwitschernd beschimpft. Da poltert es lautstark an der Türe und das Miniweh wirbelt mir in die Arme. Energie bis unter die letzte Haarwurzel. „Mama, wann kommst du? Ich habe was für dich gebastelt. Komm dir das jetzt angucken. Das ist total schön und das zeige ich keinem anderen und nur dir, denn ich habe das ja auch nur für dich gemacht. Jaaa? Jetzt?“ Ich küsse das Miniweh auf die Nasenspitze, schneide der kleinen Frau Weh eine Grimasse und schließe die Türe des Arbeitszimmers. Heute sind Ferien.