Besuchsdruck

Dass der Chef während der Freiarbeitsphase den Klassenraum betreten hat, bemerke ich erst, als er ein Gespräch mit Merve und Noah über ihre Arbeiten beginnt:

„Guten Morgen, Merve. Was machst du denn gerade?“

„Lies mal!“

„Prima. Und du, Noah? Aha, du rechnest.“ Noah hat wenig Zeit für Smalltalk. Konzentriert reiht er Bärchen um Bärchen hintereinander auf und überprüft seine zuvor gerechneten Ergebnisse.

Nickend schreitet der Chef noch ein paar Bänke ab und beobachtet die Erstklässler beim Schreiben, Lesen, Spielen oder Rechnen, bis er an meinem Pult stoppt, wo ich gerade Yasins Heft abstemple. „Läuft ganz gut, die Freiarbeit.“, meint er anerkennend. Ich bestätige dies, nicht ohne einen Hinweis darauf zu geben, dass wir weiterhin an der Lautstärke arbeiten. Offensichtlich findet der Chef diese aber ganz in Ordnung, denn nun tritt er mit einer Bitte an mich heran. Die Mutter eines Kindergartenkindes hat sich zum Besuch angekündigt, ob sie wohl bei den Erstklässlern gegen 8.30 Uhr vorbeischauen könnten?

„Halb neun?, überlege ich, „Ok, da sind wir gerade im Kreis, das passt ganz gut.“

Wir bangen um die Größe der kommenden Eingangsklasse. Jede Anmeldung zählt und so hat jede von den Kolleginnen ihr Scherflein beizutragen im Kampf um mehrere, aber dafür kleinere Klassen. Mein Part dabei ist es, den Eltern zu zeigen, dass bei uns trotz der großen Klassen ganz hervorragend gearbeitet wird. Andere erläutern das Förderkonzept oder unterbreiten die herausragende Arbeit mit den Kooperationspartnern der Schule. Nein, da baut sich kaum Druck auf …

Der Chef freut sich und zieht sich ins Büro zurück, während ich wohlwollend meinen Blick über die Klasse schweifen lasse. Scheint, als handele es sich wirklich um einen guten Morgen. Alle arbeiten und niemand wirft mit Knetgummi oder Schimpfwörtern um sich. Vielversprechend! Wir beenden die Freiarbeit ohne Hektik und treffen uns zum gemeinsamen Singen im Kreis. Es ist Punkt halb neun und die Atmosphäre ist ausgesprochen vorzeigbar. Insgeheim sonne ich mich nun doch ein wenig in diesem Glanze. Wie schade, dass die Mutter sich offenbar verspätet. Trotz, dass wir fünf Lieder schmettern (mit Glockenspiel und Gitarre. Mit Klatschen und Schnipsen und laut und leise Singen! Extra nochmal wiederholt und abwechselnd gesungen!) verstreicht die Zeit, ohne dass der erwartete Besuch sich einstellt. Schon schickt Ole sich an, aus dem Klassentagebuch vorzulesen, auch ein sehr repräsentativer Moment. Ole liest stockend vor, dass er in der gestrigen Pause mit Ben gespielt und im Matheunterricht mit Gummidinos gearbeitet hat. Mensch, nun komm endlich!, denke ich insgeheim und beginne die unpünktliche Mutter schon ein klein wenig unsympathisch zu finden. Denn noch länger kann ich diese friedvolle Phase nicht ziehen, ich möchte die etwas kniffeligen Hausaufgaben für den folgenden Tag noch im Kreis erklären und dass das nicht ganz so leise und verständig ablaufen wird, ahne ich bereits. Weitere fünf Minuten verstreichen und ich hake den Besuch im Geiste ab.

„Wir schauen uns jetzt gemeinsam die Hausaufgaben an.“

Es kommt, wie es kommen musste. Genau in dem Moment, in dem die Arbeitshefte verteilt werden und der große Tumult ausbricht (mein Heft ist weg, der Finn hat mich geschubst, nein, der Zoltán war das, du hast mein Heft, Frau Weh!), schiebt der Chef die Mutter nebst Töchterlein in den Raum. Was für ein Hallo!

„Ahhh, das ist die Lilli! Die kenn ich ja!“

„Hallo Liiiiilliiiiii!“

„Die war bei mir im Kindergarten.“

„Da ist die doch immer noch, du Doofi!“

Es wird wild gewunken und gerufen. Klein-Lilli versteckt sich mit entsetztem Blick hinter dem Bein ihrer Mutter. Der Chef macht große Augen und die Mutter setzt ein gezwungenes Lächeln auf. Der Lärm ist beeindruckend. In meinen Eingeweiden macht sich Resignation breit. Ich versuche, die Massen zu beruhigen und gleichzeitig kompetent wie liebenswürdig zu wirken. Es gelingt mir … nicht sehr überzeugend. Endlich haben sich alle wieder unter Kontrolle, der Lautstärkepegel sinkt, sogar die richtige Seite haben sie aufgeschlagen. Can liest die Aufgabe vor (fast fehlerfrei!) und mehrere Hände schießen in die Höhe, um sie zu erläutern. Ja, das wirkt wieder sehr aufgeräumt und gelungen, finde ich, Klippe gerade noch so umschifft. Ich werfe einen verstohlenen Blick über die Schulter zu unseren Gästen. Doch der Platz ist leer, niemand mehr da. Na toll.

Der Rest des Vormittags läuft konzenriert, fröhlich und völlig normal ab. Keine weiteren Ausbrüche sind zu verzeichnen. Als ich den Chef später am Kopierer treffe, klage ich mein Leid – es klingt ein wenig nach peinlicher Entschuldigung. „Ihr habt genau den einen Moment erwischt, in dem es hoch herging.“

„Mach dir nichts draus“, antwortet er. „Sie haben trotzdem angemeldet. Die Mutter fand unsere Kunstausstellung im Treppenhaus ganz toll und die Toiletten sehr sauber.“