Ich sitze im Warteraum der Autowerkstatt und beobachte durch die Scheibe den Ölwechsel meines Wagens. Auf dem Tisch vor mir steht eine Tasse Kaffee und dampft fröhlich vor sich hin. Ich puste hinein und bemerke halb belustigt, halb irritiert, dass der Dampf sich in Form eines Herzens verflüchtigt. Überall Liebe. Sogar das Klopapier auf der Lehrertoilette trägt derzeit Herzchen. (Angeblich duftet es auch nach Rosen, aber das kann ich nicht bestätigen.)
Was aber ist mit mir und meinem Vorhaben?
Wie vorausgesehen ist es alles andere als einfach. Vielleicht habe ich mir zu viel vorgenommen. Wer krempelt schon innerhalb eines Monats sein Familienleben um? Immer wieder bin ich gereizt und genervt, besonders mit dem größeren Wehwehchen. Längst ist das keine Mutter-Sohn-Sache mehr, die Pubertät hat ihre tentakelhaften Widrigkeiten ins Familienleben eingeschleust. Plötzlich gibt es Widerworte, Nullbockphasen und Schulterzucken. Ach ja, einen neuen Mitbewohner haben wir auch, das mir doch egal! ist eingezogen. Es ist ein wenig wie bei Hase und Igel; wann immer ich einen Raum betrete, das mir doch egal! ist schon dort und hat wahlweise seinen Teller stehen gelassen, seine Wäsche vergessen oder seinen Ranzen auf den Boden geschleudert. Freunde hat es übrigens auch. Das ich hab keinen Hunger! beispielsweise sitzt regelmäßig übellaunig mit am Tisch und hat das heute mach ich keine Hausaufgaben! mitgebracht.
Das wäre ja vielleicht mit Humor noch zu ertragen, wenn da nicht noch mein eigenes Problem wäre: Ich komme schlecht aus meiner Lehrerrolle heraus. Es ist wie ein enges Kostümchen, in das ich mich morgens hineinschlängele, das aber spätestens nach dem Mittagessen spack auf den Hüften sitzt und mich (aber vor allem meine Familie) nicht mehr gut atmen lässt. Eine Brille, die ich vergesse abzulegen und die mich zwingt, meine Kinder mit Lehrerinnenblick anzusehen, wo eigentlich Verständnis, wenigstens aber ein freundlicher Rüffel angebracht wäre. Stattdessen takte ich den Tag durch, um eine Lücke zu finden, in die eine Extraportion Vokabeln, Grammatik, wasauchimmer hineingestopft werden könnte. Zu meiner Verteidigung muss ich anbringen, dass Schule nicht mehr so ist, wie früher. Ist das ein G8-Problem? Häufig kommt das Wehwehchen nach Hause und bringt Inhalte mit, die in der Schule lediglich angerissen, aber nicht vertieft wurden. Bitte gehen Sie das mit Ihrem Kind noch einmal in Ruhe durch und unterstützen sie es! Schreibt die Klassenlehrerin in einer E-Mail. Was aber ist mit Eltern, die sich weder zeitlich, noch intellektuell in der Lage sehen, die Schulbildung ihrer Kinder mit Kenntnissen in lateinischer Grammatik, Algebra oder der Verdauung der Kuh zu unterfüttern? Nicht jeder ist in der komfortablen Lage, sein Kind so zu begleiten. Gehen die dann einfach unter?
Kopfschüttelnd nehme ich einen Schluck Kaffee und lasse meinen Blick durch den Wartebereich schweifen. Die Kaffeemaschine blubbert beruhigend, als wolle sie mir zuraunen, mich endlich zu entspannen.
Will ich ja auch wirklich, mich entspannen. Aber oft genug macht mir die Schule Sorgen. Lustig eigentlich, nicht wahr? Wo ich doch zumindest ansatzweise vom Fach bin. Aber es scheint, als wäre das Gymnasium ein ganz anderer Kosmos, zumindest die Verantwortlichkeiten sind klar: Eltern, ran an die Arbeit! Ich rechne kurz durch und stelle fest, dass wenn das Wehwehchen Abi machen sollte und ich mein Verhalten nicht ändere, wenigstens einer von uns beiden zwangsläufig bis dahin irre werden wird.
Bevor ich mich in weiteren düsteren Prognosen ergehen kann, bringt mir der freundliche Monteur sowohl die Autoschlüssel als auch die frohe Kunde, ich hätte die nächsten 20.000 Kilometer Ruhe. „Oh, das wäre wirklich wunderbar!“, strahle ich ihn an. Die Aussicht 20.000 Kilometer lang nur Ruhe zu haben, hat etwas extrem Tröstliches! Wie weit käme ich, wenn ich jetzt einsteigen und einfach immer weiter fahren würde? Hätten wir dann wohl schon Abitur?
Ich winke dem verdutzten Monteur fröhlich zu, als ich vom Hof fahre. Heute machen wir keine Vokabeln mehr, beschließe ich, heute spielen wir Tischtennis!