Elternsprechtag

Ich bin nicht sehr groß. Meine Gesamterscheinung beeindruckend zu nennen, wäre gnadenlos übertrieben. Aber ich kann lächeln. Und es ist dieses Lächeln, das ich nun wie eine Einmannramme vor mir hertrage, als der Physiklehrer des mittelgroßen Wehwehchens pünktlich um 14.00 Uhr die Tür zum Fachraum öffnet. Heute ist Elternsprechtag und mehr noch als die Info, dass eben dieser Lehrer die Leistung meines Ehesegens vor zwei Wochen mündlich auf eine Vier minus festgesetzt hat, trifft mich die Tatsache, dass er auf den Einwand des verdatterten Kindes, es sei ansonsten ein guter Schüler, einfach aufgelacht habe. Ob ungläubig oder spöttisch sei dahingestellt. Da muttiert doch wohl die gelassenste aller Mütter. Und tobt. (Oder benutzt Tiernamen.)

Der Lehrer begrüßt mich mit Namen und einem vagen Kopfnicken Richtung Stuhl.

„Herr Poundal“, beginne ich das Gespräch, „bevor wir konkret über meinen Sohn reden, möchte ich Ihnen gerne als Rückmeldung geben, wie positiv überrascht wir als Eltern von der Notentransparenz waren, die Sie den Schülern zu so einem frühen Zeitpunkt vermittelt haben. Wir erkennen die Chance, die Sie den Kindern damit geben.“

Des Physiklehrers Gesicht überzieht ein ungläubiges Staunen. Er wirft einen raschen Blick in seine Notenliste. Doch, da steht der Name des Wehwehchens mit einer wackeligen Vier dahinter. Er schüttelt ganz leicht den Kopf (vermutlich hat er einen anderen Gesprächseinstieg erwartet) und schaut mich zunehmend freundlich an: „Das ist ja auch mein Ansinnen. Ich möchte den Schülern die Möglichkeit geben, sich realistisch einzuschätzen und aktiv an der Gestaltung ihrer Note zu arbeiten.“

Ich nicke. „So haben wir das auch verstanden. Aber ich möchte nicht verhehlen, dass uns diese Note sehr überrascht und, ja, auch besorgt hat, da sie dem übrigen Leistungsbild unseres Sohnes nicht entspricht. Er ist ein solider Schüler und da sticht die Vier deutlich heraus.“

Herr Poundal runzelt die Stirn. „Jaaa, das hat er mir auch gesagt, dass er eigentlich ein guter Schüler sei. Ich konnte ihm das gar nicht glauben.“

Als das Wehwehchen mir dies vor zwei Wochen mitteilte, ließ ich mich auf dem heimischen Sofa zu einem durchaus beleidigenden Ausruf hinreißen, der dem Nachwuchs augenblicklich etwas die bedrückende Last von den Schultern nahm, im heutigen Gespräch aber definitiv fehl am Platze wäre. Daher unterlasse ich es, Herrn Poundal darauf hinzuweisen, wie unmöglich ich seine Äußerung finde und fahre in neutralem Ton fort. „Da hatte er aber völlig recht. Mein Sohn hat mir mitgeteilt, dass er sich vermutlich zu selten meldet und dieses Verhalten nun ändern will. Konnte er das schon umsetzen?“

„Ja“, bekräftigt Herr Poundal nach einem erneuten Blick auf seine Liste mit den Kreuzchen und den Kreisen. Jetzt sieht er wieder ein wenig irritiert aus, aber vielleicht müssen Physiklehrer ja immer ein bisschen so aussehen. Die Naturgesetze (und zweifelsohne zählt der elterliche Schutzmechanismus dazu) sind doch einfach zu überwältigend, nicht wahr? „Tatsächlich habe ich mir für die Stunden danach ein Plus notiert. Da hat er das ja schon gut umgesetzt.“

Wir unterhalten uns noch kurz darüber, wie wichtig die mündliche Mitarbeit und wie groß (und sicher nicht immer erfreulich) die Aufgabe eines Fachlehrers in der Mittelstufe sei. Ich lasse einfließen, wie interessiert das Wehwehchen vom Physikunterricht erzählt habe. Der Physiklehrer nickt verstehend. Ja, Physik sei so ein wunderbares Fach. Er schlägt vor, dass das Wehwehchen sich in regelmäßigen Abständen eine persönliche Rückmeldung abholen könne und notiert dies in seinen Unterlagen. Ich stimme dem Vorschlag zu und bedanke mich für das konstruktive Gespräch und die Zeit, die er sich dafür genommen habe. Herr Poundal strahlt.

„Bitte richten Sie Ihrem Sohn aus, dass ich mich auf seine Mitarbeit freue!“

Herr Poundal freut sich, ich freue mich (nicht ganz so sehr freut sich später das Wehwehchen über die Aussicht nun regelmäßig seinen Physiklehrer ansprechen zu müssen, aber da muss es jetzt einfach durch), Tür auf, auf Wiedersehen, vielen Dank, Tür zu. Erledigt.

„Fandest du den Poundal auch so schlimm?“, fragt mich kurz darauf die Mutter eines Mitschülers, die das Gespräch mit dem Physiklehrer in gleicher Angelegenheit schon am Morgen hinter sich gebracht hatte.

„Och“, antworte ich und trinke einen Schluck viel zu starken Pappbecherkaffees, für den ich der SV 2,- Euro ins Spendenschwein geworfen habe, „ging eigentlich.“

 

Begegnungen

Es fällt mir nicht leicht, das Gefühl einzuordnen, das mich überkommt, als ich den Schulhof meines eigenen alten Gymnasiums betrete, um an der Erprobungsstufenkonferenz für meine letzten Viertklässler teilzunehmen. Vieles ist wie früher, sogar der Geruch in der Aula des Hauptgebäudes. Ich sehe die Schaukästen mit den ausgestellten Ergebnissen der Kunstkurse und erinnere mich an eine meiner Collagen, die dort hing. War das im siebten Schuljahr oder im achten? Später kann es nicht gewesen sein, denn recht schnell musste ich mich damals zwischen Kunst und Musik entscheiden. Eine Entscheidung, die ich bis heute bedaure, hätte ich doch beides gerne fortgeführt.

Ich gehe an der Mensa vorbei, die es damals noch nicht gab. Ein Zugeständnis an das G8. Mir begegnen Schüler, die mich mehr oder weniger neugierig anschauen. Einer winkt in Richtung Nebengebäude, ich scheine nicht die erste Grundschullehrerin zu sein, die ihm heute begegnet ist. Dann treffe ich im Konferenzraum ein. Die Tische sind zusammengeschoben, neben den Namensschildchen stehen Blumen. Alles ist freundlich und offen. Grundschulkolleginnen, die ich von Fortbildungen kenne, winken mich zu sich an ihren Tisch. Es fühlt sich fremd an und dennoch vertraut. Es fällt mir schwer die Schülerin abzuschütteln, die ich hier neun Jahre lang war. Doch ich kann nicht lange darüber nachgrübeln, denn pünktlich geht es mit der Begrüßung der Unterstufenkoordinatorin los. Unter den Gymnasialkollegen, die nun den Raum betreten, befindet sich ein ehemaliger Lateinlehrer. Er erkennt mich auf der Stelle und ungeachtet der noch andauernden freundlichen Begrüßung, kommt er mit großen Schritten auf unseren Tisch zu und schließt mich in eine Umarmung, die überraschend wohl wirkt.

„Ist das schön, dich zu sehen!“, sagt er, „Und wir sind Kollegen? Das freut mich sehr, dann sind wir jetzt beim Du!“

Er rückt einen Stuhl neben meinen und es dauert keinen Moment bis wir in eine Unterhaltung finden, die sofort ebenbürtig ist, was mich ganz kurz nur überrascht. Meine Klasse gehörte zu seinen ersten, da setzen sich Erinnerungen leichter fest als im späteren Kommen und Gehen. Dennoch … es müssen fast 20 Jahre sein. Wir erzählen über das Lehrersein, über Ansprüche, Forderungen und Berufungen. Aber auch über Vergangenes, gemeinsame Momente. Wo waren wir damals auf Klassenfahrt? War das diese furchtbare Jugendherberge? Und wie war diese Zeit damals? Es sind wertschätzende Worte, die fallen. Und auf einmal kann ich mein Gefühl einordnen: Es ist bittersüß und dem Verrinnen der Zeit geschuldet. Wo ist sie hin? Ich hatte wohl Glück in meiner Schulzeit. Viele meiner Lehrer waren Persönlichkeiten, die ich respektieren konnte und deren Freude am Unterrichten ansteckend war. „Ja“, nickt der Kollege, „wir waren ein ganzer Schwung enthusiastischer Junglehrer.“ Er lächelt ein klein wenig wehmütig. „Jetzt sind wir ein bisschen älter geworden. Es ist nicht mehr alles wie früher.“

Meine ehemaligen Schüler haben einen anderen Klassenlehrer, daher trennen wir uns nach einer Weile. Die Verabschiedung ist herzlich und ich habe noch ein Lächeln im Gesicht, als ich mich an den Tisch der neuen Klassenlehrerin setze. Sie ist sehr jung, wir kennen uns noch nicht, sind uns aber schnell einig. Sie bedankt sich für die gute Arbeit. Wieder bin ich überrascht. Hatte ich es anders erwartet? Vermutlich. Doch hier ist nichts zu spüren von Standesdünkel. Die Gespräche zeugen von Interesse und gemeinsamer Verantwortung. Die ganze Veranstaltung ist liebevoll geplant und verdient die Bezeichnung Konferenz nicht. Es gibt einen kleinen Imbiss und eine Vielzahl zwangloser Zusammenkünfte. Mittendrin kommt die Direktorin vorbei und dankt für unser Kommen. „Bitte haben Sie keine Scheu sich an uns zu wenden mit Ihren Fragen oder Anregungen. Wir wissen um Ihren Einsatz. Danke, dass Sie hier sind!“

Nach zwei Stunden verlasse ich die Schule. Im Gepäck eine große Portion beidseitiger Anerkennung und die Einladung auf ein Bier beim nächsten Ehemaligentreffen. Von meinem Lateinlehrer. Also hätte mir das einer vor 20 Jahren gesagt …!

Omnia tempus habent.

Ich ziehe das Tor hinter mir zu. Es quietscht. Aha, denke ich, wie früher.

Zwischenstand

Ich sitze im Warteraum der Autowerkstatt und beobachte durch die Scheibe den Ölwechsel meines Wagens. Auf dem Tisch vor mir steht eine Tasse Kaffee und dampft fröhlich vor sich hin. Ich puste hinein und bemerke halb belustigt, halb irritiert, dass der Dampf sich in Form eines Herzens verflüchtigt. Überall Liebe. Sogar das Klopapier auf der Lehrertoilette trägt derzeit Herzchen. (Angeblich duftet es auch nach Rosen, aber das kann ich nicht bestätigen.)

Was aber ist mit mir und meinem Vorhaben?

Wie vorausgesehen ist es alles andere als einfach. Vielleicht habe ich mir zu viel vorgenommen. Wer krempelt schon innerhalb eines Monats sein Familienleben um? Immer wieder bin ich gereizt und genervt, besonders mit dem größeren Wehwehchen. Längst ist das keine Mutter-Sohn-Sache mehr, die Pubertät hat ihre tentakelhaften Widrigkeiten ins Familienleben eingeschleust. Plötzlich gibt es Widerworte, Nullbockphasen und Schulterzucken. Ach ja, einen neuen Mitbewohner haben wir auch, das mir doch egal! ist eingezogen. Es ist ein wenig wie bei Hase und Igel; wann immer ich einen Raum betrete, das mir doch egal! ist schon dort und hat wahlweise seinen Teller stehen gelassen, seine Wäsche vergessen oder seinen Ranzen auf den Boden geschleudert. Freunde hat es übrigens auch. Das ich hab keinen Hunger! beispielsweise sitzt regelmäßig übellaunig mit am Tisch und hat das heute mach ich keine Hausaufgaben! mitgebracht.

Das wäre ja vielleicht mit Humor noch zu ertragen, wenn da nicht noch mein eigenes Problem wäre: Ich komme schlecht aus meiner Lehrerrolle heraus. Es ist wie ein enges Kostümchen, in das ich mich morgens hineinschlängele, das aber spätestens nach dem Mittagessen spack auf den Hüften sitzt und mich (aber vor allem meine Familie) nicht mehr gut atmen lässt. Eine Brille, die ich vergesse abzulegen und die mich zwingt, meine Kinder mit Lehrerinnenblick anzusehen, wo eigentlich Verständnis, wenigstens aber ein freundlicher Rüffel angebracht wäre. Stattdessen takte ich den Tag durch, um eine Lücke zu finden, in die eine Extraportion Vokabeln, Grammatik, wasauchimmer hineingestopft werden könnte. Zu meiner Verteidigung muss ich anbringen, dass Schule nicht mehr so ist, wie früher. Ist das ein G8-Problem? Häufig kommt das Wehwehchen nach Hause und bringt Inhalte mit, die in der Schule lediglich angerissen, aber nicht vertieft wurden. Bitte gehen Sie das mit Ihrem Kind noch einmal in Ruhe durch und unterstützen sie es! Schreibt die Klassenlehrerin in einer E-Mail. Was aber ist mit Eltern, die sich weder zeitlich, noch intellektuell in der Lage sehen, die Schulbildung ihrer Kinder mit Kenntnissen in lateinischer Grammatik, Algebra oder der Verdauung der Kuh zu unterfüttern? Nicht jeder ist in der komfortablen Lage, sein Kind so zu begleiten. Gehen die dann einfach unter?

Kopfschüttelnd nehme ich einen Schluck Kaffee und lasse meinen Blick durch den Wartebereich schweifen. Die Kaffeemaschine blubbert beruhigend, als wolle sie mir zuraunen, mich endlich zu entspannen.

Will ich ja auch wirklich, mich entspannen. Aber oft genug macht mir die Schule Sorgen. Lustig eigentlich, nicht wahr? Wo ich doch zumindest ansatzweise vom Fach bin. Aber es scheint, als wäre das Gymnasium ein ganz anderer Kosmos, zumindest die Verantwortlichkeiten sind klar: Eltern, ran an die Arbeit! Ich rechne kurz durch und stelle fest, dass wenn das Wehwehchen Abi machen sollte und ich mein Verhalten nicht ändere, wenigstens einer von uns beiden zwangsläufig bis dahin irre werden wird.

Bevor ich mich in weiteren düsteren Prognosen ergehen kann, bringt mir der freundliche Monteur sowohl die Autoschlüssel als auch die frohe Kunde, ich hätte die nächsten 20.000 Kilometer Ruhe. „Oh, das wäre wirklich wunderbar!“, strahle ich ihn an. Die Aussicht 20.000 Kilometer lang nur Ruhe zu haben, hat etwas extrem Tröstliches! Wie weit käme ich, wenn ich jetzt einsteigen und einfach immer weiter fahren würde? Hätten wir dann wohl schon Abitur?

Ich winke dem verdutzten Monteur fröhlich zu, als ich vom Hof fahre. Heute machen wir keine Vokabeln mehr, beschließe ich, heute spielen wir Tischtennis!