Nach ausreichend Schlaf und einem Frühstück mit beeindruckender Vielfalt im Cerealiensegment (damals – ich muss es schon wieder sagen – damals gab es hierzulande noch kaum mehr als die Kellogschen Cornflakes plus ein paar weniger süßer Variationen. Die Unmenge an verschiedenen Formen und Trockenheitsgefühlen im Mund, die mich beim Frühstücksflockenbuffet in meinem b&b empfingen – stilecht auf einem silbernen Servierwagen angeordnet – waren eine Wucht!), fand der 2. Besuch der Schule unter denkbar besseren Voraussetzungen statt.
Im Folgenden stütze ich mich auf meine damals glücklicherweise angefertigten Aufzeichnungen. Man möge den gelegentlichen stilistischen Schmu entschuldigen, ich war gerade 20 und der – in diesem Alter häufig anzutreffenden – irrigen Meinung, die Welt warte auf eine angehende Lehrerin wie mich 😉
Im Morgennebel bahnte ich mir erneut den Weg zur Schule. Das Anwesen umfasst 45.000 Quadratmeter und ist umgeben von alten Bäumen und verwilderten Sträuchern. Malerisch liegt das alte Herrenhaus vor mir, umsäumt von mehreren Pavillons, in denen teilweise Schüler, aber auch Unterrichtsräume und Werkstätten untergebracht sind. Es herrscht Ruhe, nur ein Hund bellt als ich mich dem Gebäude nähere. Mein Besuch findet zu einer ungünstigen Zeit statt: Bruce, mein Kontaktmann, lange Zeit Lehrer in Summerhill, ist letzten Term entlassen worden. Zudem verstarb knapp eine Woche vor meiner Ankunft Ena Neill, die nach dem Tode ihres Ehemanns die Schulleitung bis 1985 innehatte. Ihre Tochter Zoe, die bis heute die Schule führt, begrüßte mich knapp, verwies mich aber verständlicherweise an die Lehrer des staffs.
Tatsächlich wird Jonas, ein 15jähriger Schüler aus Deutschland, mein selbsternannter Fremdenführer werden. Er zeigt mir das weitläufige Gelände, die Baumhäuser, Ställe, die Unterrichtsräume und Wohnwagen der Lehrer. Außerdem den big beech, die altehrwürdige große Buche, von Neill gepflanzt, von der sich jeder echte Summerhillianer herabschwingen könne. Immerhin rund 5 Meter über dem Boden. (Besuchern ist dies übrigens… ja, genau, verboten). Dabei erzählt er, dass gerade ungefähr 70 Schüler verschiedener Nationalitäten zwischen 5 und 16 Jahren die Schule besuchen. Das Schulgeld liegt damals bei knapp 9000,- DM für drei terms. Verglichen mit anderen Privatschulen ist dies wenig, dennoch wird Summerhill hauptsächlich von Kindern der gehobenen Mittelschicht besucht. Die Teilnahme am Unterricht ist freiwillig, und, ja, Jonas hat nach seiner Ankunft vor zwei Jahren auch eine ganze Weile keinen Unterricht besucht, sondern hauptsächlich das Gelände erkundet wie er mir grinsend berichtet. Noten gibt es nicht, doch es besteht die Möglichkeit, eine Prüfung (das GCSE) in mehreren Fächern abzulegen, die in etwa unserem Realschulabschluss entspricht, dies strebe er an. Samstags gibt es Taschengeld, wer zu spät kommt, geht für diese Woche leer aus.
Überhaupt sind erstaunlich viele Dinge sehr strikt reglementiert. Ich stehe staunend vor der mehrseitigen Regeltafel im großen Versammlungsraum, auf der offensichtlich alles geregelt ist, was es zu regeln gibt: niemand darf aus dem Fenster im 1.Stock springen, niemand darf ins Essen spucken, niemand darf ein Fahrrad ausleihen ohne zu fragen. Handelt es sich hierbei nicht um Selbstverständlichkeiten? Muss man dafür tatsächlich 238 Regeln schriftlich festhalten? Meine Neugier auf meeting und tribunal steigt, weiß ich doch mittlerweile, dass im tribunal oft recht harte Strafen bei Regelbruch verhängt werden. Beginnend bei Nachtischentzug (was einem beim dortigen Schulessen in der Tat hart treffen kann), über allgemeine Ordnungsarbeiten bis zu Geldstrafen.
Ich lerne die einzelnen Lehrer des staffs kennen, werde freundlich begrüßt und sofort von Jude, die Musik unterrichtet, zur nachmittäglichen lesson eingeladen („if there are some children…“). Pascale, die erst seit ein paar Wochen Französisch, Deutsch und Geschichte in Summerhill unterrichtet, erzählt mir, dass sie vorher an der Freien Schule Berlin unterrichtet habe und dorthin auch wieder zurückwolle. Unterrichten in Summerhill sei hart, da die Unterrichtsverpflichtung – die Freiwilligkeit gilt nur für die Schüler – nach den Stunden nicht aufhöre. Mahlzeiten und meetings kommen dazu, außerdem ist der Tag auch abends nicht beendet, da die Lehrer, die auf dem Schulgelände wohnen, auch nach der Unterrichtszeit neben den houseparents Ansprechpartner der Kinder sind. Die Vergütung ist gering, der Frustpegel oft recht hoch. So effizient es auch sei, mit ein, zwei Schülern zu arbeiten, so ernüchternd sei es, wenn danach drei Tage niemand zum Unterricht kommt.
Nachmittags klingeln mir die Ohren als ich in der recht gut besuchten – 5 Kinder sind gekommen – Musikstunde von Jude sitze, die fröhlich verschiedene Percussioninstrumente verteilt, auf denen in den folgenden 40 Minuten sehr ausdauernd und laut herumgeschlagen wird. Ich habe noch ein Rauschen im Ohr, als ich mich mit Pascale in ihrem Wohnwagen treffe. Wenig später stößt Michael zu uns, er unterrichtet science und erzählt mir, dass er nun seit drei Jahren in Summerhill sei, das sei eine verdammt lange Zeit und überhaupt werde er bald gehen. Die meisten Lehrer scheinen Summerhill als eine Art pädagogische Durchgangsstation zu sehen, ein Punkt, der sich interessant auf der Vita ausmacht, aber bloß nicht für längere Zeit. Aber geht dadurch nicht auch die Fähigkeit zur Zuneigung, Neill selber sprach von Liebe und Anerkennung, verloren, die sie ihren Schülern entgegenbringen sollen?
Pascale schweigt. Michael schnaubt. „Du bist 20, was weißt du von Liebe und Anerkennung?“
…tbc…
Spannend. Hoffentlich reichen die Herbstferien 🙂
Im Studium (es ist doch etwas länger her als deins ;-)) kam mir Summerhill wie ein Quell des Guten und Wahren vor. Ich glaubte im Ernst, alle Menschen würden aus sich heraus zum Lernen und zum gesellschaftlich sinnvollen Tun kommen…
Das glaube ich heute nicht mehr. Aber selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Tun/ ernst genommen werden/ halte ich noch immer für einen „Pfeiler“ der Pädagogik. Einen schönen Sonnatg wünscht dir Rana
Das Konzept Summerhill finde ich bis heute schlüssig, aber die Realität ist eben doch eine andere. Den Rest unterschreibe ich komplett.
Oh Oh, die hohe Fluktuation des staff scheint mir auch bedenklich…
Bedenklich, aber auch verständlich. Wer lebt schon gerne auf Dauer in einem – nicht unbedingt geheizten – Wohnwagen? Da gehört schon eine ganze Menge Enthusiasmus zu. Aber ich sehe es genauso, die Fluktuation macht konstante Bindungen schwierig und die waren für Neill erheblicher Teil seiner Pädagogik.
Du bist echt genial, das liest sich wie ein Roman! Ich wünsche mir ein schnelles ‚tbc‘ 🙂
danke dir, folgt.
Also doch Regeln und Taschengeldentzug. Dachte ich es mir doch.
Die schlechte Bezahlung der Lehrer ist kein gutes Zeichen. Die guten, die auch anderswo eine Arbeit bekommen, bleiben nicht lange. Geld ist auch Anerkennung der Arbeit.
Trotzdem finde ich, dass selbstbestimmtes Lernen und die Akzeptanz des Schülerwillens zu besseren Ergebnissen führt.
Bin auf die Fortsetzung gespannt.
Mehr Regeln als ich anderswo je erlebt habe. Aber man muss relativieren: in Regelschulen gelten nicht unbedingt weniger Regeln, es besteht allerdings nicht die Notwendigkeit, sie alle schriftlich zu fixieren, da es sich bei einem Großteil um Selbstverständlichkeiten des sozialen Miteinanders handelt. Zumindest ist es in meinen bisherigen Klassen nie vorgekommen, dass ein Kind einem anderen in die Brotdose gespuckt hat.
Frau Weh, vielen Dank für die schönen Geschichten. Die grüne Wolke gefällt mir übrigens auch sehr gut, habe es dann auch mal als Schullektüre in eienr 6. Klasse gelesen, glaube ich. Kann man Sachen machen damit. (Spucken in die Brotdose kommt bei uns gelegentlich vor, also wenn man statt Brotdose Seifenspender meint, und statt spucken urinieren.)
Na, das ist ja noch mehr pfui. Wobei sich unsere Schüler eigentlich nur dann mit Seife die Hände waschen, wenn man sie a) dazu zwingt oder b) sie Zeit schinden wollen.