Sitzenbleiben

Früher Mittwochmorgen, auf dem Weg zur Schule.

Im Radio geht es um die Abschaffung der sogenannten „Ehrenrunde“. Ich höre mir an, dass die Schulen anfangen müssten, Verantwortung für ihre Schüler zu übernehmen. Wie viel Geld das Sitzenbleiben kostet (viel) und was es bringt (so gut wie nichts). Herr Himmelrath*, Bildungs- und Wissenschaftsjournalist, äußert sich kämpferisch: „Wenn ich als Lehrer einen Schüler habe, der nicht mitkommt, dann kann ich den abschieben. Da passiert überhaupt nichts an Verantwortung.“ Das Stichwort der individuellen Förderung fällt genau so vorhersehbar wie die Nennung unvermeidlicher Studien, die besagen, dass das Sitzenbleiben kaum pädagogischen Nutzen zeigt.

All das höre ich mir auf dem Weg in die Schule an. Eine Schule, an der derzeit ein Drittel des Kollegiums erkrankt ist. Natürlich gibt es keine Vertretungskräfte. Bis zum Ende der Woche werde ich sechs Stunden Mehrarbeit leisten, auch im Nachmittagsbereich. Ich werde in der Regel zwei Klassen gleichzeitig unterrichten; die Namen aller Schüler werde ich dabei nicht unbedingt kennen. Besonders die jüngeren Klassen werden sich an mich klammern wie an einen Anker, sind sie doch völlig überfordert vom ständigen Vertretungsunterricht, den wechselnden Lehrern, der Enge und der Lautstärke, die eine solche Ausnahmesituation (die eigentlich das Wort „Ausnahme“ kaum mehr verdient, so oft haben wir das schon durchziehen müssen) mit sich bringt.

Ich höre mir an, dass das Geld, welches das Sitzenbleiben jährlich kostet, doch viel besser anderweitig eingesetzt werden solle und schreie einmal laut meinen Frust in den Morgen.

 

 

0 Kommentare zu „Sitzenbleiben

  1. Ach, es geht wohl nur darum, Gelder für die Schulen zu streichen. Wenn keiner sitzenbleibt, sind weniger Schüler auf der Schule und man braucht weniger Lehrer.

    Lauf Wiki ist der Herr nichts weiter als ein Journalist uns ‚Sach’buchauthor, der mal aufs Lehramt studiert hat. Dass der WDR den als Bildungsexperten verkauft, ist schon dreist.

  2. Genau, im NDR 2 hieß es heute, dass die Schwachen SchülerInnen dann nach dem Unterricht (!) individuell gefördert werden sollen. ( ähhhh, Nachhilfe auf Staatskosten? Statt kleinerer Klassen? Und wo kommt das Geld dafür her? )

  3. … aber wir sind doch alle nur Lehrer geworden, weil wir dann soooo viele Ferien haben!!!!! Leute die immer noch auf diesem Standpunkt stehen, sollten mal eine Woche bei Dir arbeiten….

    Ich wünsche dir viel Kraft, Geduld, Gelassenheit und weiterhin so viel Humor, um mit dieser Situation umgehen zu können…

    Alles Gute, Christiane

  4. Wie ironisch, dass das im Artikel dann noch „Kuschelpädagogik“ genannt wird. Ich bin mehrmals sitzengeblieben. Von der 11 in die 12 versetzt, rückgestuft weil aufgrund von Krankheit kaum anwesend, neue Schule, Jahr in der 11 beendet, wieder in die 12 versetzt, wieder krankheitsbedingt gescheitert… ich war aber froh, noch eine Chance zu bekommen, den Stoff der 11 und des 1. Halbjahrs der 12 aufzuholen.

    Was bringt es, jemanden auf Teufel komm raus mitzuschleifen in die nächste und nächste Klasse und der sitzt dann da und schaltet völlig ab, weil er schon den Vorstoff nicht verstanden hat und nun das Neue gar nicht mehr verstehen KANN?! Schwachsinn und ich bin froh, dass ich mittlerweile ein Fernabi mach… und aus dem Schulwahnsinn rausbin.

    1. Danke, das spricht mir aus der Seele.
      Als die Nachricht bei Logo – im Kika diese Woche kam, fragte ich meinen elfjährigen Sohn, wie er die Pläne findet, dass man nicht mehr sitzenbleiben kann. Er findet sie blöd, weil er sagt, ist doch gut, wenn man etwas mehr Zeit bekommt als Schüler, wenn man wo nicht so gut mitgekommen ist. Yep. Ganz meine Meinung.

  5. Da waren wir schon mindestens zwei, die diesen Frust in den Morgen geschrien haben. Dieser Radiobeitrag heut morgen war für mich der Aufreger des Tages. Zu weiteren Aufregern waren keine Kraft mehr bei 8 Stunden am Stück (wegen Vertretung) + Pausenaufsichten
    Diese ganze Diskussion wird doch gar nicht wegen der Schüler geführt, sondern der angeblichen Einsparnis wegen.

  6. Wie soll in diesem Durcheinander ein interessiertes Lernen stattfinden? Engagierte Lehrerinnen wie du hätten ein optimales Umfeld verdient, finde ich. Hast du noch nie über einen Wechsel in eine Privatschule nachgedacht? Oder ist es dort im Grunde genau so?
    Halt die Ohren steif, alles Liebe, Katharina

  7. Zu Mal die jenigen die eine Ehrenrunde schieben wollen (im Besonderen in der Oberstufe) es damit wieder nur schwerer gemacht kriegen :/
    Lehrermangel ist leider Realität, aber es wird einem auch schwer gemacht Lehrer zu werden… ich hatte ein Jahr die Vertretungsplanserstellerin als Klassenleitung und sie – Mrs. Extrempünktlich – kam von November bis März täglich 10 Minuten zu spät weil mancher Kollege meinte um 8 Uhr seine Krankschreibung einreichen zu müssen…

  8. GENAU SO ging es mir heute morgen – gleiche Sendung, exakt die gleiche Reaktion meinerseits… zum Glück hat den Schrei niemand gehört.

  9. Danke für den Beitrag! Auch ich bin dafür, den Schülern, die den „Boden unter den Füßen verloren haben“ – lernstoffmäßig – eine reelle Chance zu geben. Das geht nur, indem man eine Stufe zurückgeht; auch, wenn es schmerzt.
    Die heutige „Schulmurkserei“ von rot und grün, die alles Bewährte mit einem Handstreich zerstört und damit Chaos anrichtet (es wird immer schlimmer – allein „Schönreden“ ist angesagt), schmerzt mich sehr. (Gehört Schule in die Hände von Politikern? Fachleute müssen das ran, aber echte.)
    Zum Glück sind meine Kinder schon Kl. 6 und 8 in einem normalen Gymnasium. Mal sehen, was uns da noch erwartet.
    Ich möchte kein Lehrer sein bei dem Chaos. Viel Kraft dennoch.

  10. Das Konzept ist trickreich. Versetzt wir nicht mehr, dafür aber umgesetzt. Und man kann das alte Gesamtschulprojekt durch die Hintertür wieder einführen. Wenn die Leistungen nicht passen, kommt das Kind eben vom A-Kurs in den B-Kurs. Geht bis C.
    Das geht aber nicht in allen Fächern. Und so hat man dann in der Klasse 6 Kinder in einem Raum, die dem ganzen Spektrum entsprechen, vom interessierten Gymnasialkind bis zum verhaltensauffälligen Förderschulkind. Von wegen individuelle Förderung, bei 2 Stunden Bio pro Woche. Ein so verlogenes System! Habe damals jedem Kommunalpolitiker, der das System verteidigt hatte, angeboten, mal einen Tag mitzugehen.
    Es hat sich rausgestellt, dass sie das nicht wollten und dass sie diese Schule eh noch nie betreten hatten.
    Schulpraktikum für Journalisten und Politiker. Ich mach auch Kaffee und schmier Brötchen.

  11. …eigenerfahrung: in vielen privatschulen ist es noch viel schlimmer, da dort viele kinder landen, die sich als prinz und prinzessin zu begreifen gelernt haben und deren eltern bildung als dienstleistung betrachten. da hilft dann die bessere ausstattung – die es auch nicht immer gibt – herzlich wenig. zudem ist die bezahlung und soziale absicherung meist auch schlechter. .. bildung und erziehung zielen aber auf wissen, freude und menschen, und nicht auf information, spaß und human ressources. man kann bildung nicht kaufen – man muss nur den lehrern und den schülern als menschen zeit und raum geben (!! ja, kostet geld), um miteinander zu arbeiten und zu wachsen und zu lernen. nicht reform – neue reform – geld streichen – oh, cool, inklusion – mehr geld streichen, noch weniger lehrer einstellen (aber haufenweise refs ausbilden) – zwischendurch eine vergleichsarbeit – hey, wir machen qualitätsmanagement, es lebe die betriebswirtschaft – und noch mehr kompetenzen – und alles wird gut. wird’s leider nicht. lasst die menschen in den schulen – erwachsene und kinder – doch einfach mal ein weilchen machen. in ruhe. mit genügend ressourcen.

  12. Schön: ein Mensch der auf Lehramt studiert, aber wohl nie unterrichtet hat (was ist denn da bloß schief gegangen?) gibt sich als Bildungsexperte aus. Anstatt in die Schule zu gehen und sich um arme Kinder zu kümmern, die ihren boshaften, inkompetenten und ignoranten Lehrern hilflos ausgeliefert sind, ist Herr Himmelrath doch lieber Journalist und erklärt, wie man die Welt besser machen kann. Komm, Armin, wir gehen zusammen in die Schule und dann zeigst du mir, wie’s richtig geht!

  13. Ich schreie mit.
    … und hoffe, noch viele mehr tun das auch und noch mehr hoffe ich (wahrscheinlich vergeblich), dass dies an kompetenter (kompetenter??? Stelle ..? … was denke ich mir eigentlich?) gehört würde.

  14. Ich plädiere dafür, alle Leute, inkl. Politiker, Journalisten etc., die es ja soooo viel besser wissen, mal drei Monate lang zwangsverpflichtet in den Schuldienst zu stecken – mal schauen, wie groß mit Hut die hinterher noch sind.

    Frau Weh, du und deine Kollegen, für mich persönlich seid ihr Helden, ehrlich! 🙂

  15. Ich habe auch den gelichen Beitrag auf dem Weg zur Arbeit gehört. Am meisten geärgert habe ich mich darüber, dass den Schulen bzw. Lehrern vorgewurfen wurde, sie würden keine Verantwortung übernehmen. Da fehlen mir die Worte um auch nur dagegen zu reden.

    Besonders interessant ist auch der Abschnitt
    „Und wenn man das alles anders verteilen würde, wenn man da eine bessere, individuellere Förderung draus machen würde, dann kann man im Grunde das Sitzenbleiben abschaffen“

    Eindeutig zwei „wenns“ zu viel. Vor allem auf die Reihenfolge kommt es an: Nicht erst das Sitzenbleiben abschaffen, dann die Kosten sparen und dann (aber nur eventuell und wenn die Neuverschuldung es gerade zulässt) individuelle Förderung stärken, sondern anderesherum muss es laufen: Zunächst die Schulen so ausstatten, dass sie individuell fördern können (Personal, Räume, Material, Klassengröße, …) und dann alle KInder so gut gefördert bekommen, dass man das Sitzenbleiben nicht mehr abschaffen muss, sondern es sich erübrigt.

    LG Alexandra

    1. richtig, die reihenfolge ist wichtig. gibt es nämlich ausreichende individuelle förderung muss auch keiner mehr wirklich sitzenbleiben 😉

  16. Ja, da habe ich auch gefaucht. Auch, weil die Lüge so offensichtlich ist. Es wäre ja ganz einfach, erst einmal die individuelle Förderung einzuführen (zu bezahlen! Personal und Räume herzuzaubern! Gerne auch schon die Erstklässler fördern, bevor die großen Lücken in den Grundlagen entstehen!) – und dann würden die Kinder eben nicht mehr sitzenbleiben und das Geld wäre wieder drin.

  17. Das erklärte Lieblingsblatt der Lehrer (und Ärzte 😉 – die ZEIT beschäftigt sich auch, zumindest im Kommentar von Joffe, mit der Möglichkeit einer „Sommerschule“ für die Kids, die im laufenden Schuljahr geschwächelt haben – eine Alternative?

    1. Das ist SUPER! Schließlich ist es ein Klacks, das Programm, das man in 42 Wochen nicht bewältigt hat, mal eben in 6 Wochen Intensivkurs aufzuholen… und die Motivation dazu erst! Welche Freude! Ich stelle mir gerade hochmotivierte junge Menschen vor, bis zur Nasenwurzel wissbegierig und scharf darauf, ihren Sommer mit mir zu verbringen :mrgreen:

  18. Also meine Kinder haben beide mehr oder weniger freiwillig eine Runde mehr gedreht. Die eine, weil sie nach der 10. keine Lust mehr auf Abi hatte, ist an eine Realschule gegangen, hat die 10. wiederholt, um sich nicht mit dem Gymnasialzeugnis bewerben zu müssen. Die andere wechselte nach der 11. von einem Gymnasium für besonders talentierte Schüler auf ein „normales“, weil sie an diesem anderen Gymmi nie die angestrebte Endnote erreicht hätte. Am neuen musst sie dann die 11. wiederholen, wegen des völlig anderen Systems.
    Was hätten beide mit dieser angestrebten Regelung gemacht?

  19. Die ganze Geschichte ist Mogelpackung und Augenwischerei. Und nicht zu vergessen – eine leichte Prise Lehrerbashing 😉

  20. Genau, die Lehrer sind Schuld wenn ein Schüler sitzen bleibt.
    Wer sonst! Und wie soll das gehen, wenn ein Schüler jetzt seine Fünfen und Sechsen mitschleppt in die nächste Klasse?
    Oder werden die gleich mit abgeschafft? Vielleicht besser so. Nur noch Gutachten aus Textbausteinen und Sekundarabschluss für alle. Warum dann so ein Aufwand mit Unterricht?
    Neuer Vorschlag: jeder, der in der Öffentlichkeit abstruse Vorschläge verbreiten will, muss vorher ein halbes Jahr unterrichtet haben.
    Dann ist aber Ruhe im Land, oder?

  21. Den vielen Fragen von Harald Martenstein im Berliner Tagesspiegel (http://www.tagesspiegel.de/zeitung/ich-hab-da-mal-ne-frage-von-harald-martenstein/7829678.html) schließe ich mich an.
    Außerdem würde ich ganz gern mehr über die praktische Durchführung wissen. Ich habe das so verstanden, daß der „Sitzenbleiber“ künftig auf dem Papier kein Schuljahr weiterkommt, aber im angestammten Klassenverband verbleibt. Irgendwann muß der dann doch mal die „fehlenden“ Jahrgangsstufen mitkriegen. Oder läuft hier alles auf die Schulabschlußprüfung hinaus, von deren Bestehen oder Nichtbestehen das Abschlußzeugnis abhängt. Dann könnte man ja die Schulpflicht gleich abschaffen und nur noch staatliche Abschlußprüfungen durchführen….

    1. Wunderbar, danke für den link! Es wäre wünschenswert, wenn sich auch Bildungspolitiker manche(n) dieser Fragen mal stellen würden!

  22. Das ich die 9. doppelt besucht habe war das beste, was mir passieren konnte. Vorher war ich Außenseiter und kam in einigen Fächern nicht mit, danach hatte ich Freunde in der Klasse und konnte (bis auf ein Fach, das ich später abgeben konnte) Rückstände aufholen – eines davon wurde sogar einer meiner Leistungskurse!

  23. Schaut Euch Schweden an, da kann man nicht sitzenbleiben, seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Folge sind Nahezu-Analphabeten in der Klasse 9 und einiges mehr. Aber wenn es das Einzige wäre woran das schwedische Bildungssystem krankt ginge das vielleicht, nur ist das garantierre Weiterkommen auch eine Garantie für das Nicht-Arbeiten der Schüler. Wozu sollte man sich denn anstrengen?

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