„Denise?“
Keine Antwort.
Ich klopfe leicht auf das angelehnte Toilettentürchen. „Denise, ich mache jetzt mal die Tür auf.“
Klein-Denise thront mit hochkonzentriertem Blick auf der Keramik. Das Pony hält sie fest im Arm; der Versuch, die beiden für den Moment zu trennen, schlug nicht nur in höchstem Maße fehl, sondern vielmehr in sofortiges lautes Gebrüll um. Leider lockte auch das die abwesende Mutter nicht an, deren Rolle ich gerade nicht ganz freiwillig übernehme. Zu allem Übel habe ich mich offensichtlich bei meiner Rechnerei auch noch um den Faktor der fremden Nasszelle vertan – es dauert, und zwar lange. Es vergeht Zeit, die ich nicht habe: In knapp 15 Minuten wartet der nächste Testtermin auf mich. Auch Klein-Lorenzo möchte dem Pfiffikus-Haus ganz dringend einen Besuch abstatten. Aber wenn ich eins in den vergangenen Jahren gelernt habe, dann die Tatsache, dass sich die kindliche Verdauung selten an Regeln hält. Et kütt, wie et kütt. Ich lasse daher die Tür wieder sanft zufallen, seufze einmal leise und tue das, was ich in solchen Situationen immer mache: Ich sage die Bürgschaft von Schiller auf.
Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich Damon, den Dolch im Gewande…
In einer bekannten Frauenzeitschrift habe ich gelesen, dass es der eigenen Psyche äußerst dienlich sei, Wartezeiten als Ausgleichszeiten anzusehen und zur Entspannung zu nutzen. Gutes Karma, innere Balance usw. Also ziehe ich so viel positive Energie aus diesem unsäglichen Augenblick, wie eben geht und genieße obendrein die gute Akustik der gekachelten Toilettenräume. Ich lasse meine Stimme orgeln und brausen und schaffe es sogar, das permanente Rauschen der defekten Klospülung in der Zelle hinter mir zu übertönen:
Und trostlos irrt er an Ufers Rand:
Wie weit er auch spähet und blicket
Und die Stimme, die rufende, schicket.
Langsam beginnt mir die Sache Spaß zu machen, da…:
„Was. Fällt. Ihnen. Eigentlich. Ein!“ Unvermittelt steht die abtrünnige Mutter vor mir und schnaubt. Ich möchte schwören, sie sei dem gekachelten Boden entwachsen, so plötzlich ist sie da. Prompt verhaspele ich mich im Gedicht (was ich nicht leiden kann) und deute völlig aus dem Konzept gebracht auf die Toilettentür: „Ihre Tochter musste auf die Toilette und wir konnten Sie nicht finden! Wo waren Sie denn?“ Zwar stecke ich ein ordentliches Maß an Missbilligung in meine Stimme, dennoch werde ich mühelos von der wogenden Wucht der Walküre übertroffen:
„Dat muss die immer um die Zeit. Ich hab‘ doch gesacht, was für eine Scheißidee hier mit der Schule und so! Manche von uns“, sie schaut mich wütend an, „müssen gerade arbeiten! Kacke aber auch!“
Bevor ich mich darüber freuen kann, in welch wunderbar entspannter Atmosphäre ich gerade mein Geld verdiene, geschehen mehrere Dinge in enger Abfolge. Aus der Kabine vor uns ertönt ein angestrengtes Knurren, dann ein Platschen, ein Quietschen als sich Klein-Denise vom Sitz schiebt, ein erneutes Platschen und ein ohrenbetäubender Schrei:
„POOOOOOOOOOOONYYYYYYYYYY!!!!!!!“
„Was ist das denn jetzt?“ Die Mutter von Denise blickt zwischen mir und der Toilettentür hin und her.
„Das“, und ich setze ein äußerst bedauerndes Gesicht auf, „ist dann wohl mal wirklich Kacke!“
Auf dem Weg zum Hausmeisterbüro, aus dem ich nun verschiedene Ausrüstungsgegenstände für die fluchende Mutter hole, merke ich, wie sehr mich dieser Moment des Innehaltes tatsächlich entspannt hat. Ich lächle in den Morgen und nehme meine Rezitation wieder auf:
Und horch! da sprudelt es silberhell,
Ganz nahe, wie rieselndes Rauschen,
Und stille hält er, zu lauschen
Schiller ist voll Wellness!
Herrlich!!!!!
😀 danke dafür, dass du mich hast an diesem Moment teil nehmen lassen, habe sehr gelacht…
Frau Weh, Deine Artikel sind wirklich göttlich! Ich warte ungeduldig auf das erste Buch 🙂
Neeeee bitte nicht! Ich bleibe dabei, dass die wehsche überschüssige Energie in Familie und Blog gesteckt gehört..oder halt als Ghostwriterin für Nuhr!
Ich liebe die Bürgschaft! Aber in diesem Kontext wird sie wohl ab jetzt unübertroffen bleiben,
Nie wieder werde ich mit meinen Vorkurskindern zur Toilette pilgern können ohne daran zu denken!
Wunderbar! Ich muss immer noch lachen! Danke!
Wolltest du die Mutter erdolchen? „Zu Dionys, demTyrannen, schlich Damon, den Dolch im Gewande“…? 😄😄😄Sehr bezeichnend, was du so rezitierst… Ich bin begeistert – wie immer – von deinen Blogs Frau Weh!
Ich werde niemals wieder „Die Bürgschaft“ im Unterricht besprechen können, ohne an „platsch“ und „Pony“ denken zu müssen.
Hihi ganz großes Kino. Mit Popcorn (Riesenpackung)!
Und vielleicht sollte ich auch mal Schiller lesen…so fürs Büro
Wunderbar:)
Denise tut mir grad sehr leid. So eine Mutter und dann noch das Pony im Klo.
Näää, wat is der Schulalltag doch schön… Wenn ich erzähle, dass ich Grundschullehrerin bin ist es meist die immer selbe Reaktion: Ach mit den Kleinen ist das doch ganz nett. Man vergisst halt gerne mal die Eltern der lieben Kleinen.
Toll geschrieben, vielen Dank für die morgendliche Unterhaltung!
Pony? Der Ausdruck war mir bislang unbekannt.
Eine Wahnsinnsgeschichte! Danke Frau Weh!!!
Stark 😀 Und ich hoffe, Klein-Denise, das Pony (und maßgeblich die Mutter) kommen nächstes Jahr in die PARALLEL-KLASSE.
Grandios! Ein herzhaftes Lachen erhellt meinen Donnerstagabend und hebt die Stimmung ungemein.
Und dennoch ein leises Stimmchen im Hinterkopf: das arme Kind!