Mouches volantes

Es ist mitten im Matheunterricht, als mich der so dramatisch wie schreckliche Verdacht ereilt, mit meinen Augen könnte etwas nicht stimmen. Kleine schwarze wandernde Minipünktchen sehe ich schon seit einiger Zeit – vor allem beim Lesen oder am Bildschirm – , aber laut Augenarzt stellen sie keinen Grund zur Besorgnis dar. Diese als kleine Fliegen oder Mücken bezeichneten Glaskörperflocken seien oft eine Frage des Alters. Jetzt allerdings ist der schwarze Punkt, der sich plötzlich auf der Seite des Mathebuchs zu tummeln scheint, nahezu riesig und bewegt sich flüssig von links nach rechts. Mit dem linken Auge kann ich keine Aufgabe mehr entziffern. Leichte Panik überkommt mich, die ich eindeutig schon zu viele Arztserien gesehen habe, in denen Sehstörungen grundsätzlich ein Alarmsignal für rasant aufkommenden Verfall darstellen. Meist stirbt der oder die Betroffene dann im Laufe der Folge, wenigstens aber fällt er in den nächsten Sekunden um und wacht im OP-Hemdchen wieder auf. Ok, manchmal gibt es auch eine dramatische Rettung in letzter Sekunde, aber die heutigen Arztserien haben mit der kitteligen Wohlfühlatmosphäre vergangener Zeiten einfach nichts mehr gemein. Buchte man früher die Genesungsgarantie bei der Wahl der Fernsehserie gleich mit, so fällt der Verdacht heute fast immer auf Lupus oder Sarkoidose. Das erledigt sich nicht mal eben in 45 Minuten.

Jetzt mal ganz ruhig bleiben, Frau Weh, denke ich und schließe das betroffene Auge für einen Moment. Als ich es wieder öffne, ist der schwarze Fleck verschwunden und ich atme erleichtert auf. Ein kurzer – nun wieder scharfer – Blick zeigt mir, wie weit die Hausaufgabenkontrolle bereits gediehen ist und ich konzentriere mich wieder auf das Einmaleins der 6, dessen Blitzaufgaben gerade von Dilara vorgetragen werden.

„Oh nein!“, entfährt es mir da plötzlich. Der schwarze Fleck ist wieder da, größer noch als eben und auf einmal vor dem rechten Auge. Jetzt kriege ich tatsächlich Panik. So schlimm war der Elternsprechtag doch gar nicht, dass ich jetzt mit ernsthaften Schwierigkeiten rechnen müsste!? Was, wenn …?

Die Zweitklässler, vom Schrei alarmiert, blicken von ihren Mathebüchern auf und zu mir hin.

„Frau We-he?“, sagt da die vor mir sitzende Michelle mit schief gelegtem Kopf und zusammengekniffenen Augen, „da geht eine kleine Fliege auf deiner Brille spazieren!“

Was? Wie?

Ich nehme die Brille ab und sehe tatsächlich eine kleine Fruchtfliege, die offenbar leicht nervös über das Glas huscht. Hmmja. Peinlich berührt puste ich das Tierchen herunter und räuspere mich ins Kichern der Kinder hinein.

„Dann machen wir mal weiter, ja?“

14 Kommentare zu „Mouches volantes

  1. Köstlich! In Zeiten von Stress habe ich immer Zahnschmerzen oder die Befürchtung dass mit meinen Ohren etwas nicht stimmt…

  2. Ich las mit steigendem Schrecken (die kleinen Trübungen habe ich auch), aber 😂 Puh, da ist ja zum Glück nochmal alles gut gegangen 🍀

    1. Keine Ahnung. Das muss tatsächlich eine recht häufige Geschichte sein, umso paradoxer, dass man darüber nichts weiß.

  3. Und? Hat sich Doktor House der Fliege angenommen?
    Ich meine so eine Landung auf einem Brillenglas ist ja schon suspekt. Da müsste man erstmal die Wohnung der Fliege auf den Kopf stellen, wahlweise zwischen 3-33 Assistenzärzte feuern, den technischen Schnickschnack einer mittelgroßen Uniklinik auffahren und dann Lupus entdecken.

    1. Liebe Oberschwester (btw das waren noch Zeiten, damals im Glottertal!), die ganze Sache ist mir sogar sehr suspekt. Aber Doc House kann sich leider der Sache nicht annehmen – ich habe ihn irgendwo zwischen Staffel 4 und 5 gefeuert. Zu viele Differentialdiagnosen. Jetzt muss ich ohne ärztlichen Beistand da durch.

  4. Leider geht es nicht immer fruchtfliegenmäßig gut aus. Es ist zwar zunächst keine besorgniserregende Erkrankung (=Glaskörpertrübung), aber es gibt verschiedene Schweregrade, die letztendlich auch erstes Anzweichen einer Netzhautablösung sein können. Daher durchaus ernst nehmen, abklären und beobachten.

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