Hummelflug

Noch zwei Wochen bis zu den Herbstferien und die Stimmung ist schon so tief gesunken, dass ich mich beim Betreten des Lehrerzimmers in einem dumpfgrundigen Unkenpfuhl wiederzufinden scheine. Es trieft von herbstlicher Melancholie und beginnendem Missmut. Vereinzelt tropft Verzweiflung von den Wänden wie der unvermeidliche Rotz aus der Nase eines Erstklässlers. Grund ist eine Terminimplosion mittelschweren Grades: Schulanmeldung trifft auf Schulzahnarzt trifft auf Erneuerung der Schalldämmung trifft auf politischbed.. krankheitsbedingten Personalmangel. Ehrlich, wir sind so knapp besetzt, dass ich mich zusammenreißen muss, den freundlichen Dackelbesitzer, dessen frühmorgendliche Hunderunde ihn auch am Lehrerparkplatz vorbeiführt, nicht einfach an der Funktionsjacke zu packen und stante pede ins Lehramt zu rekrutieren. Wer Teckel kann, kann doch wohl auch Kinder, ne?

Da heute mein kurzer Tag ist, den ich mir unter keinen – ich betone unter keinen Umständen! – vermiesen lasse, entscheide ich mich gegen ein Bad inmitten negativer Schwingungen und drehe ab. Achtsamkeit ist ja seit einiger Zeit so ein wichtiges Thema, das einem – recht unachtsam, wie ich finde – ständig um die Ohren gehauen wird; also bin ich achtsam, nehme meine Gefühlslage wahr und erkenne an, dass unter besonderen Umständen auch die fröhlichste Hummel besser in Einsamkeit als im Unkengrund aufgehoben ist.

Doch Fröhlichkeit hin oder her, leider bin ich auch eine Hummel ohne Heimat. Denn alle Räume, in die ich mich zum Frühstück zurückziehen könnte, sind besetzt (Zahnarzt, Schulanmeldung, Schallschutz …). Nicht einmal in meinen Klassenraum kann ich gehen, denn der muss stoßgelüftet werden. Die Viertklässler beginnen präpubertätsbedingt zu müffeln. (Das merkt man ja nie, wenn man mittenmang sitzt, aber wehe, man verlässt den Raum und kommt dann zurück. Pfüüüüühh! )

Etwas planlos brumme ich von Raum zu Raum (man stelle sich bitte das dazu passende Werk von Rimsky-Korsakov vor), von Tür zu Tür, um schlussendlich im Abstellraum zu landen. Der Abstellraum – ein Ort voller Möglichkeiten. Und voller Kram. Kram der Sorte, die in Grundschulen allüberall exponentiell wachsend anfällt: liegengebliebene Jacken und Turnbeutel, kaputte Bälle, Wandkarten (Europa politisch), unvollständige Palettischeiben, eine traurigbeige Decke auf brauner Santätsliege. In diesem Fall jedoch der Ort meiner Wünsche! Äußerst zufrieden mit meiner Wahl lasse ich mich auf der Liege nieder und beiße in ein belegtes Brötchen, als plötzlich die Tür aufgerissen wird und der Hausmeister mit einem Schwung alter Lappen auftaucht.

„Was machst du denn hier?“, will er irritiert wissen.

„Na, Pausenyoga!“, ich zucke mit den Schultern, „sieht man doch wohl!“

„Du und Yoga, is klar!“, lacht er dröhnend. „Welches Tier?“

Ich überlege kurz, flattere ein bisschen mit Brötchen und Armen und erkläre befriedigt: „Die nach Ruhe suchende Hummel!“

 

angebaggert

Pausenaufsicht, große Pause.

Ich hocke neben dem Klettergerüst und versuche einen unergründbaren Streit auf Augenhöhe zweier Erstklässler zu schlichten als sich plötzlich ein beträchtlicher Schwall Sand in meine Stiefel ergießt. Entrüstet drehe ich mich um und begegne dem entsetzten Blick von Zweitklässler Justus, der mir kopfunter durch seine Beine entgegenstarrt, den Po hoch in die Luft gereckt, die Hände noch zum Scharren erhoben. Erst in diesem Moment scheint ihm aufzugehen, wen er da eigentlich angebaggert hat. (Nicht, dass ihn die Tat selber peinlich berühren würde. Nein, Justus gehört zu dem Kaliber Kind, das sich jeglicher Materie mit vollem Körpereinsatz nähert. Das Kollegium schwankt zwischen Staunen und Entsetzen, wenn im Lehrerzimmer von den jeweiligen Fachlehrerinnen eine neue Justusanekdote zum Besten gegeben wird. Hat er doch schon Arbeitsblätter aufgegessen, Pinselwasser getrunken, sich nach Regentagen zuerst durch Schlammpfützen und anschließend über den Klassenboden gewälzt und uns auf so mannigfaltige Art seine Verhaltensoriginalität präsentiert.)

„Justus, mein Freund“, ich schaue ihn unter hochgezogener Augenbraue an, „wir setzen uns jetzt mal einen Moment hier auf die Bank!“

Er nickt betroffen, folgt mir aber umgehend und lässt sich neben mich plumpsen.

„Justus? Ich bin deine Lieblingslehrerin*, nicht wahr?“

Justus schaut mich weiterhin aus kullergroßen Augen an und nickt wieder. Ein wenig sieht er aus wie das Kaninchen vor der Schlange. Wir schweigen eine Weile vor uns hin.

„Ich habe dich auch ziemlich gern.“ (Das stimmt sogar. Seltsamerweise habe ich einen guten Draht zu kleinen Aufmüpfern.)

„Meine Schuhe mag ich allerdings auch sehr…“, ich blicke betrübt auf meine Wildlederstiefel hinunter.

„Die sind auch echt schön“, haucht Justus.

„Jaaaa, das sind sie wirklich!“ Ich seufze einmal. Dann sitzen wir wieder eine Zeit still nebeneinander auf der Bank und machen gar nichts.

„Und jetzt?“, nehme ich das Gespräch wieder auf.

Sofort antwortet Justus pflichtschuldig: „Jetzt mache ich das nicht wieder…“

Schon möchte ich diese Standardantwort befriedigt abnicken, da fährt er fort: „…wenn Sie da sind.“

* Es ist nicht so schwer, eine Lieblingslehrerin zu sein, wenn man Musik unterrichtet und den Schlüssel zum Wunderland des Instrumentenraums besitzt.

Little fence of horrors

Der Zaun ist über Nacht gewachsen. Ich bin mir ganz sicher.

Es ist große Pause, ich habe Aufsicht und bin – wiederholt – zum locus delicti gerufen worden. Diesmal hat es Janas Jacke erwischt, sie hängt oben über der Kante und sieht traurig aus. Luis, der verantwortliche Übeltäter, hat sich auf dem Jungenklo verschanzt. Wegen der dort anzutreffenden olfaktorischen Beleidigung verschiebe ich die Anhörung auf später und blicke skeptisch nach oben. Wie gesagt, gestern kam er mir kleiner vor, der Zaun.

„2 Meter! Immernoch! Gestern, heute und morgen auch noch!“ bellt der Hausmeister. Dieser Zaun kostet auch ihn Nerven. Nichts als Dreck haben die Arbeiter hinterlassen. Und wer muss das jetzt wieder wegmachen? Und überhaupt.

„Aber ich komme gar nicht an die Jacke dran. Das können doch keine 2 Meter sein.“, verteidige ich mich. Herr Heinzes Blick misst mich von oben bis unten ab. „Na, Mädschen, also das kann ich mir jetzt auch gar nicht erklären!“, sagts, grinst und zieht die Jacke vom Zaun. „So und jetzt passte mal ganz genau auf! Wenn ich mal nicht da bin, dann musste hier den Bolzen zunächst einmal hoch ziehen, dann rausdrehen, dann nach unten schieben, das Tor aufziehen, feststellen und dann das Ganze wieder zurück!“

(Ich summe leise das Lied vom Nippel und der Lasche vor mich hin.)

„Haste jetzt auch zugehört, Mädschen? Ihr seid hier verantwortlich!“

„Andernfalls Prozess am Hals!“, nicke ich ernsthaft und wiederhole „rauf, rein, raus, runter, fertig! Schon verstanden.“

Leider werden wir unterbrochen, da ich im Augenwinkel bemerke, dass die Zweitklässler ein neues Spiel erfunden haben. Darin sind sie große Klasse. Sie haben schon so bemerkenswerte Spiele erfunden wie „Socken werfen“, „Strohhalm-Dart“ oder auch „Das lustige Rülps-ABC-Spiel mit Ekel“. Ihr kreatives Potential schlägt das ihrer Lernbereitschaft um Längen. Den Zaun haben sie sogleich fröhlich als neues Spielgerät in ihr reichhaltiges Repertoire aufgenommen. Jetzt hat sich gleich ein ganzes Knäuel aus Armen, Beinen und Köpfen an einem der raufreinrausrunter-Tore gebildet und schwingt lustig hin und her. Immer mehr Kinder werfen sich juchzend hinein und klammern sich an Hälse, Schultern oder was auch immer da so rausguckt. Ich seufze leise. Immer muss ich Spielverderberin sein.

Im Laufe der Pause werde ich noch zwei Erstklässler verarzten, die im vollen Lauf gegen den Zaun knallen werden (ihn in unauffällig grün zu streichen war vielleicht nicht die beste Idee), eine – zugegeben dünne – Viertklässlerin unter dem Zaun hervorziehen und mich selber beinahe strangulieren, als ich mit dem Schal an einem der Tore hängenbleibe.

Na das kann ja noch heiter werden.