Manchmal

Manchmal ist so viel Leben um mich rum, dass ich es kaum fassen kann.

Die Montagskonferenz endet wie meistens mit einem Korb voll Arbeit. Pläne müssen geschrieben, Konzepte eingereicht, Leistungsüberprüfungen abgegeben werden. Tausend kurze Absprachen mit Kolleginnen mal eben über den Flur oder den Tisch rüber. Förderst du mittwochs, dann mache ich Aufsicht am Freitag, können wir Sport tauschen?, bist du morgen im Computerraum?, wie geht das nochmal mit der Homepage? Alles wuselt, Geschäftigkeit wie im Bienenstock. Viele Arbeitsbienen, keine Drohnen, aber eine Königinmutter, die über allem thront und Tribute in Form von Papier (viel Papier!) und guten Ergebnissen fordert.

Nach der Konferenz schnell noch kopieren für morgen, wieder ein Flurgespräch. Frau Weh, das Schulamt erwartet einen Rückruf von dir. Irgendwas mit Inklusion und Förderplänen. Hast du die? Die hast du doch, oder? Klar habe ich die. Zumindest füge ich der Liste in meinem Kopf den gleichnamigen Punkt hinzu. Diese Liste wächst und gedeiht an einem Montag immer prächtig. Genau wie der Stapel auf meinem Schreibtisch. Freitags abgetragen, montags wieder da. Trotzdem wird viel gelacht an einem Montag. Manche Dinge sind aber auch einfach zum Lachen. Sonst müsste man ja weinen.

Auf dem Rückweg schnell tanken und ein paar Dinge zum Abendessen besorgen. Zu Hause über die Kinder staunen. Das Miniweh präsentiert einen neuen Backenzahn; das mittelgroße Wehwehchen hat in der großen Pause einen Tritt in den Unterleib bekommen und zieht zur Begrüßung blank. Mama, guck, kann man am Penis einen blauen Fleck kriegen? Offenbar kann man. Ein Gastkind zum Abendessen. Das mag keinen Jogurt. Nur Milch. Die Katze kotzt. Großes Hallo. Das Telefon klingelt. MamaMia-Sophie spricht auf den Anrufbeantworter. Alle Kinder im Chor: Wir essen jetzt!

Die Kinder ins Bett, die Schultasche ins Arbeitszimmer, durchatmen. Herr Weh drückt mir das Babyphon in die Hand. Orga-Treffen vom Männersport, du weißt doch…? Nein, vergessen. Genau wie den längst fälligen Anruf bei der Oma. Stichwort: Das Telefon klingelt, MamaMia-Sophie. Schade, wieder nur der Anrufbeantworter. 7 E-Mails, (fast) alle wichtig. Oder doch nicht? Das mittelgroße Wehwehchen hat einen Splitter im Finger. Vom Bett! Ah ja. Splitter raus, wir gehn nach Haus. Das Miniweh kräht durchs Babyphon. (Miniweh is nis müde! Hörst du, Mama? Mamaaaa? Papi! BIN NIS MÜDE!!!). Abwarten.

Endlich Ruhe.

Endlich Durchatmen.

Tasche auspacken, sortieren, orientieren, neu packen.

Da tönt das mittelgroße Wehwehchen: Ich denke gerade darüber nach, was für Brillengläser wohl Professoren haben. Dünne oder dicke? Du bist so schlau, Mama, wie dick sind deine Brillengläser?

Ich muss den Kopf schütteln, lachen und gleichzeitig ein paar Tränchen wegblinzeln. Manchmal ist so viel Leben Liebe um mich rum, dass ich es kaum fassen kann.

Neues aus dem Lehrerzimmer

Das Gemurre über die viele – oft unsinnig anmutende – Zusatzarbeit hat in der letzten Zeit kontinuierlich zugenommen. Die Chefin (Anfang des Jahres immer wie frisch aus dem Führungsseminar) erteilt uns daher den Auftrag, alle Termine, die uns schulisch belasten und ungebührlich Zeit kosten, zu notieren und in den großen Jahresplaner im Lehrerzimmer zu kleben. Mal sehen, ob es überhaupt so viel ist. Vielleicht stellen sich die Kolleginnen ja nur ein bisschen an. (Tun wir gelegentlich, zugegeben.)

Jetzt hängen da lauter bunte Zettelchen und flattern lustig im Durchzug. VERA steht auf einem oder auch BUNDESJUGENDSPIELE und DELFIN 4. Wenn ich die Augen zusammenkneife, kann ich WEIHNACHTSMARKT und 24 STUNDEN SCHWIMMEN lesen. Das da hinten könnte FÖRDERKONFERENZEN heißen. Insgesamt sind es 72 Zettel. Interessant, auf keinem steht UNTERRICHT. Jetzt sollen wir gewichten und Punkte auf die Aktivitäten kleben, über deren Notwendigkeit vielleicht dann doch mal geredet werden könnte. Um den exakten Auftrag zu definieren fragt eine Kollegin vorsichtshalber nach:

„Also wir sollen jetzt alle Dinge markern, die uns davon abhalten, frisch und fröhlich zu unterrichten?“

Darauf die Chefin: „Was uns davon abhält, frisch und fröhlich zu unterrichten, ist unser Beruf.“

Oha. So habe ich das ja noch nie gesehen.

all inclusive

Tschaikowsky starb an der Cholera. Auch Dimitri fühlt sich nicht gut:

„Meine Bauch blubbert. Ganze Familie war krank. Jetzt ich fühle mich auch nicht gut. Ich bin auch Russe. Ich auch bin cholerisch bestimmt wie Tschaikowsky.“

Sechste Stunde, Musik im Dritten. Die Kinder arbeiten sich durch den Lebenslauf Tschaikowskys und erspüren die Wehmut in seiner Musik. Ich habe das 1. Klavierkonzert in b-moll aufgelegt, die Drittklässler wiegen sich hin und her und spielen die kraftvollen Soli des Klaviers auf imaginären Tastaturen mit. Tschaikowsky kommt gut an. Ich bin entspannt. Es ist erst meine zweite Unterrichtsstunde. Heute hatte ich – Inklusion verpflichtet – mehrere Termine im Jugendamt. Nicht ganz freiwillig bin ich in die Rolle der Inklusionsbeauftragten gerutscht. Eigentlich habe ich schon mit den Förderschulverfahren und den Sprachstandserhebungen genug Außentermine.

Jetzt: viele Leute an einem Tisch (eckig, nicht rund, ich hatte die ganze Zeit ein Tischbein vor mir) in einem winzigen Büro, viele Entwicklungsberichte, Förderpläne, Ideen und Anträge. Paragraph 35a SGB. Es wird viel geredet. Die schulische Sichtweise ist wichtig, es geht um Geld, eine ganze Menge davon. In der Zwischenzeit muss ich in der Schule vertreten werden, eine Stunde fällt aus. Ich bin zwiegespalten, wie so oft, wenn es um das Thema Inklusion geht.

Ein Gespräch später, eine Etage tiefer. Ich nutze aus, dass ich sowieso schon einmal hier bin und suche das Zimmer 118. Ich lande im überraschend geräumigen Büro unserer männlichen Supernanny. Ein Pilotprojekt, das sich kümmert, wenns brennt. Und bei Lennox brennt es. Der Supernanny und ich haben schon früher zusammen gearbeitet, wir freuen uns – den Umständen entsprechend – wieder aufeinander zu treffen. Endlich mal ein Mann. (Nie hätte ich gedacht, dass mir dieser Satz über die Lippen kommt, aber es ist so. In den ersten 10 Lebensjahren geraten die meisten Kinder fast ausschließlich an Frauen. Das ist aus entwicklungspädagogischer Sicht Käse Bullshi grenzwer nicht unbedingt optimal.) Wir reden über Lennox Mutter, die sich in Therapie befindet, über den aktuellen Lebensgefährten und Vater zweier von drei Geschwistern, der sich raushält und den hauptsächlich abwesenden Erzeuger, der – wenn er in Erscheinung tritt – die Bemühungen der Mutter konterkariert. Und wir reden über Lennox, der das Pech gehabt hat, in Verhältnisse geboren zu werden, die Kraft, Fähigkeiten und Möglichkeiten der Eltern übersteigen. Wir sprechen unsere Ziele ab und einigen uns auf adressatenbezogene Hilfe, sprich: Gespräche bei der Familie zu Hause, Aufstellen von Plänen, Familienregeln und enge Kooperation zwischen Familie – Schule – Jugendamt. Das bedeutet Mehrarbeit. Und zwar von der Sorte, die nicht bezahlt wird, meinem unmittelbaren Unterricht nicht dient, ja nicht einmal der Schule im Großen zuträglich ist. Und die man trotzdem macht, weil sie eben gemacht werden muss. Weil es die Umstände erfordern. Weil es vielleicht einem Kind trotz schlechter Startbedingungen auf seinem Weg hilft.

Es rumpelt in meinem Gedankengang. Dimitri meldet sich erneut klagend zu Wort: „Frau Weh, Sie haben gehört? Meine Bauch r u m p e l t! Dimitri ist cholerisch!“

Ich schaue in Dimitris dunkelbraune Augen, die begehrlich auf den Apfel schielen, den ich neben dem CD-Stapel auf dem Pult abgelegt habe.

„Dimitri, hast du vielleicht Hunger?“

Dimitri strahlt und nickt: „Könnte sein, Sie, Frau Weh. Muss ich nicht sterben. Muss ich essen kleinen Apfel, dann mir geht es wieder gut.“

Toll, ein Kind gerettet 🙂

same procedure as every year

Der Tag begann mit einer ziemlich großen Spinne (tegenaria atrica; übrigens die Spinne des Jahres 2008) im Badezimmer*. Und er ging auch genauso weiter: schnell, stellenweise schwarz und irgendwie haarig.

Neben der weiterhin erkrankten Putzfrau fällt nun auch der Hausmeister für den Rest des Monats krankheitstechnisch aus. Worst case. Die Schule steht vor Dreck, der Musikraum ist immer noch voll bis obenhin, am Donnerstag ist Einschulung und keiner weiß so genau, wohin mit den Eltern wenns regnet. Wir haben nämlich weder Aula noch Turnhalle in der Nähe. Bei größeren Veranstaltungen knubbeln wir uns ins Treppenhaus (geht nicht, furchtbar dreckig) oder in den Musikraum (geht auch nicht, s.o.). Außerdem stellt sich nun die Frage, wer am Donnerstag die Anlage aufbaut. Natürlich ist dies eine rhetorische Frage, denn außer dem Hausmeister und mir kennt sich keiner damit aus. Aber ich habe ja auch noch meine Klasse. Und ich muss für jeden Schulneuling einen Keks backen. Herzförmig.

(Nein, nicht fragen. Es hat was zu tun mit dem Lied Ich schenk‘ dir einen Regenbogen und meiner Unfähigkeit im entscheidenden Augenblick unsichtbar – und still! –  zu sein.)

Wie man sich denken kann, hatten wir heute Konferenz und was soll ich sagen? Es ist als wäre man nie fort gewesen. Alles wie immer. Laut, stressig, durcheinander. Und ich habe mir so vorgenommen, dieses Schuljahr ganz entspannt anzugehen. Hö hö, ich bin da wirklich unverbesserlich. Zwei neue Kolleginnen haben wir auch. Die sahen nach der Konferenz (2 Punkte auf der Liste, 3 Stunden Dauer) ziemlich platt aus. Dabei war das ein guter Schnitt für unsere Verhältnisse. Wir können viel länger.

Jetzt würde ich ja zu gerne noch eine aktuelle Version meiner SCHULKRAM-Liste hier reinschreiben, aber ich habe keine Zeit. Ich muss nämlich schnell noch eine E-Mail an die Eltern schicken mit Stundenplan-, Schwimm- und sonstigen Infos und außerdem dringend meine Unterlagen übers Eichhörnchen raussuchen. Ich fürchte, ich habe sie in einem Anfall von Aufräumwahn entsorgt.

In diesem Sinne, frohes Schaffen!

 

* (was irgendwie auch lustig war, da ich genau einer solchen fetten Spinne gestern bei den ZweimeinerLieblingskollegen begegnet bin. Dort lief sie durchs Wohnzimmer. Und anstelle feste draufzutreten (jahaaa, ich weiß schon…) wurde das arme Ding vorsichtig festgesetzt und in die freie Wildbahn entlassen. Daraufhin ist das Biest offensichtlich schnurstracks zum Hause Weh gelaufen, um dort morgendliche Panik und Schrecken zu verbreiten. Ich verzichte jetzt übrigens extra darauf, ein Bild einzustellen.)