Flashmob, Teil 1

„Ihr seid wirklich ziemlich langweilig geworden!“, meine ich mit einem nicht unzufriedenen Seufzer, während ich die seit einer geraumen Weile still vor sich hinarbeitenden Viertklässler beobachte. Gestern, ja, da hatte ich zwei Stunden Vertretung im ersten Schuljahr, da ging noch was, da flogen Emotionen und Hausschuhe durch den Raum! Aber hier? Hach, sie werden einfach so schnell groß!

Erwartungsgemäß empört sich die Klasse umgehend (Das ist allein Ihre Schuld, Frau Weh! Sie sind auch nicht mehr so spannend, Frau Weh! Da sehen Sie, was Sie aus uns gemacht haben!), was mich durchaus freut, regt es doch eine sofortige Diskussion darüber an, was getan werden könne (nein, müsse!), um diesen unhaltbaren Zustand zu ändern. Ich mag sie ja sehr, diese Klasse. (Natürlich mag ich jede meiner Klassen. Anders wäre ja auch schön dumm, wenn man so viel Zeit miteinander verbringt!) Aber diese Kinder hier haben genau die richtige Mischung aus Intelligenz* und Humor**, die ich so schätze.

Sehr selbstreflektiert*** für ihr Alter stellen sie nun fest, dass meine Aussage unverschämt gewesen sei, weswegen ich mich am kommenden Freitag auch im Klassenrat zu verantworten habe, aber dennoch ein Fünkchen Wahrheit enthalte. Sie wären nun halt die Großen, das brächte eine immense Verantwortung mit sich. Vorbild zu sein koste schließlich Kraft und Würde. Dennoch könnte man eventuell ein wenig Leben in die Bude bringen, damit die Kleinen sehen, dass Älterwerden nicht bedeutet, keinen Spaß mehr zu haben. Verschiedene Möglichkeiten fliegen durch den Raum, die meisten undurchführbar bis rahmensprengend, aber ganz ohne mein Zutun (ich habe 5 Minuten Redeverbot auferlegt bekommen, respektslosigkeitsbedingte Sofortmaßnahme genehmigt durch den Schnellausschuss der Klasse) kristallisiert sich die Idee eines Flashmobs heraus. Das wäre es doch! Sowas ist cool, außerdem könne man es filmen und ins Internet setzen, da sähen dann ALLE, dass unsere Klasse die beste überhaupt wäre. Ich darf wieder mitreden und teile meine Bedenken bezüglich der Filmerei mit. Die Flashmobidee aber finde ich gut und gebe als Hausaufgabe auf, den Plan zu konkretisieren.

„W-Fragen beantworten, Kinder! Werwaswannwowie!“, rufe ich ihnen noch hinterher, als sie ihre Sachen packen und aus dem Raum stürmen.

„Ist klar, Frau Weh!“, ranzt mich Can über die Schulter an. „Erst beleidigen und dann noch meinen, Weh-Fragen stellen zu dürfen, ist klar!“

Ich mag sie ja wirklich! 🙂

*Ergebnis harter Arbeit.

**Ergebnis noch härterer Arbeit.

***Ergebnis … ihr wisst schon.

Es gibt so Tage…

Dass der Wurm drin ist, merken das Miniweh und ich, als wir pünktlich um 7.00 Uhr vor der Kindergartentüre stehen.

Verschlossen.

Zunächst bin ich irritiert, dann erleichtert, als ein paar Minuten später eine Erzieherin außer Atem die Türe mit den Worten „Der Frühdienst ist krank“ aufschließt. Das Miniweh drückt sich an mich und will meine Hand nicht loslassen. Ermutigend rede ich auf es ein und schaffe es zur Garderobe. „Ich muss Pipi!“ Ich schwitze in meiner dicken Jacke. Trotzdem sich das Miniweh vorbildlich und schnell umziehen lässt, in Rekordzeit ein mittelgroßes Geschäft erledigt und mir drei satte Schmatzer aufdrückt, fehlen mir beim Verlassen des Kindergartens sechs Minuten. Es sind diese sechs Minuten, die mich zwischen zwei Müllautos katapultieren, denen ich sonst entkommen wäre. Aus sechs Minuten werden neun, eine Baustellenampel (war die gestern auch schon da?) tut ihr übriges. Die restliche Fart trommle ich mit den Fingern aufs Lenkrad, der Blick geht immer wieder gehetzt zur Uhr. Endlich auf dem Lehrerparkplatz angekommen trete ich in einen Hundehaufen. Scheiße, denke ich. Wie passend.

Fluchend versuche ich den Schuh am spärlichen Grasbewuchs des Randstreifens zu reinigen.

„Wir fangen pünktlich an!“, zischt die Konrektorin, als ich das Lehrerzimmer 10 Minuten zu spät zur Dienstbesprechung betrete. „Was stinkt hier denn so?“

„Ach“, entgegne ich, „das muss wohl die schlechte Vereinbarkeit von Familie und Beruf sein.“ Ich lasse mich matt auf meinen Platz sinken. Die nächsten Stunden verfliegen. Die Kinder sind unausgeglichen und motzig – es war doch gerade erst Vollmond? Nach meinem Unterricht scheuche ich die Viertklässler auf den Schulhof, um die Klasse abzuschließen, als mir die Konrektorin entgegenkommt, meine Zeugnisse in der Hand. „Die musst du wohl nochmal machen, da ist dir immer eine Zeile verrutscht.“, sie weist auf die entsprechende Linie und lächelt süffisant, „Hast du was am Formular geändert?“

Ich habe keine Zeit für unnötige Diskussionen, das Miniweh muss abgeholt werden. „Ok“, antworte ich daher nur knapp, den Hals zugeschnürt, und greife nach dem Packen, „dann werde ich die mal schreddern.“ Ich lasse die Kollegin stehen, die mir noch irgendetwas hinterherruft – vermutlich hat es mit der medialen Unfähigkeit unseres Kollegiums zu tun. Ich würde mich ja ärgern, aber mir fehlt gerade die Kraft dazu. Es ist jedes Jahr das Gleiche. Irgendwas passiert immer mit den Zeugnisformularen. Vielleicht ist es wirklich meine Unfähigkeit, eine Vorlage auszufüllen, auf einen Stick zu packen und auszudrucken. Wer weiß das schon so genau? Seltsam allerdings, dass es auch den anderen Kolleginnen so geht.

Ich komme noch pünktlich in den Kindergarten, wo mir das Miniweh beglückt in die Arme segelt. Ich drücke es fest. Runterschlucken, denke ich, abhaken und fertig! Das Mittagessen will gekocht, der Spielplatz besucht und die Vokabeln mit dem anderen Wehwehchen geübt werden. Hak es einfach ab, Frau Weh!

Jetzt sitze ich am Schreibtisch und stelle fest, dass es sich mitnichten nur um eine läppische verrutschte Zeile handelt, was durch einen simplen Klick behoben werden könnte. Das komplette Formular ist aus den Angeln gehoben. Neu schreiben. Alle. Bis morgen.

EDIT:

Problem analysiert: Die Vorlage ist in Textmaker erstellt, mein Word ziert sich vonwegen Kompabilität. Nachdem ich nun eine Weile stumme Zwiesprache mit meinem Rechner gehalten (und zwischendurch dem größeren Wehwehchen eine Wärmflasche gemacht habe, was auf eine unruhige Nacht hinweisen könnte), habe ich nun beschlossen, zum ALLERERSTEN MAL meine Zeugnisse nicht pünktlich abzugeben, sondern mich stattdessen ganz entspannt am Wochenende noch einmal dransetzen werde. Heureka! Manchmal mache ich mir selber Angst! :mrgreen:

kleine Horrorstunde

Irgendwie werde ich den Eindruck nicht los, dass mein Körper ein undankbarer Sack ist!

Da presse ich frischen Saft, schütte statt herrlich krümeliger Zimt-Zucker-Mischung einen Schwapps Agavendicksaft über mein Müsli, springe motiviert aus dem Bett, um meinen Körper mit Sauerstoff und Serotoninen zu fluten und statt, dass er mich im Gefühl des wahren Glücks schwelgen lässt, zickt er nur rum. Gestern zog es in der linken Wade, vorgestern zwickte die rechte Schulter, heute schmerzt der Kopf. Mein Körper benimmt sich wie ein mäkeliges Kleinkind, dem man nichts recht machen kann. Ständig mault er: Lass mich liegen! Gib mir Schokolade! Ich will keinen Tee, ich will… Cocktails! Und Schirmchen! Kirschen!

Wenn er sich ja wenigstens etwas minimalistischer aufführen und überflüssigen Ballast abwerfen würde. Aber nein. Während ich mich innerlich schon richtig sportlich fühle (und morgens überhaupt kein bisschen mehr laut jammere), gerät mein Körper in Panik und legt erstmal ein Kilo zu. Ob das wohl schon Muskeln sind? Möglicherweise lagert sich aber auch nur das Kokosöl ab, das mir gelegentlich noch den Schlund runterrutscht während ich tapfer damit schmurgele. Immerhin ist das ja reinstes Fett! Und wenn ich davon jeden Morgen so – sagen wir mal – einen üppigen Löffel zu mir nehme, dann ist die Gewichtszunahme doch schon vorprogrammiert. Da nützt es auch nichts, dass ich mir abends dann den ganzen Schnodder aus dem Gehirn rausspüle, Schnodder wiegt ja nichts. Weiß doch jeder.

Zu allem Überfluss wächst mir seit drei Tagen auch noch ein zweiter Kopf. Nein, das KANN kein Pickel mehr sein! Das hat schon richtig Persönlichkeit und wirft einen Schatten, an dem der Kundige die Uhrzeit ablesen könnte. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so ein Monstrum ausgebrütet. Bestimmt ist das Ding randvoll mit Giftstoffen und Schlacken und schlechter Laune. Vielleicht habe ich es aber auch endlich geschafft und es handelt sich dabei um ein zweites Gehirn, so wie es die zamonischen Eydeeten serienmäßig besitzen. Das wäre praktisch, eine Art körpereigenes Backup, in das ich Informationen zur Zwischenablage einspeisen könnte. Ich beobachte das Wachstum weiterhin gespannt.

Das tun die Viertklässler übrigens auch, haben wir doch gerade die Pubertät mit all ihren unerfreulichen Nebenwirkungen als Thema abgehakt.

„Frau Wehee? Was ist das da in ihrem Gesicht?“

„Das“, und ich blitze Nino böse an, „ist die zweite Frau Weh. Diejenige, die nicht mehr lächelt, wenn du deine Hausaufgaben zum dritten Mal hintereinander vergessen hast. Die“, und ich nehme den nächsten kichernden Schüler ins Visier, „die Frau Weh, die nicht mehr in den Raum schaut, bevor sie die Türe abschließt und nach Hause fährt.“ Meine Stimme hebt sich gleichzeitig mit meinen Händen und ich blicke theatralisch an die Decke. „Die Frau Weh, die euch nicht mehr vor Frau Schmitz-Hahnenkamp in Schutz nimmt, sondern sich mit Popcorn in die erste Reihe setzt und zuschaut!“ Ich komme so langsam in Fahrt. Die Viertklässler glucksen vor Vergnügen und machen ihrerseits nun eifrig Vorschläge:

„Vielleicht die Frau Weh, die beim Fahrradtraining nicht die Klötzchen aufhebt, sondern den Kindern hinterherschmeißt?“

„Oder die Frau Weh, die beim Waffelmachen den Kindern die Hand im Waffeleisen einquetscht, um die Temperatur zu testen?“

„Nein, nein, die Frau Weh, die kein halbes Hähnchen isst, sondern lieber einen halben Erstklässler!“

„Die Frau Weh, die beim Hausmeister die Kettensäge holt…!“

Sprachlos höre ich mir die Horrorvorstellungen an, die die mir anvertrauen Kinder mühelos mit einer zweiten Version meiner selbst zu verknüpfen im Stande sind.

„Danke!“, sage ich pikiert, „Das Prinzip habt ihr offensichtlich verstanden… weiterarbeiten!“

 

Knochenkochen

Ich stehe in der Küche und fluche.

Seit gefühlten Stunden koche ich Hühnerknochen aus, um ein Experiment für den Sachunterricht vorzubereiten. Genaugenommen ist dies bereits der 3.Anlauf der Versuchsvorbereitung. Die ersten abgenagten Hühnerknochen, die die Viertklässler fleißig gesammelt haben, hat sich die Wehsche Hauskatze in einem Moment der allgemeinen Unaufmerksamkeit geschnappt. Bei Knochenlieferung Nummer 2 war ich dann wesentlich cleverer und habe sie in einer amerikanischen Qualitätsplastikdose untergebracht. (Leider habe ich sie dort vergessen. Ich dummes Huhn!) Nachdem ich die pelzigen Überreste einige Zeit später entsorgt habe, habe ich mich der nächsten Hähnchenschenkel umgehend persönlich angenommen und so kochen die Gebeine nun vor sich hin. Sinnierend stehe ich im nicht so wahnsinnig angenehm duftenden Dampf und angle gelegentlich mit der Suppenkelle nach dem ein oder anderen Beinchen, um zu sehen, ob endlich alle Fleisch- und Fettreste entfernt sind. Dabei mache ich mir Gedanken zur Unterrichtsplanung. Wer sagt denn, dass diese ausschließlich am Schreibtisch stattfinden soll?

Der Versuch vermittelt den Kindern nicht nur Wissen, sondern ist vor allem spannend – zu Hause mit Knochen zu experimentieren dürften den meisten meiner Schüler fremd sein.

Die Viertklässler, die sich seit einiger Zeit sehr intensiv mit dem Thema Körper befassen, werden herausfinden, dass Knochen stark belastbar sind. Sie werden Kalzium und Phosphor als wichtige Bausteine für ein widerstandsfähiges und belastbares Knochengerüst kennenlernen. Danach startet das eigentliche Gummiknochen-Experiment:

Ein Hühnerknochen wird in eine Schale mit Essigessenz gelegt. Mit einem Deckel wird die Schüssel abgedeckt. Nach 3-4 Tagen lässt sich der Knochen biegen ohne zu brechen, da der Essig die Mineralien aus dem Knochen gelöst hat.

Die Viertklässler werden den Versuchsaufbau im Vorfeld beschreiben und Vermutungen anstellen, was passieren könnte (der Knochen löst sich auf, der Knochen wird kleiner/größer, der Knochen verändert die Farbe, etc.) Diese Vermutungen werden unkommentiert aufgeschrieben und im Nachhinein evaluiert. Nach der Beobachtung und Auflösung des Versuchs werden die Schüler eine Vorgangs-/Versuchsbeschreibung und eine Skizze dazu anfertigen. Die Ergebnisse werden in ihrem Körperbuch dokumentiert.

Nachdem ich mit meiner Planung soweit ganz zufrieden bin, gieße ich die schneeweißen Knöchelchen ab, lüfte die Küche ordentlich und beiße genussvoll in eine Essiggurke. Da stutze ich… sind Essiggurken eigentlich gefährlich für dumme Hühner?

Horch, wer kommt von draußen rein?

Ein wenig hänge ich im Sachunterricht hinterher, aber heute schaffe ich endlich den Einstieg ins Thema Körper. Die Viertklässler allerdings ahnen noch nichts von ihrem Glück und schreiben mehr oder weniger motiviert Personalpronomen und Personalformen in ihre Hefte. 2.Person Präsens Präteritum von laufen, 3.Person Plural Perfekt von schreiben, 1.Person Singular Präsens von essen – vereinzelt ist Stöhnen zu hören, als plötzlich…

(… der Hausmeister zu vereinbarter Zeit heimlich, still und leise das schuleigene Klapperskelett vor die Klassentüre rollt, laut und vernehmlich anklopft und sich dann – vermutlich grinsend – hinter die nächste Ecke verdrückt)

POCH!

POCH!

POCH!

Die Viertklässler schauen auf. „Herein!“, rufe ich unbeteiligt und fordere, weil niemand eintritt, etwas unwirsch Sinan auf, die Türe zu öffnen. Sinan schlendert zur Türe, nicht ohne auf dem Weg dorthin eine Fratze zu ziehen und gegen Ninos Ranzen zu stolpern. Er greift an die Türklinke, öfnnet die Türe und

„WAAAAAAAHHHH!

…knallt die Tür wieder zu. „Sinan?“, frage ich unschuldig und ziehe eine Augenbraue hoch. „Da ist ein Toter vor der Tür!“, antwortet mir der arme Kerl – mittlerweile schon wieder mehr irritiert als erschreckt.

„Hähä, voll Halloween, oder was!?“ Die Viertklässler hält jetzt nichts mehr auf den Plätzen. Einige Mutige stürmen zur Türe, andere stellen sich vorsichtshalber hinter ihre Stühle oder suchen die sichere Nähe zu mir. Unter Johlen wird das Skelett in den Klassenraum gezogen.

„Ahh“, rufe ich und klatsche mir mit der Hand vor die Stirn, „habe ich doch glatt vergessen, dass wir heute Besuch von Mr.Skeleton bekommen. Tut mir ehrlich leid, Sinan!“ Ich grinse ihn an und schüttle dem Knochenmann überschwänglich die Hand. „Mr.Skeleton ist Experte zum Thema Knochenbau und wird uns eine Weile Gesellschaft leisten. Sag hallo, Mr.Skeleton!“ Mr.Skeleton hebt gehorsam seinen Arm zum Winken und grinst in die Runde, die Klasse ist begeistert. Für den restlichen Tag lassen wir Personalformen Personalformen sein und zählen Knochen, messen Gebeine ab, vergleichen Elle und Speiche, reißen knochentrockene Skelettwitze und haben irgendwie ganz schön viel Spaß.

 

Welche Pille würdest du wählen?

„Nimmst du die blaue Pille, endet es. Du wachst auf und glaubst, was immer du glauben möchtest. Nimmst du die rote Pille, bleibst du im Wunderland und ich führe dich in die tiefsten Tiefen des Kaninchenbaus … Vergiss nicht: Ich biete Dir nur die Wahrheit an – nicht mehr.“ (Wachowski: The Matrix)

„Sie können sich sicher denken, warum wir hier sind“, sagt der Vater mit diesem speziellen Unterton, der solchen Gesprächen eigen ist. Natürlich kann ich es mir denken, schließlich stehen die Empfehlungen für die weiterführenden Schulen vor der Türe. Zu keinem anderen Zeitpunkt lerne ich so viele Väter kennen wie in diesen Wochen des vierten Schuljahres.

„Mein Mann ist nämlich Ingenieur“, schaltet sich da die Mutter ein, „der hat ja alles erreicht, was geht!“ Sie nickt resolut, ich neige unbestimmt den Kopf, mit Ingenieuren kenne ich mich nicht so aus. „Der Sven soll nämlich aufs Gymnasium!“

Selbstverständlich soll er das – so wie knapp 80% meiner Klasse, zumindest wenn es nach dem Wunsch der Eltern geht. Svens Leistungen sind mittelmäßig, viele Dreier, ein ausreichend im Lesen (eigentlich schon der klassische Knock Out für den Übergang auf ein Gymnasium), ein gut in Kunst, das macht er gern.

Ich bin genervt. So viele Elterngespräche und in allen geht es um das Gleiche: nur das Gymnasium zählt – ganz egal, welche Voraussetzungen das Kind besitzt, egal was mein Eindruck ist. Ich weise die Eltern auf die Zensuren ihres Sohnes hin und hebe besonders die Vier im Lesen hervor. „Deswegen zahlen wir ja auch seit Mai ein Vermögen an das Nachhilfeinstitut“, giftet die Mutter zurück. „Das kriegt die Schule ja offensichtlich nicht hin. Bei uns früher wurde das ja auch alles ganz anders gemacht, heute wird ja gar nicht mehr richtig gelernt!“ Natürlich kann ich das so nicht hinnehmen und verweise darauf, dass auch sie als Eltern Pflichten nachkommen müssten und zumindest jeden Tag ein bisschen mit dem Sohn lesen müsse doch möglich sein!? Empört wischen Svens Eltern den Hinweis beiseite: „Sind Sie Lehrer oder wir?“

Noch eine ganze Weile geht es so weiter. „Was würden Sie also jetzt und an dieser Stelle ins Gutachten schreiben?“, möchte der Vater wissen, um das aus dem Ruder laufende Gespräch zu beenden. „Ich würde Ihrem Sohn eine Realschulempfehlung geben, denn —“ „Dann ist ja alles gesagt!“, schneidet er mir das Wort ab und steht auf. „Wir gehen.“

Empört schlage ich im Lehrerzimmer auf: „Boah, es gibt echt unmögliche Eltern!“

„Sie können sich sicher denken, warum wir hier sind“, sagt der Vater mit diesem speziellen Unterton, der solchen Gesprächen eigen ist. Natürlich kann ich es mir denken, schließlich stehen die Empfehlungen für die weiterführenden Schulen vor der Türe. Zu keinem anderen Zeitpunkt lerne ich so viele Väter kennen wie in diesen Wochen des vierten Schuljahres.

„Mein Mann ist nämlich Ingenieur“, schaltet sich da die Mutter ein, „der hat ja alles erreicht, was geht!“ Sie nickt resolut, ich neige unbestimmt den Kopf, mit Ingenieuren kenne ich mich nicht so aus. „Der Sven soll nämlich aufs Gymnasium!“

Selbstverständlich soll er das – so wie knapp 80% meiner Klasse, zumindest wenn es nach dem Wunsch der Eltern geht. Svens Leistungen sind mittelmäßig, viele Dreier, ein ausreichend im Lesen (eigentlich schon der klassische Knock Out für den Übergang auf ein Gymnasium), ein gut in Kunst, das macht er gern.

Ich lasse die Eltern von ihren Wünschen und ihrem Lebensentwurf für ihren Sohn erzählen. Mir kommt das mittelgroße Wehwehchen in den Sinn und ich denke daran, dass es für Eltern nicht immer leicht ist, die Realität als solche zu akzeptieren. Behutsam gehe ich auf die Schilderungen der Eltern ein und erkläre sorgfältig, wie ich Svens Leistungen sehe, sein Arbeitsverhalten beurteile. Ich nenne seine Stärken und seine Schwächen. Die Eltern nicken, sie erkennen ihren Sohn wieder. Das Gespräch verläuft ruhig und sachlich. Ich erläutere, warum ich zum jetzigen Zeitpunkt den Besuch der Realschule empfehlen würde und nicht das Gymnasium. Gebe den Hinweis auf die Gesamtschule als Möglichkeit das Abitur nach 9 Jahren ohne Schulwechsel zu erreichen.

„Natürlich wird sich Sven weiterentwickeln. In welchem Maße und wann er das tut, kann ich nicht sagen – meine Arbeit wäre leichter, wenn ich in die Zukunft meiner Schüler blicken könnte“, sage ich mit einem zarten Lächeln, das die Eltern erstmalig erwidern. „Sie müssen sich auch darüber im Klaren sein, wieviel Zeit und Wissen Sie in die gewählte Schulform investieren möchten“. Wohlwissend, dass Sven bereits jetzt bis zu 90 Minuten an den Hausaufgaben sitzt, schubse ich die Eltern sanft auf diesen neuen Gedanken. Die Mutter blickt mich erschreckt an. „Das wäre dann deine Aufgabe, ich bin ja nicht da.“, wendet sich der Vater an seine Frau, deren Blick starr wird. Wir sprechen noch von Frustrationstoleranz, Anstrengungsbereitschaft und der Notwendigkeit von Erfolgserlebnissen, um stark werden zu können.

„Nun habe ich Ihnen umfassend meine Sicht dargelegt, möchte Sie aber auch darüber informieren, dass Sie Ihren Sohn selbstverständlich auch auf der Schule Ihrer Wahl anmelden können, wenn Sie sich nicht meinen Überlegungen anschließen können. “ Während der Vater bereits zurückrudert („Nein, nein, Sie können den Sven da sicher besser einschätzen als wir!“), stellt die Mutter die letzte, entscheidende Frage: „Wenn Sven Ihr Sohn wäre, würden Sie ihn aufs Gymnasium geben?“ Ich blicke sie an und schüttle den Kopf: „Nein, auf gar keinen Fall. Ich würde wollen, dass er einen guten Start hat.“ Sie nickt: „Danke, Sie haben sich viel Zeit genommen. Ich glaube, wir verstehen die Situation jetzt besser.“

Freundlich verabschieden wir uns voneinander. Im Lehrerzimmer mache ich mir kurz ein paar Notizen. „Wie war dein Gespräch?“, will Kollegin Mandel wissen. Ich blicke von meinen Unterlagen auf: „Ganz gut, denke ich.“

phallische Phasen

Nicht alles, was ich von mir gebe, ist pädagogisch wertvoll.

Genaugenommen überdenke ich tatsächlich zu wenig des Gesagten. Ich könnte das nun „Erziehen aus dem Bauch raus“ nennen und mich in Wohlgefühl suhlen, da ich offensichtlich die aussterbende Fähigkeit besitze, intuitiv zu erziehen. Wären da nicht diese häufigen Momente, in denen mein Kleinhirn nach einer unbedachten Äußerung ein panisches „was war DAS denn gerade!?“ aussenden würde…

4.Schuljahr, die Stunde nach der großen Pause:

Nick (aufgebracht auf den neben ihm stehenden Nino deutend): „Der hat mir an den Pimmel gefasst!“

Nino (nicht minder aufgeregt): „Gar nicht, der hat an MEINEN Pimmel gefasst!“

Frau Weh (gedanklich abwesend, weil Klassenbuch ausfüllend): „Boah, Jungs! Ihr habt doch jeder selber einen, nehmt doch den.“

Örks.

Ice Ice Baby

Björks unverwechselbare Stimme dringt aus den Boxen. Sie perlt über eisklare Höhen, um anschließend in gletschertiefe Spalten zu stürzen. Sie stöhnt, wimmert und schreit. Sie säuselt, schmeichelt sich ein und liebkost ihre Zuhörer. Frau Gudmundsdóttir macht es den Viertklässlern nicht leicht. Sie sitzen wir erstarrt auf ihren Stühlen, bei manchen malt sich unverhohlenes Entsetzen auf den Gesichtern ab. Aber sie sind vorsichtig in ihren Äußerungen. Bläue ich ihnen doch seit jeher ein, dem Hörverhalten anderer mit Respekt zu begegnen. Es ist nicht alles Pop, was glänzt.

Ich lasse sie die Musik inhalieren und abschmecken wie einen besonders intensiven Rotwein beim Degustierseminar. (Mancher im Raum würde sie wohl auch gerne ohne Umwege in einen Blechnapf spucken.) Den landschaftlichen Besonderheiten der rauen Schönheit Islands versuchen wir uns durch Bilder von Fjorden, Geysiren und atemlos weitem Land zu nähern. In Erzählungen von Elfen und Trollen und dem Klang isländischen Folks (mit Eivor Pálsdóttir mute ich ihnen zugegebenermaßen extrem viel zu) suchen wir die einzelnen Einflüsse, aus denen Björk ihr Tongeflecht spinnt.  In Gruppenarbeit sollen die Kinder zu den Klängen Texte schreiben. Ich lese die Worte Einsamkeit, Traurigkeit und Angst, aber auch Stärke, Schönheit und gewaltige Natur. Manche bedienen sich des Elfchens als einfachem dichterischem Format:

Einsam

So stark

singt sie dort

Wind und stürmisches Meer

Verbunden

Sie haben es. Ich bin stolz auf die Viertklässler. (Und auch ein kleines bisschen auf mich.) Ich verzeihe all die rotzreifen Pietros, schnuckelpuppigen Mileys und milchgesichtigen Justins. Die Viertklässler sind soweit, dass sie anfangen, hinter die Klänge zu forschen, zu erkennen, dass Musik nicht nur alleine für sich steht, sondern ein Produkt vieler Faktoren darstellt. Dass man nicht alles schön finden muss, aber in allem etwas finden kann. Und sei es die Erkenntnis, dass man dieses Stück nun wirklich nicht noch einmal hören möchte.

Am Ende sind alle erschöpft. Ich frage, ob wir zum Abschluss noch ein bisschen ans Klavier zum Singen wollen.

Ins zustimmende Geschrei mischt sich eine große Portion Erleichterung 😉

 

Waka Waka

PROLOG:

Manchmal stehe ich morgens vor dem Spiegel und seufze. Die Schwerkraft zollt ihren Tribut. (Ich bezahle.) Die Schule zerrt an meinen Nerven. (Ich bezahle.) Wenn man genau hinsieht, stellt man fest, dass das Leben seine Spuren fast an jedem Körperteil hinterlässt. (Ich be zahle schließe die weitere Bestandsaufnahme zu vertagen und einen Kaffee zu trinken.)

„Frau Wehee?“

Es ist wieder soweit. Super, da bin ich ja mal richtig in Stimmung für. Ich habe es in dem Moment geahnt, in dem Melina aus der 4a S H A K I R A an die Tafel schrieb. In geschwungenen Buchstaben. Mit Herzchen auf dem i. In jedem 4.Schuljahr taucht bei der Inselmusik früher oder später die quirlige Kolumbianerin auf und geht mir auf die Nerven.

„Frau Weeheee, Sie sind ja gleich alt wie Shakira!“, trötet Rania in den Raum. „Echt?“ Timo ist sichtlich irritiert. „Das sieht man ja gar nicht.“ Es ist keine Freude, wenn man das Alter eines Popstars nicht nur teilt, sondern die Geburtstage gerade mal in Spuckweite auseinander liegen.

„Kann ich jetzt mal mit meinem Referat weiter machen?“ Melina ist genervt, sie will fertig werden: „Shakira wiegt ca. 53 Kilo und sieht sehr gut aus. Sie tanzt seit ihrer Kindheit und trainiert viele Stunden am Tag.“ Ein Zwischenruf stört das wiederaufgenommene Kurzreferat. „Frau Weheee? Wieviel wiegen Sie?“

– – –

„Frau Weh? Sagen Sie doch mal!“ Schnippsend meldet sich Nele: „Ich weiß das, Sie haben das mal in mein Freundebuch geschrieben. Frau Weh wiegt grsbrmls Kilo!“ Beifallheischend schaut sie mich an.

Danke, Kind.

„Das ist aber mehr als Shakira.“ Timo wieder.

Unwesentlich. Ich kann Shakira nicht leiden. Ich finde ihren sehnigen Bauch gruselig und wenn sie mit dem Popo wackelt, dann möchte ich da manchmal draufhauen. Aber nicht aus freundschaftlichen Gefühlen. Die jauligen Anteile ihres Gesangs schätze ich auch nicht sehr.

Die Mädchen hingegen lieben Shakira. (Alles an ihr.) Die Jungs finden sie ebenfalls ziemlich toll. (Manche Teile.) Sie schauen sich das von Melina erstellte Plakat nebst ausgeschnittenen Fotos aus der Bravo jedenfalls sehr genau an. Man kann aber auch viel sehen. Es muss warm sein, dort, wo Shakira wohnt.

Hier ist es kalt. Und es regnet. Und meine Laune ist schlecht. Mir ist grad mal nicht nach Waka Waka.

 

EPILOG:

Ich stehe vor meiner CD-Sammlung und lande bei Björk. Es wäre an der Zeit, das 4.Schuljahr einmal richtig zu quälen. Ich lächle eisig und greife mir Medúlla.

Zieh dich warm an, Shakira Isabel Mebarak Ripoll, die nächste Inselmusik geht nach Island. Nicht, dass du dir da das Bläschen verkühlst…