Viel Rauch

Ein wenig scheine ich mich verloren zu haben in den Turbulenzen der letzten Wochen.

Ständige Besuche im Klassenraum, inhaltlich wieder und wieder gleiche Gespräche mit verschiedensten Stellen, seitenweise diagnostische Beobachtungen, Fallanalysen und Beurteilungen. Das Ergebnis? Unbefriedigend. Das AO-SF für Ramon ist abgelehnt worden, die Schulbegleitung ebenso und die Begründungen fühlen sich an wie eine ins Gesicht geworfene Torte: zuckersüß, aber eben doch eine Klatsche. Die Förderschulkolleginnen, die Ramon getestet und dem Unterricht mehrere Tage beigewohnt haben, waren sich einig: Es läuft super! Ramon hat eine funktionierende emotionale Bindung zu mir aufgebaut, er respektiert mich und passt sein Verhalten zunehmend positiv der Klasse und den dort herrschenden Regeln an. Er hat die Chance, die ihm der Wechsel in diese Gruppe geboten hat, nicht nur erkannt, sondern in der ihm eigenen Weise am Genick gepackt und zur Blutsbrüderschaft gezwungen.

„Ja, Frau Weh, die 30 anderen Kinder drumherum, das ist heftig. Sie haben unser aufrichtiges Bedauern und unseren Respekt. Aber für Ramon, der die Fähigkeit und Einsicht zeigt, sein Verhalten zu ändern, ist es hier tausendmal besser als an einem Förderort für sozial-emotionales Verhalten. Da wären es nicht die guten Dinge, die er sich abschauen würde.“

Auch der Schulpsychologe findet professionell positive Worte. Er lobt das strikte Classroommanagement, die Arbeitsatmosphäre und das Sozialverhalten der Zweitklässler. Die Jugendamtsmitarbeiterin stimmt ihm zu. Ramon ist erfolgreich in die Gruppe integriert, da könne § 35a SGB VIII leider nicht greifen. Die Pausenprobleme? Ja, nun, vielleicht könnte man die Aufsicht aufstocken? Das störende Verhalten in der Klasse? Naja, da waren ja auch noch ein paar andere Kinder auffällig! Die Schülerzahl scheine ihr etwas hoch, aber, gut, so sei es nunmal. Sicherlich könne eine Schulbegleitung die Lehrerin entlasten, aber dafür sei sie nicht gedacht. Tut uns leid, Frau Weh.

Mitten in diesem Gemenge dann der Vorfall mit der Kollegin und der Schulleitung. Zu viel. (Ich wollte schon viel früher danke sagen für die aufbauenden und verstehenden Kommentare, allein ich konnte nicht. Ich musste mich einkugeln und Wunden lecken. Aber jetzt geht es wieder. Also: Danke für das Verständnis, für die Aufmunterung und danke für Farin Urlaub! Was habe ich für ein Glück mit diesem Blog und mit euch als Leserinnen und Lesern!) Ich mache einen Haken hinter die letzten Wochen und besinne mich auf das, was offenkundig ganz gut läuft: der Unterricht mit den Zweitklässlern. Natürlich bleibt ein schales Gefühl zurück. Alle beteiligten Stellen haben erkannt, dass Ramon Hilfe braucht, aber niemand fühlt sich zuständig, weil es für ihn in dieser Klasse funktioniert. Das bleibt bitter, auch wenn es in schöne Worte gekleidet ist.

Jetzt sind es noch zwei Wochen bis zu den Herbstferien. Die werde ich den Zweitklässlern und auch mir so ruhig machen wie eben möglich. In den Fokus nehme ich die Pausensituation. Auch hier muss eine Entspannung machbar sein, ohne zwangsläufig mehr Lehrerinnen in der Aufsicht zu haben. Vielleicht greift ein Verstärkersystem? Die Sache mit der Kaffeetasse läuft nach wie vor gut, aber ich kann beim besten Willen nicht noch mehr Kaffee trinken. Da krieg ich’s ja am Magen …

Schriftverkehr

Der Zustand, der keiner ist, darf so nicht bleiben.So schön es ist, dass die Kinder sich untereinander akzeptieren, meine Akzeptanz reicht nicht so weit. Ich möchte, dass keiner meiner Schüler einer Gefahr ausgesetzt wird oder blaue Flecken in der Pause kassiert. Auch im 2. Schuljahr setze ich eine Lern- und Arbeitsatmosphäre voraus, die frei von Störungen ist. Und schlussendlich kann ich es nicht verantworten, dass meine Aufmerksamkeit in so hohem Maße nur auf ein Kind gerichtet ist. Eine Schulbegleitung für Ramon ist kein pädagogisches Zückerchen, das mir den Alltag versüßen würde, sondern eine notwendige Bedingung zur Regelbeschulung des Kindes.

Da das Schulamt auch weiterhin keinen Handlungsbedarf sieht, wende ich mich an das Jugendamt als kostentragende und letztendlich entscheidende Instanz. Parallel schalte ich die Schulpsychologin ein, die im Fall Ramon bereits die letzten zwei Jahre involviert war, und bitte um einen Unterrichtsbesuch. Ich telefoniere mit der Psychologin des Jungen und der Erziehungsberatungsstelle, die die Familie betreut. Morgen gehe ich erneut der Schulsekretärin der benachbarten Förderschule auf die Nerven, wann endlich eine Kollegin für das sonderpädagogische Gutachten vorbeikommt. Alle bitte ich um schriftliche Unterstützung bezüglich der so dringend benötigten Schulbegleitung und bereite mich anhand der Schriftstücke, meiner Unterlagen und einer Schülerakte, die so dick ist, dass sie nicht mehr in meine Tasche passt, akribisch auf das Gespräch mit dem Jugendamt vor. Es geht um alles. Oder nichts.

Der Ist-Stand:

  • Ramon ist offiziell seit diesem Schuljahr Schüler des 2. Schuljahres. Es ist sein 3. Schulbesuchsjahr. Der dreijährige Verbleib in der Schuleingangsphase ist Bedingung für die Eröffnung eines Verfahrens zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Bereich emotionale und soziale Entwicklung. Nach mehreren Gesprächen hat sich die Mutter überzeugen lassen, dass eine Förderschule der bessere Lernort für ihr Kind wäre.
  • Parallel zum AO-SF Verfahren läuft der Antrag zur Schulbegleitung. Seit einiger Zeit kann dieser nicht mehr direkt beim Jugendamt gestellt werden, sondern es muss der Dienstweg eingehalten werden.
  • Im Vergleich zum letzten Schuljahr hat sich Ramons Unterrichtsverhalten deutlich gebessert. Er verweigert nicht mehr komplett, sondern nimmt am Unterrichtsgeschehen teil. Dabei braucht er ständige Aufmerksamkeit, starke Lehrerpräsenz und konsequentes Handeln. Laut der behandelnden Psychologin ist eine Verhaltensänderung nur über eine funktionierende Beziehungsebene zu erreichen.
  • Die Einsatzbereiche, in denen eine Schulbegleitung meines Erachtens besonders notwendig sind, sind die Begleitung außerhalb des direkten Unterrichts (Raumwechsel, Lehrerwechsel, Pausen), sowie die Hilfestellung während der Lernzielkontrollen, die er im besten Fall in einem separaten Raum ableisten sollte, um die eigene, aber auch die Konzentrationsfähigkeit der anderen Schüler nicht zu beeinträchtigen.
  • Der erste Einsatzbereich dient unmittelbar dem Schutz vor Selbst- und Fremdgefährdung.

Nach meinem letzten Beitrag zu Ramon habe ich eine E-Mail erhalten, in der mich jemand fragt, wie ich es vor mir selber vertreten könnte, ein solches Kind nur aufgrund meines überzogenen Selbstbildes auf die anderen Kinder loszulassen. Ob ich so überzeugt von mir und meiner naiven Gutherzigkeit sei, dass ich die Verantwortung dafür tragen könnte, dass Ramons Mitschüler Aggressionen und Gewalt ausgesetzt wären. Mein Verhalten sei zutiefst unpädagogisch und unprofessionell. Und die Tatsache, dass ich geradezu danach geschrien hätte, Ramon in meiner Klasse aufzunehmen, jawohl der Gipfel allen unprofessionellen Handelns. Schön, wenn man sich selber so toll fände. Aber was könne man von einem Blog, der sich Kuschelpädagogik nenne, schon erwarten?

Liebe mir unbekannte Schreiberin,

zunächst: ich konnte Ramon nicht ablehnen. Es ist mein Job Kinder zu unterrichten. Alle, wie sie da sind. Da kann ich nicht einfach sagen, ätsch, dich will ich nicht in meiner Klasse! Es. Ist. Mein. Job. Ramon musste die Klasse wiederholen, also wiederholt er. Natürlich hätte ich der Mutter damals sagen können, dass ich dagegen bin. In die Klasse wäre er mir dennoch gesetzt worden. Und was wäre das für ein Start geworden? So konnten wir eine Vertrauensbasis schaffen, aufgrund derer sich die Mutter davon überzeugen ließ, den AO-SF Antrag zu stellen. Der Rest ist Bürokratie, Durchhaltevermögen und ein langer Atem. Denn den braucht es, um Hilfe zu bekommen in so einer Situation. Also Ramon war alles andere als mein 31. Wunschkind.

Und zum Rest: Ich verbringe täglich mehrere Stunden mit unheimlich vielen Kindern in einem Raum. Und sie lernen noch etwas dabei! Klar finde ich mich da toll. Einer muss das doch tun! 😉

 

Schulbegleitung selbstgemacht

Das neue Schuljahr begrüßt mich mit der Mitteilung, das Schulamt habe die beantragte Schulbegleitung für Ramon abgelehnt. Die Notwendigkeit sei nicht in der gebotenen Höhe vorhanden. Dies sieht der Vater von Lilly anders, hat Ramon seiner Tochter doch bereits am ersten Schultag nach den Ferien einen gezielten Tritt in den Genitalbereich verabreicht, der ein sichtbares Hämatom zur Folge hatte. Auch die am Folgetag eingeworfene Fensterscheibe scheint eine gewisse stumme Dringlichkeit auszustrahlen, aber die erneut kontaktierte Schulrätin rät mir zur Lehrerfortbildung zwecks Verbesserung des Umgangs mit auffälligen Schülern. Ich kann nur den Kopf schütteln. Ich weiß gar nicht, wie viele solcher Veranstaltungen ich in den letzten Jahren bereits besucht habe. Mich zum Klonen zu schicken wäre deutlich sinnvoller gewesen. (Für den Grundschulbereich gilt unbedingt und ganz ohne Frage: Klonen kann sich lohnen!)

So sitzen die Zweitklässler bereits nach nur einer Schulwoche in einer Krisensitzung beisammen. Unter ihnen der kopfhängenlassende Ramon, der – wider Erwarten, auch meines – ganz selbstverständlich einen Platz in der Klassenstruktur eingenommen hat und sein Störverhalten während des Unterrichts deutlich nach unten korrigiert hat, fast ganz ohne mein Zutun. Woraufhin die Zweitklässler genau das tun, was Kinder untereinander eben tun, sie rücken ein bisschen zusammen und machen Platz in der Klassengemeinschaft. Schließlich gehört Ramon jetzt dazu. Der ist echt seltsam. Aber na und, dann ist das eben so.

Ja, wir machen Abstriche. Die Hausaufgaben sind selten vollständig, die Geräusche, die Ramon während stiller Arbeitsphasen produziert, klingen eigentlich immer irgendwie unanständig und sein Vokabular … ach je. Noch fällt er jeden zweiten Tag vom Stuhl, aber jetzt landet er auf dem Boden und nicht mehr auf seinem Sitznachbarn. Wenn wir eine Lernzielkontrolle schreiben, geht er ab wie eine Rakete, rast durch den Klassenraum und schlägt mit dem Lineal auf sämtliche Möbel. „Wir ignorieren Störungen“ ist zur neuen Kernregel der Zweitklässler geworden, mantramäßig bete ich es ihnen vor. Ob ich damit sie oder mich mehr beruhigen will? Wer weiß. Aber er hat Kontakte geknüpft, sogar positive. Immernoch ist er mein Kaffeedienst und lässt jetzt schon über die Hälfte im Becher. Emma, deren Eltern schon im Vorfeld der Versetzung die Chefetage in Aufruhr versetzten, reicht ihm dann mit freundlichem Gesicht den Wischlappen und zeigt auf die Pfützen. Ramon wischt auf und sagt „danke, Emma“. „Bitte schön, Ramon“, sagt Emma und ich sitze daneben und bin sprachlos ob der Sogwirkung eines funktionierenden Miteinanders.

Aber die Pausen, die sind schrecklich. Und der Weg zur Turnhalle. Lehrerwechsel. Die Toilettengänge und eigentlich alle Phasen zwischendurch. Ramon ist kein Kind, das zwischendurch gut verträgt. Zwischendurch, das ist Kontrollverlust, Chaos und Aggression. Da bin ich nicht da, um einen Blickkontakt herzustellen, eine Hand auf eine Schulter zu legen oder leise „Turbopower“ zu flüstern, unser Codewort für superheldenmäßiges Wohlverhalten. Hier wäre der Raum für eine Schulbegleitung, die Präsenz zeigt, wenn ich es nicht schaffe, weil ich ungeklont eben nicht überall sein kann (was eigentlich verwunderlich ist, denn immerhin habe ich auch hinten Augen und megagute Ohren, die fast alles mitbekommen. Ich kann zwar keine Wände hochlaufen, aber angesichts einer zu Boden fallenden Kakaoflasche sind meine Reflexe legendär. So ganz will ich einen möglichen Spinnenbiss also nicht ausschließen. Grundschullehrerinnen sind irgendwie schließlich allesamt Wonder Women!)

„Ramon bittet euch um Hilfe“, dolmetsche ich die Körpersprache des neben mir hockenden Häufchen Elends. „Im Unterricht klappt es mittlerweile ganz gut, aber der Weg in die Pause und zurück, der ist noch sehr, sehr schwierig.“ Die Zweitklässler nicken wissend. So viele haben schon Schläge, Anrempler oder Tritte kassiert. Dass bisher erst drei Familien bei mir vorstellig geworden sind, ist eigentlich überraschend. „Wer von euch könnte sich vorstellen, Ramon zur Seite zu stehen und ihm dabei zu helfen, unsere Regeln zu beachten?“ Als sich über ein Drittel der Klasse meldet, stupse ich Ramon an und flüstere ihm zu, er solle mal aufsehen. Schnell sucht er sich Begleitung für die nächsten Tage aus und verschwindet wieder in seiner Schutzhaltung. Ich nicke den Zweitklässlern zu: „Wir schaffen das!“

„Wir schaffen alles!“, antwortet Can im Brustton der Überzeugung und ich möchte ihm am liebsten ein High five für das wir geben. Vor einem Jahr hätte er noch ich gesagt.

Sommerlochgedanken

Ich übe mich in Ferien und nehme mit Erstaunen wahr, dass die erste Woche schon vorbeigeweht ist wie das laue Lüftchen, das Abkühlung verspricht, und doch nur minimale Erleichterung bringt. Dabei ist meine Planung gut, die ersten drei Wochen verbringe ich mit Nach- und Vorbereitung und dann lege ich – zack – den Schalter um und mache mich ganz frei von schulischen Belangen. (Ahahahahahahahahaha! Ha! HA!!!) Noch spielen auch alle mit. Herr Weh geht arbeiten und die Wehwehchen verbringen ihre Zeit in Kindergarten und Zeltlager. Auch die Schulleitung ist an effektiven Arbeitstreffen interessiert und versorgt die in ihrer unterrichtsfreien Zeit (so übrigens die offizielle Bezeichnung für unsere vielen, vielen Ferienwochen) anwesenden Kolleginnen wahlweise mit Kuchen, Brötchen und lobenden Worten, während Stundenplanentwürfe entworfen und Vertretungskonzepte konzipiert werden.

Jetzt ist es wirklich rum, das erste Jahr an der (gar nicht mehr) neuen Schule. Schnell ging es! Ich habe viel gearbeitet und mich an der Quadratur des Kreises versucht, immer wieder den Blick offen und die Lernbedürfnisse aller im Blick zu halten. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit bei so vielen Kindern. Dabei noch aufmerksam zu bleiben für die Dinge, die ihre Ursache außerhalb des Klassenzimmers haben, und zudem noch aus 31 Individuen eine Gruppe zu formen. Wellness!

„Ach, Sie haben es gut, Sie haben jetzt Ferien!“, seufzt mir eine Mutter am letzten Schultag entgegen. Ich lache laut und nicke. Recht hat sie, ich habe es wirklich gut. Ich habe eine feste, unbefristete Arbeit. Zwar keine mit andauernder Erfolgsgarantie, aber eine mit ständigen Chancen und voller Möglichkeiten. Eine, die mir zwar in regelmäßigen Abständen Ärger und gelegentlich auch Herzrasen und unschöne rote Flecken im Dekolleté beschert, aber auch ein schier unerschöpfliches Reservoir an Wohlwollen und Erfolgserlebnissen. Ich fühle mich als Gärtner und manches, was ich anlege, wird, wenn es aufgeht, noch Bestand haben lange nach meiner Zeit. Hey, wie schön ist das denn!?

„Ich vermisse dich vielleicht bestimmt!“, murmelt Ramon, als das letzte Lied gesungen und der letzte Schnipsel vom Boden geräumt ist. Ich tue das, was ich so häufig mache, ich öffne die Arme und er stiehlt sich hinein in eine Umarmung, die frei ist von all den Störungen, Ärgernissen und Enttäuschungen der letzten Wochen. Frei von Versagensängsten und Überforderung, die mir zuverlässige Begleiter sind. Wenn ich mich und mein Lehrersein betrachte, dann ist es diese Fähigkeit, auf die ich vertraue, und die mich neben allen Schwächen, die ich habe, und Fehlern, die ich begehe, befähigt eine gute Lehrerpersönlichkeit zu sein: Ich kann Kinder annehmen. Egal, was sie mitbringen. Irgendwo findet sich schon ein Plätzchen für sie.

(Und gelegentlich auch ein Keks.)

„Geht’s vielleicht auch eine Nummer bescheidener?“, zieht Marten mich auf, als ich von dieser Erkenntnis berichte.

„Nein“, antworte ich entschieden, „das ist meine persönliche Kernkompetenz, da stehe ich zu! Es ist wichtig, dass auch und gerade Lehrer ein positives Selbstbewusstsein ausstrahlen.“ Ich nippe an meinem Glas und grinse. „Und was kannst du überhaupt?“

Marten, der sich geduldig meine schulischen Schilderungen angehört hat und die nächsten Wochen durchs Périgord wandern wird, setzt eine gewichtige Miene auf und antwortet mit salbungsvoller Stimme:

Ich kann Ferien!“

Touché.

Viel Lärm um nichts

„Frau Weh, da liegt ein Embryo auf der Treppe!“

Süffisant ginsend steckt Benedikt aus der Vierten seinen Kopf in meine Klasse.

„Ist nicht meiner. Heb‘ ihn auf und nimm ihn mit!“, antworte ich ohne mit der Wimper zu zucken. Die Hebamme ist zu Besuch im vierten Schuljahr und lädt gerade ihr Auto aus. Außerdem habe ich genug mit den zerknirschten Übeltätern zu tun, die vor mir stehen. Traf mich doch fast der Schlag, als ich am Morgen einen Blick auf die Tafel warf und dort acht Namen vorfand. Alles Erstklässler, die sich gestern in Englisch offenbar deutlich daneben benommen und infolgedessen bei mir eine Unterschrift abzuholen haben.

„Was denkt ihr euch denn eigentlich dabei?“, will ich wissen und frage nach dem Grund der Sanktion.

„Also ich hab eigentlich gar nichts gemacht!“, empört sich Nick. „Ich hab nur dem Ole den Kopf gestreichelt.“

„Ja und ich wollte das nicht!“, unterbricht ihn Ole augenblicklich.

„Und dann?“, hake ich nach.

„Dann ist der Nick vom Stuhl gefallen.“

„Ja, nachdem DU mich runtergeschubst hast!“

„Ok. Die nächsten.“

Filiz schaut arglos die Klassenzimmerdecke an. „Ich weiß gar nicht, warum die Frau Rimsky-Korsakov immer so laut ist. Ich hab ü-ber-haupt nichts gemacht. Ehrlich, Frau Weh!“ Sie senkt den Blick aus kullerbraunen Augen von der Decke und sieht äußerst überzeugend drein. Verdächtig! Ich schaue auf den Zettel, den die Kollegin gestern in Rage auf meinem Schreibtisch hinterlassen hat.

„Da steht, du wärst auf Toilette gegangen und nicht wiedergekommen, weil du auf dem Flur Topmodel gespielt hast.“

„Ja, aber ich hab nicht gestört!“

„Du hattest das Relibuch dabei und hast laut gesungen. Warum denn überhaupt das Relibuch?“, frage ich irritiert. Es war doch Englisch dran.

Gott mag Kinder, das hab ich gesungen. Und das Relibuch geht viel besser auf dem Kopf, weil das Englischbuch ist so wabbelig.“

Filiz schüttelt sich bekräftigend.

„Und das Buch ist nicht runtergefallen von meinem Kopf. Ich kann das voll gut!“

„Die Filiz kann das echt voll gut“, mischt sich Leonie ein. „Ich hab das gesehen.“

„Stimmt“, antworte ich und lese auf dem Zettel nach, „du warst ja dabei und bist auch nicht mehr in die Klasse gegangen.“

„Ist aber auch langweilig in Reli!“

„Ich dachte, ihr hattet Englisch?“

„Ach ja, stimmt. Ist trotzdem langweilig.“

Alle nicken. Ich hebe ablehnend die Hand. „Danke, reicht.“

„Die Frau Rimsky-Korsakov ist immer so laut, das tut in den Ohren weh!“, mault Michelle.

„Und deswegen hast du was gemacht?“, frage ich. Diese Stelle auf dem Zettel kann ich nicht gut lesen.

„Ich habe mir nur den Kopfhörer vom Computer geholt und angezogen, als die so gebrüllt hat wegen dem Noah.“, entgegnet Michelle trotzig und schiebt die Unterlippe vor. Ich verzichte darauf, ihr zu erklären, warum ein solches Verhalten in bestimmten Situationen als frech eingestuft wird und wende mich Noah zu.

„Und was machst du eigentlich an der Tafel?“

Noah ist ein wahres Herzchen und musste ein ganzes Schuljahr lang nicht an eine einzige Regel erinnert werden. Umso erstaunter war ich darüber, auch seinen Namen vorzufinden. Es ist ihm unangenehm und er zieht den Kopf tief zwischen die Schultern. Ein wenig sieht er nun aus wie eine kleine, verschreckte Schildkröte.

„Na, komm“, sage ich in sanfterem Ton, „ich möchte es einfach verstehen.“

„Ich habe meinen Strohhalm aus der Kakaoflasche gezogen. Das sollen wir ja machen …“

„Jaaaa?“, ermuntere ich ihn zum Weitersprechen.

Er atmet tief ein, um sich für den letzten Teil der Beichte zu wappnen.

„Aber ich hab das auf meinem Platz gemacht und dann ist der Kakao gespritzt. Auf die Paula. Und auf Paulas Heft.“

Die anderen Erstklässler ergänzen eifrig:

„Und auf den Ranzen!“

„Und auf den Boden!“

„Und auf Frau Rimsky-Korsakov!“

Auf Frau Rimsky-Korsakov? Was zum …?

„Wieso das denn?“

„Na die war grad bei mir, weil ich mich doch ganz aus Versehen mit meinen Schuhen am Stuhl festgehakt habe!“, ergänzt Paula missbilligend, weil ich die offensichtlichen Zusammenhänge einfach nicht verstehen will.

Ich seufze. Nahezu bildhaft kann ich mir den Ablauf der Stunde vorstellen und mein Verständnis für die Kollegin wächst und wächst. Fachunterricht bei den Erstklässlern so kurz vor den Ferien ist nicht unbedingt die reine Freude.

„Aber warum ist die Frau Rimsky-Korsakov auch immer so streng mit uns?“, wundert sich Ole. „Wir machen doch gar nix!“

Ich erkläre den Erstklässlern, dass Unterrichten anstrengend ist. Gerade, wenn man eine Klasse nur selten sieht. Dass man als Lehrerin manchmal das Gefühl hat platzen zu müssen, wenn wieder eine Störung kommt. Und noch eine und noch eine. Besonders so kurz vor den Ferien.

„Also mein Papa sagt ja, dass Lehrer viel zu viele Ferien haben!“, gibt Nick zu bedenken.

„Warum hast du so viele Ferien, Frau Weh?“

„Damit ich nicht platzen muss.“

Wider die Langeweile!

„Und wann gibt es mal richtigen Unterricht?“, fragt die Schülerpraktikantin mit nur mühsam unterdrückter Schwunglosigkeit.

Ich blicke von dem Stapel Mathehefte auf, den ich gerade durchsehe, und schaue mich in der Klasse um. Die Erstklässler ergießen sich über Stühle, Bänke und den Boden. Einige sitzen im Flur oder im Treppenhaus und schaffen ordentlich was weg. Wir sind bei Countdown 6 vor den Ferien angelangt und die Tatsache, dass ich zu meinen eigenen drölfzilliarden Schülern noch eine gelangweilte Sechzehnjährige auf’s Auge gedrückt bekommen habe, um die ich mich kümmern muss, erfüllt mich nicht unbedingt mit innerlichem Halleluja. Allerdings komme ich nicht umhin, dem benachbarten Gymnasium für die hervorragende Zeitplanung Respekt zu zollen. Was für eine geschickte Idee, die gesamte Stufe 11 in den letzten zwei Schuljahreswochen ins Praktikum zu schicken. Da läuft ja eh nix mehr, oder wie war die landläufige Meinung dazu?

Hier läuft allerdings noch eine ganze Menge. Allein, man sieht es nicht auf den ersten Blick. Die Erstklässler (zumindest die meisten) arbeiten nämlich selbstständig so vor sich hin. Mit unserem Stoff sind wir durch, jetzt wird nur noch vertieft und – ja, ich gebe es zu – weggearbeitet, was ich im Überschwang zu viel kopiert habe, derweil ich akribisch jedes Arbeitsheft noch einmal auf eventuelle Lücken durchgehe. Hier kommt nichts weg!

Aber Madämchen würde gerne richtigen Unterricht sehen. Dass ich es überhaupt zulasse, mich darüber zu ärgern, zeigt, dass auch ich ganz langsam ferienreif werde. (Schon seit Tagen läuft in meinem Kopf übrigens I’m Going Slightly Mad in Endlosschleife. Muss ich mehr dazu sagen?) Dabei ist das nicht nur unreif von mir, sondern auch ungerecht. Man überlege kurz einmal, wie man selber so war mit 16 … ähm, genau. Das war das Alter, in welchem man bei morgendlichen Schwindel nicht dachte Uh, ist mir schwindlig!, sondern Hui, alles dreht sich um mich! Das muss so, das soll so sein, Beschwerden bitte ans Kleinhirn, Abteilung Entwicklung, danke. Also jetzt Unterricht. Na gut.

„So, ihr Lieben, alle mal in den Kreis kommen!“

Je nach Verfassung und Gemütszustand schlurfen oder stürzen sich die Erstklässler in die Raummitte, balgen sich kurz um die besten Plätze (direkt neben mir oder aber ganz weit weg) und harren erwartungsvoll der Dinge. Lediglich Ramon fällt fröhlich hintenüber von der Bank, was niemand weiter kommentiert und mit einem Kühlpack schnell behoben wird. Ich frage in die Runde, wer sich womit beschäftigt hat und ob jemand seine Arbeit an der Tafel vorstellen möchte. Dilara, Filiz und Merve melden sich als erste und dürfen nach vorne. Kurz bilden sie ein aufgeregt flüsterndes Grüppchen, nicken dann und schauen erwartungsvoll zu uns herüber.

„Wir haben was mit ganz schwierigen Wörtern gemacht“, erzählt Merve, „und das machen wir jetzt auch mit euch.“

Filiz hüpft ein wenig auf der Stelle – es ist so aufregend an der Tafel! – und zeichnet dann hochkonzentriert sechs Striche.

„Galgenmännchen!“

jubeln die Erstklässler und freuen sich des Lebens. Noch einmal so begeisterungsfähig sein wie mit sieben Jahren! Es wird gerätselt und geraten, ausprobiert und buchstabiert bis das korrekte Lösungswort endlich an der Tafel erscheint. (Es war übrigens Ananas. Ich wünsche mir auch bald mal wieder eine. Am liebsten in weißem Rum badend und mit Schirmchen.) Tosender Applaus kommt auf, verbunden mit dem unweigerlichen Geschrei, das immer dann ertönt, wenn es um die Auswahl einer Nachfolge geht. Doch Filiz lässt sich nicht erweichen und spricht mit unerschütterlicher Miene die einzig wahren Worte:

„Ich nehme das allerleiseste Kind dran!“

Wen wundert es da, dass die Wahl auf die phlegmatische Schülerpraktikantin fällt? Überrascht, aber erfreut, tritt diese auch sogleich zur Tafel, überlegt kurz und zieht ihre Striche. Es sind 20. Die Erstklässer staunen und ich bemerke, wie manch kleiner Kosmos ins Wanken gerät.

„Gibt es so lange Wörter?“, haucht Finja beeindruckt und ich sehe, wie die Praktikantin ein Stückchen größer wird.

„Oh ja!“, sagt sie, „Und noch viel längere. Aber die müsst ihr erst noch alle lernen.“

In den kommenden Minuten haben alle Spaß. Die Praktikantin, weil sie merkt, wie toll Nicht-Unterricht sein kann, die Erstklässler, weil sie sich für Kniffligkeiten begeistern können und ich, weil ich mich darüber freue, dass die Buchstabenkombination E-R-N-S-T-L auch 13 Jahre nach dem letzten Dreh des Glücksrads noch funktioniert.

S _ _ _ E R _ E R _ E N    S _ N _    T _ L L

Obwohl die Praktikantin am Ende gleich von mehreren Schülern dafür gerügt wird, dass das ja gar nicht ein Wort, sondern drei sind, strahlt sie noch am Ende des Vormittages und bedankt sich artig für den schönen Tag. Allerdings kann ich ihr gar nicht richtig antworten.

In mir singt es so laut.

I think I’m a banana tree
Oh dear, I’m going slightly mad
I’m going slightly mad
It finally happened, happened
It finally happened uh huh
It finally happened I’m slightly mad – oh dear!

Hallo, ihr Kellerkinder!

Dass meinen Lippen statt des in dieser Situation deutlich angemesseneren Fluchs lediglich ein sanftes Seufzen entweicht, als die Türe des Schulkellers mit einem satten Flopp! hinter mir ins Schloss fällt, mag dem vorausgegangenen Vormittag geschuldet sein. Dieser war imperativ-mies. Zweifelhaftem Lehrerverhalten ging zweifelhaftes Schülerverhalten voraus und umgekehrt. Ein Schultag voller in Befehlsform geäußerter Hoffnungslosigkeit meinerseits, die auf völlige Ignoranz bei den Erstklässlern stieß. Mittelschwere Unfälle zwischen Milchflasche und Mensch inbegriffen. Die kleinen Dramen des Grundschulalltags in voller Blüte. Würde man diesen Morgen in Reimform bringen, man müsste sich des Trochäus bedienen. Denn den mochte ich schon früher nicht.

Nun also noch die geschlossene Kellertür.

Man sollte meinen, dass das Vorkommen von Türen, die sich nur von einer Seite (seltsamerweise immer der anderen) öffnen lassen, dem Horrorfilmgenre vorbehalten sei. Aber nein, Überraschung, auch unsere Schule verfügt über eine solche. Deswegen liegt neben der Türe auch ein Keil. Vielleicht kann ich es den vergangenen Stunden in die Schuhe schieben, vielleicht auch dem nahenden Schuljahresende, jedenfalls habe ich mich selber eingesperrt und das zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Weit nach der 6. Stunde ist nämlich niemand mehr im Haus und die Reinigungskraft kommt erst am Abend. Freude, schöner Götterfunken! Da ist es ein Segen, dass ich zumindest mein Handy dabeihabe, um Hilfe kommen zu lassen. Es ehrt unseren Hausmeister, dass er nur kurz auflacht, als ich ihm meine Misere schildere. Unglücklicherweise befindet er sich auf dem städtischen Betriebshof und braucht wenigstens noch 40 Minuten, bevor er mich aus dem Keller herausholen kann.

Einigermaßen beruhigt schiebe ich das Handy in die Hosentasche und schaue zur Gewölbedecke, an der doch tatsächlich eine einsame Glühbirne hängt. Immerhin flackert sie nicht, doch die Spinnweben, die überall um mich herum hängen, lassen die Szene schon wieder so klischeehaft wirken, dass es in einem Film eindeutig schlechte Kritiken hageln würde. Ein kaltes Lüftchen zieht über meine Oberarme, was mir prompt eine Gänsehaut beschert. Ganz schön frisch hier! Ich wandere ein wenig zwischen großen Kartons voller Sanitärutensilien herum und staune darüber, dass sich im Regal 37 Klobürsten stapeln. Gibt es da Sammelbestellungen für? Im dahinter liegenden Raum befindet sich die Lehrmittelsammlung, wegen der ich mich überhaupt hier unten aufhalte. Ich suche nämlich die Box mit den Magneten. Selbstredend ist diese nicht vorhanden. Dafür finde ich eine ganze Schachtel Klebeband (eingesackt!), vier leere Holzkästchen in perfekter Größe (eingesackt!) und eine Hasenmaske aus Pappmaché (vorgemerkt für Ostern!). Außerdem tonnenweise Weihnachtsdekoration, Bierdeckel, leere Marmeladengläser, hoppla, noch mehr Bierdeckel und ausgeblichene Krepppapierblumen. Da liegen Feierlaune und Festtagsstimmung gleich neben Muff, Gilb und Grabbel. Und der Geruch erst! So eine Mischung aus klassischer Bildung und Moder. Ich nehme einen tiefen Atemzug. Hier kann man die Historie unseres Bildungswesens noch mit allen Sinnen erfahren.

Nach 20 Minuten des Herumstreunens wird es mir etwas langweilig.

Und hungrig.

Und kalt.

Ist aber auch blöd, das Ganze!

Da erscheint mir plötzlich die Schulpsychologin aus der Fortbildung: „Entspannen Sie sich im Alltag, wann immer sie können!“

Gut, denke ich, dann mach ich das jetzt mal. Ich lasse mich auf einen in die Jahre gekommenen Thron neben der Türe plumpsen, der offenbar einmal als Requisite in einer Märchenaufführung gedient haben muss, und lasse ganz entspannt den Blick schweifen, der unerwartet von einem Pferdekopf an der Wand gegenüber erwidert wird.

HUUUU!

Jetzt habe ich mich aber doch erschreckt! Leicht peinlich berührt hüpfe ich von meinem Sitz herunter, um mir den Kopf einmal genauer zu betrachten. Auch dieser ist aus Pappmaché hergestellt und innendrin hohl. Mir ist nicht ganz klar, warum die Maske grün angestrichen ist, aber die Herstellungsart zeugt von Qualität. Ich setze mir den Pferdekopf testweise auf und probe ein dumpfes Wiehern. Gar nicht mal schlecht, denke ich, als ich den Schlüssel im Schloss der Kellertüre höre. Noch mit dem grashüpfergrünen Pferdekopf angetan drehe ich mich um, höre einen Schrei und dann – Mistmistmist! – das altbekannte Flopp!

Ich ziehe mir die Maske ab und bin mindestens genau so überrascht wie die Kollegin, die mir gegenübersteht. (Allerdings bin ich nicht so blass und fasse mir auch nicht aufs Herz.) Ich entschuldige mich ganz zerknirscht vieltausendmal für den Schrecken, den ich ihr eingejagt habe und es ist sicher nicht sehr nett, dass ich sie dafür rüge, den Keil nicht unter die nun erneut zugefallene Kellertüre geschoben zu haben. Aber ich habe jetzt wirklich Hunger und es ist empfindlich kalt hier unten! Kälte und Hunger, das lässt das wahre Ich zum Vorschein kommen und meines ist – ich muss es zu meiner Schande gestehen – in diesem Falle nicht besonders leidlich. Die nächsten 30 Minuten vertreiben wir uns mit dem Austausch kollegialer Informationen („Die Magnete befinden sich im Lehrerzimmer.“ „Ja, Klebeband habe ich hier irgendwo gesehen.“ „Guck mal, wie viele Klobürsten!“) und dem Bau eines Bierdeckelhauses. Ihres wird größer, wahrscheinlich ist die Kälte Schuld. Um nicht völlig zu erstarren, greifen wir uns eine Klobürste und geben eine Version von We are the champions zum Besten, die ihresgleichen sucht. Trotzdem sind wir beide sehr froh, als endlich der Hausmeister seinen Kopf durch den Türspalt schiebt und ein fröhliches „Hallo, ihr Kellerkinder!“ herunterschickt.

Ich bedanke mich bei ihm mit einem herzlichen Niesen und einer frisch eingesungenen Klobürste.

Gegen Ende des Schuljahres werden wir eben alle ein bisschen gaga.

 

Lehrergesundheit

„Und woran glaubst du?“, fragt mich die Kollegin lustlos und tippt mit ihrem Kugelschreiber auf dem Block herum.

Wir befinden uns mitten in einer lehrergesundheitsfördernden Fortbildung mit einer angegrauten Schulpsychologin, die zwar für alles Verständnis, aber für nichts eine Lösung hat. Sie spiegelt und bestärkt uns, nickt wissend und gütig ob der vielzähligen Ansprüche, die auf uns herabregnen, kann uns aber nichts bieten außer Allgemeinplätzen und Tipps, die in jeder Frisörzeitschrift zu finden sind. Und jetzt auch noch Partnerarbeit. Gemeinsam sollen wir nach dem suchen, was uns hält. Ganz toll.

Gesprächsfetzen dringen an mein Ohr. Die Kolleginnen um uns herum glauben wahlweise an das Gute im Menschen oder den Lernwillen jedes Kindes. Erwartungsgemäß mustergültig. Ich will nach Hause.

„Und?“, dringt die Stimme meiner Kollegin an mein Ohr.

„Ich glaube an guten Sex“, antworte ich im Brustton der Überzeugung.

„An guten Sex und an Schokolade. Beides finde ich gleichermaßen wichtig, wobei ich ehrlicherweise anmerken muss, dass ich von einem der beiden etwas zu viel und vom anderen etwas zu wenig habe.“

Die Kollegin reißt ungläubig die Augen auf. Offensichtlich hatte sie mich auch dem mustergültigen Antwortstyp zugerechnet.

„Tatsächlich ist es so, dass ich das eine deutlich besser in meinen Alltag integrieren kann. Während beim anderen … tja, das ist echt manchmal schwierig mit der Zeitplanung! Ich hab Familie, weißt du? Abends bin ich SO müde, das kann sich kein Mensch vorstellen! Und jetzt, in der Heuschnupfenzeit ist das noch viel schlimmer. Die Allergietabletten mähen mich regelrecht nieder. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich in Konferenzen mit offenen Augen geistig irgendwo im Nirwana spaziere. Und morgens? Pfff! Mein Wecker reißt mich um 5.30 Uhr aus dem Tiefschlaf, das ist schon genug Interruptus. Schokolade hingegen steht ständig zur Verfügung und bewegen muss man sich auch nicht dabei.“

Mit einer Mischung aus Grunzen und Schnauben prustet die Kollegin ihre Erheiterung lautstark in den Raum. Sofort wenden sich uns neugierige Augenpaare zu. Leider nimmt auch die umherwandelnde Schulpsychologin unmittelbar Kurs auf unser fröhliches Stelldichein.

„Und?“, fragt sie in dieser großmüttelichen Gütigkeit, die mir schon seit 85 Minuten auf die Nerven geht. „Sie kommen gut voran, wie ich höre. Was haben Sie gefunden, das sie hält?“

Eine leichte Röte zieht mir die Wangen hinauf. Wann lerne ich dummes Huhn eigentlich endlich, mich in Gesellschaft angemessen zu verhalten? Ich möchte sofort im Boden versinken. Da kommt mir meine Kollegin zu Hilfe und stammelt unter Glucksen eine Antwort: „Bei der Stange. Toblerone. Also Stange. Frau Weh braucht regelmäßig … Schokolade und so.“

Die Kollegin japst kläglich nach der Luft, die ich gerade anhalte. Doch die Schulpsychologin ist begeistert und klatscht in die Hände: „Hören Sie zu, meine Damen, wir haben hier einen ganz wichtigen Aspekt: Die Sorge um sich selber! Seien Sie gut zu sich! Genießen Sie!“

Sich selber mitreißend wallt die Psychologin vor unseren Augen auf und ab, wirft die Arme in großer Geste und bestärkt uns wortgewaltig in unserem kläglichen Bemühen gut zu uns selber zu sein. Sie scheint sich zu vergrößern, zu verdoppeln, nein – sie bläst sich nahezu übermenschlich auf vor Überschwang. Schokolade, Yoga, Relaxen in der heißen Badewanne! Ein wahres Potpourri der Möglichkeiten schwirrt im Raum. Alles scheint ein erwägenswerter Weg zur Erleuchtung zu sein.

„Ich möchte auf der Stelle sterben!“, raunt mir die Kollegin zu, über deren Wangen nun Tränen fließen im verzweifelten Bemühen, das Lachen zu unterdrücken. Ich nicke stumm, während ich staunend Zeugin einer verbalen Erruption allererster Güte werde. Was für ein Geschwafel!

Noch völlig ergriffen von der Gewalt der eigenen Worte blickt die Schulpsychologin auf ihre Uhr und verkündet eine kleine Pause. Es war nun doch ein wenig anstrengend, nicht wahr?

„Lust auf einen Kaffee in Freiheit?“, fragt mich die Kollegin.

Wenig später sitzen wir in einem kleinen Café und schütteln gemeinsam die Köpfe über die unsinnige Veranstaltung. Eine von so vielen unsinnigen Veranstaltungen! Wir reden über den Job, die Familie und die Unmöglichkeit allem gerecht zu werden. Über Schokolade reden wir übrigens nicht. Die essen wir.

P.S. Ich weiß, dass Schokolade keine Probleme löst.

Aber das tut ein Apfel ja auch nicht.

 

Alles auf Anfang

Ich würde gerne schreiben, dass alles klappt.

Schreiben, dass alles kein Problem ist und Ramon in mir die verständnisvolle Lehrerpersönlichkeit gefunden hat, die er offensichtlich all die Zeit gesucht hat. Dass wir uns in die Augen geblickt haben voller gegenseitiger Wertschätzung und Wärme und wie durch Zauberhand ein ganz neues Kind unsrer Mitte entschlüpfte wie der bunte Schmetterling dem hässlichen Kokon. Aber der Schulalltag ist kein pädagogisches Wunschkonzert und grundlegende Metamorphosen daher eher selten. Tatsache ist: Ramon stört. Den Unterricht. Die Mitschüler. Mich.

Ich schrieb beim letzten Mal, dass ich mich nicht teilen kann. Jetzt weiß ich, dass ich das gar nicht muss, Ramon bündelt nämlich meine Aufmerksamkeit. Es ist ein wenig so, wie diese Szene im ersten Harry Potter Film: Hagrid ist mit dem kleinen Windelpuper Harry unterwegs durch die Lüfte und Professor Dumbledore trifft Vorbereitungen im Ligusterweg. Dazu zieht er so ein kleines Dings aus der Tasche, eine Art umgekehrtes Feuerzeug. Mit diesem Entleuchter zieht der Zaubermeister flupp flupp flupp das Licht aus den Straßenlaternen und hinterlässt nichts als nächtliches Dunkel. So geht es mir mit meinem schülerzentrierten Weitblick. Ramon schmeißt seine Sachen vom Tisch flupp! Ramon nennt Ole einen alten Wichserarschficker flupp! Ramon friemelt alle Tagestransparenzschilder von der Tafel uuuund … flupp!

Die anderen Erstklässler nutzen das so entstandene schwarze Loch und treiben allerlei Schabernack. Was Erstklässler eben so tun, wenn sie sich herrlich unbeobachtet fühlen. Sie krakeln auf den Tischen herum, halten ein Schwätzchen mit dem besten Freund (auch wenn er auf der anderen Seite des Klassenraumes sitzt) oder beschäftigen sich mit dem wahrhaft wichtigen Dingen des Lebens. Frühstück, Klogang, ein Nickerchen. Einige wenige machen mit bei diesen so herrlich aufregenden Störmöglichkeiten, die ihnen der neue Schüler präsentiert. Obwohl nein … eigentlich haben sie es nur einmal gemacht. Dann habe ich Ramon mit einem dringenden Auftrag zum Chef geschickt und ein ernstes Gespräch mit den Erstklässlern geführt. So eines von Kuchen zu Krümeln. Danach war Ruhe.

Es ist nicht so, dass Ramon und wir nur schlechte Momente hätten. Nein, es gibt auch die guten. Wenn er während der Freiarbeit ehrfürchtig über das Star Wars Lexikon streicht und fragt, ob er das jetzt wirklich lesen dürfe. Wenn er fragt, ob er am nächsten Tag eine Stunde länger bei uns bleiben könne. Wenn er auf seiner Verhaltensliste den vierten lachenden Smiley eingetragen bekommt und staunend erzählt, dass er so viele noch nie hintereinander hatte. Dann denke ich, dass wir vielleicht doch eine winzigkleine Chance haben, wenigstens den Hauch einer winzigkleinen Chance, das Atom eines Hauchs einer winzigkleinen Chance. Und dann tritt er in der Pause einem Zweitklässler mit voller Wucht gegen die Brust. Weil der ihn so angeguckt hat.

Und wir sitzen zusammen auf der Büßerbank und reflektieren. Und schweigen. Und wissen eigentlich doch beide nicht weiter. Nicht Ramon, weil er eben ein Kind ist mit einem gnadenlos vollgepackten Rucksack voller größerer und kleinerer Probleme. Und nicht ich, weil ich eben nur Frau Weh mit einem gnadenlos vollgepackten ersten Schuljahr bin und keine Sonderschullehrerin. Und wir schweigen und schweigen und schweigen. Bis Ramon leise fragt, ob er trotzdem bei uns bleiben dürfe. Aber er guckt mich nicht an dabei, denn Blickkontakt halten, das kann er nicht. Und ich schiebe ihm meine Hand hin und er greift sie. Denn irgendwas zum Festhalten braucht man eben manchmal.

Aber die wahrhaft Großen im Moment, die, die verzeihen und verstehen können, das sind die Erstklässler. Das ist Lilly, die dem verweigernden Ramon im Matheunterricht mit Engelsgeduld erklärt, dass auch er nun arbeiten müsse, denn schließlich machen das alle. Das ist Marc, der im Kreis sitzt und erklärt, dass es für Ramon ja auch viel schwerer wäre als für alle anderen. Schließlich müsse er jetzt auf einmal alle Regeln behalten, für die die Erstklässler immerhin fast ein ganzes Jahr Zeit hatten. Das ist die ganze Klasse, die Ramon nach der ersten gemeinsamen Woche die gereckten Daumen als Zeichen der Rückmeldung entgegenhält, woraufhin dieser rot anlaufend unter der Bank verschwindet. Es sind diese kleinen Momente, die hoffen lassen.

Und dennoch …

Ramon

„Alleine essen macht dick!“

Mit einem Lächeln setzt sich unsere Schulsozialarbeiterin neben mich an den großen Tisch im Lehrerzimmer.

„Ich wünschte, ich hätte mehr in Kalorien investiert.“, antworte ich und schiebe ihr eine Dose mit Kohlrabi und Möhrenschnitzen zu. „Das hilft nicht.“

Sie nimmt sich eine Möhre. „Das ist eben nicht so gelaufen, wie du wolltest.“

Sie fragt nicht, sie stellt fest. Ich nicke. Eigentlich bin ich mit der festen Absicht in die Förderkonferenz gegangen, ordentlich Rabatz zu machen und deutlich mitzuteilen, dass ich dagegen bin, einen hochauffälligen Schüler aus dem zweiten Schuljahr in mein Rudel aufzunehmen. Von wegen Recht auf dreijährigen Verbleib in der Schuleingangsphase, das Kerlchen hat extremen Förderbedarf im Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Der sprengt mir den Unterricht. Genau wie er es die letzten zwei Jahre in der anderen Klasse gemacht hat. Der ist nicht Schüler Nummer 31, der ist Nummer 31 bis 38. Nicht, dass ich eine Wahl hätte. Bis ein eventuelles AO-SF durch ist, kommt er zu mir und den Erstklässlern, da ist nicht dran zu rütteln. Ich mache mir Sorgen. Sorgen um die Ruhe in der Klasse, um die Lernatmosphäre, um die Kinder. Um mich.

Und dann wurde ich Zeugin, wie seine Mutter schrumpfte. Nicht so richtig, eher so im übertragenden Sinn. Nach dem deutlichen Statement der Klassenlehrerin war sie noch einigermaßen gefasst. Auch nach dem niederschmetternden Bericht der Fachlehrer ging es noch. Als dann aber die Schulpsychologin, die Leiterin des Offenen Ganztags und der Fachmann von der Erziehungsberatung vom Leder ließen, war sie nur noch halb so groß. Höchstens. Sie hielt die Tischkante umklammert und presste die Lippen aufeinander, als sich unsere Blicke kreuzten und sie sofort den Blick niederschlug. Wie ein geprügelter Hund, ging es mir durch den Kopf. Scheiße.

Da kriegst du ein Kind und sofort beginnt die Maschinerie der Einordnung: Apgar-Werte, U1, U2 und so fort. Wenn alles gut läuft, prima. Und was, wenn nicht? Wie fühlst du dich, wenn das Wesen, das du geboren und schon geliebt hast, bevor es dir zum ersten Mal in die Arme gelegt wird, keine Spitzenwerte erzielt? Auffälligkeiten zeigt? Vielleicht sind es körperliche Defizite, dann arbeitest du dran, mit Ergo-, mit Logo- oder anderen Therapien. Du besuchst das SPZ, ernährst dein Kind glutenfrei oder führst die Beikost streng nach Plan ein. Du kannst handeln. Wie aber fühlst du dich, wenn dir vom ersten Besuch der Krabbelgruppe an gesagt und – schlimmer noch – direkt und indirekt gezeigt wird, dass dein Kind unsozial ist? Dass es aggressiv ist und – ganz sicher! – unerzogen. Dir wird mindestens eine Mitschuld gegeben und irgendwann kommt der Punkt, an dem du dich auch schuldig fühlst, denn all die anderen können sich ja nicht irren. Als Mutter versagt. Wie fühlt sich das an?

Der Chef blickt mich auffordernd an, ich bin dran. Meine Aufgabe ist definiert, ich soll der Mutter unmissverständlich klarmachen, dass ihr Sohn bei den Erstklässlern falsch aufgehoben ist. Weil es bereits zu viele so viele sind. Weil er nicht im Ansatz die Aufmerksamkeit von mir bekommen kann, die er benötigt, um lernen zu können. Weil ich mich verdammt nochmal nicht teilen, nicht aufspalten, nicht klonen kann. Weil er mehr Förderung braucht, als wir ihm an einer Regelschule angedeihen lassen können, Inklusion hin oder her. Sie muss einen Antrag auf Überprüfung sonderpädagogischen Förderbedarfs stellen. Denn als reiner Schulantrag ohne die Unterschrift der Eltern landet dieser beim Schulamt auf direktem Wege in Ablage P.

„Hat Ramon Ihnen erzählt, dass ich ihm einen Sondereinsatz aufgetragen habe?“ Die Mutter hebt den Blick und schaut mich fragend an. „Er ist mein Pausenkaffeedienst. Wenn ich Aufsicht habe, schicke ich ihn mit einer Tasse auf Kaffeemission. Drei Treppen hoch und drei Treppen runter. Mit Milch und ohne Verschütten. Er macht das großartig!“ Ich lache sie an. „Er ist total eifrig und schafft mittlerweile schon eine halbe Tasse zu mir zu bringen. Dann klatschen wir uns ab und verraten niemandem, woher die Pfützen auf der Treppe stammen. Tut mir leid“, sage ich zu meinem Chef gewandt, „aber das kommt jetzt bitte nicht ins Protokoll, das ist unser kleines, dunkles Geheimnis.“

„Doch“, antwortet die Mutter, „er hat von Ihnen erzählt, Frau Weh. Er mag sie.“

„Ich mag ihn auch.“ Eine kleine Pause entsteht. „Sie machen sich Sorgen, oder? Die mache ich mir auch. Die große Klasse ist nicht gut für ihn. Und gerade deswegen müssen wir einen Weg finden. Egal, wie Sie sich weiter entscheiden. Mein Vorschlag ist, dass wir uns ganz kleine Schritte vornehmen. Jetzt ist erst einmal nur wichtig, dass wir Ramon integrieren und zu einem Teil der neuen Klasse machen. Alles andere besprechen wir, wenn es soweit ist. Und ohne Ihnen allen auf den Schlips zu treten“, ich blicke in die Richtung, in der die Inquisition Schulpsychologin und der Erziehungsberater hinter ihren Tassen sitzen, „aber wir machen das lieber im kleinen Kreis. Der Antrag auf dreijährigen Verbleib ist eingereicht, offiziell sind wir doch jetzt hier fertig, oder?“ Als sich das Lehrerzimmer geleert hat, ist es still im Raum.

„Wie fühlen Sie sich jetzt?“, frage ich die Mutter. Sie zuckt mit den Schultern und weint leise.

„Hat Ramon bei Ihnen eine Chance?“

Ich überlege, hat er wirklich eine?

„Es ist ein Neuanfang. Wir müssen abwarten und aufmerksam bleiben.“

Wir besprechen die nächsten Tage, klären Material und Verstärkerplan ab. Ich bekomme die Nummer der Hausaufgabenhilfe zum baldigen Vorgehensabgleich und legen einen neuen Gesprächstermin fest.

„Raten Sie mir auch zum Antrag für die Förderschule?“

Alles in mir schreit ja.

„Was wünschen Sie sich für Ihren Sohn?“, frage ich zurück.

„Dass er eine richtige Chance hat und nicht alle immer sagen, ah, das war doch der Ramon! Immer ist es der Ramon!“ Sie zerknüllt ihr Taschentuch in der Hand. „Ich weiß, dass mein Sohn nicht einfach ist. Das war er nie.“ Sie weint wieder. „Aber er ist auch ein toller Kerl!“

Wieder wird mir bewusst, wie schwer es ist, die Stärken eines Kindes nicht aus den Augen zu verlieren, wenn die Schwächen so viel auffälliger sind, sich in den Vordergrund drängen und laut ihr Vorrecht herausbrüllen. Und doch können wir nicht immer das einzelne Kind im Blick haben. Mein Gott, ich habe Verantwortung für 30 Schüler! 30 Kinder, in all ihrer Individualität! Alle haben ein Recht auf Bildung und Erziehung, ja, auch auf Schutz vor den Ramons dieser Welt. Ich schlucke und versuche meine Ängste und Bedenken, die Gedanken an Sturm laufende Miteltern und eskalierende Gruppendynamik zu verdrängen und nicke Ramons Mutter zu. Die Entscheidung ist gefallen.

„Wir versuchen es.“

Als die Mutter gegangen ist, lege ich den Kopf auf die Tischplatte und schließe die Augen. Haben wir wirklich eine Chance?