Krankmeldung

Eltern- Email:

Hallo Frau Weh,

eben ist Jannik mit fast 40 Fieber aus der Schule gekommen!!! Hat er denn nichts gesagt??

Grüße, Mutter von Jannik

Was ich lese:

Hallo Frau Weh,

mein Kind ist ganz schrecklich krank! Warum hast du nicht mitbekommen, dass es meinem Fleisch und Blut so schlecht geht, du blöde Kuh, häh? Erklär das jetzt mal!

Am liebsten keine Grüße, aber muss ja

Mutter von Jannik

Was ich spontan antworten möchte:

Hallo, Mutter von Jannik,

ist es nötig, ein Kind, das bereits beim Frühstück über Kopfschmerzen und Unwohlsein klagt, unbedingt in die Schule zu schicken, wenn man selber zu Hause ist? Muss das Kind an einem solchen Tag dann wirklich nach dem Unterricht noch in die OGS? Und bin ich tatsächlich die Schuldige an der Situation, weil ich mich, nachdem ich dem Kind einen nassen Waschlappen auf die Stirn legte, ihm etwas zu trinken brachte und ihm sagte, er solle mich informieren, wenn es schlimmer würde, wieder den 29 anderen Kindern in der Klasse zuwandte? Ehrlich?

Ach, pick mich doch am Bürzel! Grüße (muss ja) von der genervten Weh

Was die Mutter (vermutlich) meint:

Hallo Frau Weh,

Jannik ist krank, ich mache mir Vorwürfe, dass ich ihn trotz Unwohlseins heute in die Schule geschickt habe Sorgen. Hätten Sie mich vielleicht benachrichtigen sollen, damit ich ihn hätte abholen können?

Grüße (ich hatte leider gerade situationsbedingt zu viel um die Ohren um noch freundlich oder lieb zu schreiben)

Mutter von Jannik

Was ich (natürlich) antworte:

Liebe Mutter von Jannik,

oje, der arme Kerl! Jannik klagte in der 3. Stunde über Kopfschmerzen, meinte aber, dass er durchhalten könne. Nach dem Unterricht ist er in die Pause geflitzt. Bestellen Sie ihm gute Besserung und liebe Grüße! Er soll sich gut erholen und schnell wieder gesund werden. Die Hausaufgaben gebe ich morgen Lisa mit.

Alles Gute!

Frau Weh

 

Nur zwei drei Gedanken dazu:

  1. Ein Hoch auf gesittete Schriftkultur!
  2. Der Einsatz mehrerer Satzschlusszeichen in Folge sollte verboten werden.
  3. Ich bin ganz entspannt, ich bin ganz entspannt, ich bin ganz entspannt, ich bin …

 

Mouches volantes

Es ist mitten im Matheunterricht, als mich der so dramatisch wie schreckliche Verdacht ereilt, mit meinen Augen könnte etwas nicht stimmen. Kleine schwarze wandernde Minipünktchen sehe ich schon seit einiger Zeit – vor allem beim Lesen oder am Bildschirm – , aber laut Augenarzt stellen sie keinen Grund zur Besorgnis dar. Diese als kleine Fliegen oder Mücken bezeichneten Glaskörperflocken seien oft eine Frage des Alters. Jetzt allerdings ist der schwarze Punkt, der sich plötzlich auf der Seite des Mathebuchs zu tummeln scheint, nahezu riesig und bewegt sich flüssig von links nach rechts. Mit dem linken Auge kann ich keine Aufgabe mehr entziffern. Leichte Panik überkommt mich, die ich eindeutig schon zu viele Arztserien gesehen habe, in denen Sehstörungen grundsätzlich ein Alarmsignal für rasant aufkommenden Verfall darstellen. Meist stirbt der oder die Betroffene dann im Laufe der Folge, wenigstens aber fällt er in den nächsten Sekunden um und wacht im OP-Hemdchen wieder auf. Ok, manchmal gibt es auch eine dramatische Rettung in letzter Sekunde, aber die heutigen Arztserien haben mit der kitteligen Wohlfühlatmosphäre vergangener Zeiten einfach nichts mehr gemein. Buchte man früher die Genesungsgarantie bei der Wahl der Fernsehserie gleich mit, so fällt der Verdacht heute fast immer auf Lupus oder Sarkoidose. Das erledigt sich nicht mal eben in 45 Minuten.

Jetzt mal ganz ruhig bleiben, Frau Weh, denke ich und schließe das betroffene Auge für einen Moment. Als ich es wieder öffne, ist der schwarze Fleck verschwunden und ich atme erleichtert auf. Ein kurzer – nun wieder scharfer – Blick zeigt mir, wie weit die Hausaufgabenkontrolle bereits gediehen ist und ich konzentriere mich wieder auf das Einmaleins der 6, dessen Blitzaufgaben gerade von Dilara vorgetragen werden.

„Oh nein!“, entfährt es mir da plötzlich. Der schwarze Fleck ist wieder da, größer noch als eben und auf einmal vor dem rechten Auge. Jetzt kriege ich tatsächlich Panik. So schlimm war der Elternsprechtag doch gar nicht, dass ich jetzt mit ernsthaften Schwierigkeiten rechnen müsste!? Was, wenn …?

Die Zweitklässler, vom Schrei alarmiert, blicken von ihren Mathebüchern auf und zu mir hin.

„Frau We-he?“, sagt da die vor mir sitzende Michelle mit schief gelegtem Kopf und zusammengekniffenen Augen, „da geht eine kleine Fliege auf deiner Brille spazieren!“

Was? Wie?

Ich nehme die Brille ab und sehe tatsächlich eine kleine Fruchtfliege, die offenbar leicht nervös über das Glas huscht. Hmmja. Peinlich berührt puste ich das Tierchen herunter und räuspere mich ins Kichern der Kinder hinein.

„Dann machen wir mal weiter, ja?“

Richtige Zeit, richtiger Ort

Ich klebe ein weiteres Foto in die Kladde, in der ich chronologisch die Bilder verwahre, die der Schulfotograf Jahr um Jahr erstellt. Dieses Jahr bin ich rundum zufrieden: Zwar werden meine Augen irgendwie immer kleiner und die Anzahl der Fältchen drumherum immer mehr, aber jede Sommersprosse sprüht gute Laune. Das Lachen ist ein echtes, wenn auch mit ein wenig Spott in den Mundwinkeln. Aber wie soll man auch schauen, wenn der Fotograf einem zuruft, man möge doch bitte kurz den Schalk aus dem Bild schubsen? Mein Kopf sitzt ein bisschen schief, meine Haare sind wild und meine Nase …, ach nein, meine Nase ist prima! Vielleicht hätte ich auf den Wangen ein bisschen mit dekorativer Kosmetik nachhelfen sollen, aber nenn mir bitte jemand das Produkt, das auch nach sechs Stunden Unterricht noch den Teint zart beglimmert! Vermutlich hilft da nur Spachtel. Wie gesagt, ich bin dieses Jahr total zufrieden und freue mich darüber, dass es gelungen ist, diese Freude, diesen Spaß am puren Sein auf Papier zu bannen. Gute Zeit gerade.

Auch das Klassenfoto gefällt mir. Waren die Blicke einiger Kinder vor einem Jahr noch ein wenig skeptisch, so grinsen mir nun zahnlückende Zweitklässler ungehemmt entgegen. Alle strahlen und sehen so quietschfidel aus, dass man sie vom Schulhof weg für Vitaminwerbung casten könnte. Finn macht Mätzchen, aber was wäre ein Klassenfoto ohne wenigstens eine schiefe Grimasse aus der hintersten Reihe? Schön, dass ich gerade diese Klasse erwischt habe.

Ich schreibe die Namen der Kinder unter das Bild, notiere ein paar Sätze zur Klassensituation und freue mich am Moment. Richtige Zeit, richtiger Ort.

Elternsprechtag

Elternsprechtag: Speeddating mit ungewissem Ausgang oder die Kunst, enorm viele Gespräche zu führen ohne den Verstand zu verlieren

Wäre ich nicht verheiratet (in der Regel sehr glücklich, möchte ich anmerken), wäre ich der Idee des Speeddatings vermutlich gar nicht so abgeneigt. 5 bis 10 Minuten kann ich mich ganz gut auf meinen Gesprächspartner konzentrieren, danach denke ich allerdings an Dinge wie „Was koche ich am Wochenende?“ oder „Mist, das große Wehwehchen braucht noch neue Hallenturnschuhe!“. Daher kostet mich der Elternsprechtag – vielmehr die Elternsprechtage, denn 30 fünfzehnminütige Gespräche passen einfach nicht in einen Nachmittag – vor allem eins: Durchhaltevermögen.

Acht Stunden Redezeit verteilt auf zwei oder mehr Tage (Unterricht darf in der Grundschule dafür nicht ausfallen) benötigen daher neben einer guten fachlichen Vorbereitung auch eine durchdachte materielle Ausstattung. Meine Standardliste umfasst seit einigen Jahren folgende Punkte:

  • ein Liter Kaffee nebst einem Liter Wasser, um Konzentrations- und Flüssigkeitsverlust vorzubeugen.
  • ein Outfit im Zwiebellook (spätestens ab Gespräch Nummer drei komme ich erfahrungsgemäß in Wallungswärme und muss Federn Klamotten lassen).
  • ein gesundheitlich mindestens als bedenklich einzustufendes Deo, das 48 Stunden Frische verspricht und wenigstens zwei Stunden psychologische Gesprächsführung hält. Dann muss man dezent nachlegen.
  • Haferflockenkekse! Ehrlich, Haferflockenkekse sind ein unerlässliches Hilfsmittel. Damit kann man sich oder dem Gegenüber in Momenten der Not einen Augenblick Bedenkzeit verschaffen. Außerdem wirkt ein Keksteller immer einladend und vertrauensbildend. So ganz anders als in einem sterilen Physikraum!
  • Die wichtige Liste. Auf dieser Liste sind all die kleinen Unternehmungen oder Dinge verzeichnet, für die ich angesichts der Schülermenge Unterstützung benötige. Lässt es sich beim Elternabend noch gut wegschauen, wenn ich nach Schnibbeleltern für das gesunde Obstfrühstück frage, so knicken in der Eins-zu-eins-Situation die meisten Eltern ein, wenn ich sie ganz persönlich um Beistand ersuche.
  • Unterlagen. Neben den Notenlisten sind dies Aufzeichnungen zu Arbeits- und Sozialverhalten, Informationen der Fachkolleginnen, Telefonnummern von Beratungsstellen oder anderen Externen, Arbeitsproben, aber auch – Obacht, fieser Grundschultipp! – kleine Liebesbeweise wie Briefchen oder Bilder der Zweitklässler, die ich in den Schülerakten verwahre. Einerseits können sie prima als Beispiel der Schreibentwicklung oder Feinmotorik herangezogen werden, zeugen aber (noch viel wichtiger!) von einer fröhlichen und liebevollen Lehrer-Schüler-Beziehung. Manchen Eltern tut es ganz gut, wenn sie sehen, dass Paul („Liebe Frau Weh, du bist die tollste. Echt jetzt!“) ein deutlich geringeres Problem mit seiner Lehrerin („Lieber Paul! Ich finde dich auch richtig super!“) hat als sie selber.
  • Eine Uhr in Sichtweite. Die meisten Gespräche sind nach fünf bis zehn Minuten geführt. Der Rest ist Wiederholung und Smalltalk. Was man in dieser Zeit nicht besprechen konnte, benötigt sowieso einen Extratermin. Dem Überziehen keine Chance! Denn wenn jedes Gespräch auch nur ein Ave-Maria länger dauert, verschlechtert sich die Laune der wartenden Eltern proportional. Kommen noch Anspannung oder eine Meinungsverschiedenheit dazu, wird aus dem Ave-Maria ganz schnell ein ausgewachsenes Halleluja!

Zwei weitere Dinge halte ich ebenfalls für enorm wichtig:

  • Pufferzonen! Eine ausgewogene Gesprächsverteilung zwischen problembehafteten Terminen und Momenten zum Loben und Luftholen tut definitiv not und dient der eigenen Psychohygiene. Es ist eben schöner, sich auf der gesamten Klaviatur der Gesprächskultur auszutoben als nur auf den schwarzen Tasten zu verharren.
  • die Aussicht auf Belohnung. Nach den Gesprächen muss unbedingt etwas Schönes oder Erholsames folgen: Schuhe kaufen ist gut, Zahnarztbesuch eher weniger. Essen gehen: super! Einkaufen, um dann unter Zeitdruck Essen für die verhungerte Familie zu kochen: suboptimal.

Derart vorbereitet sind die Elternsprechtage dann natürlich ein Klacks für die professionelle Lehrkraft und ein Quell steter Freude. In diesem Sinne: Lasset die Spiele beginnen!

 

zurückgekehrt

Nein, nicht das Kranksein ist das Problem am Kranksein.

Auch nicht der morgendliche zerknirschte Anruf bei der Konrektorin am Tage des Ausbruchs. Nein, das wirklich Schlimme am Kranksein ist das Wiederkommen. Die ersten Schritte in den bis dato ordentlich strukturierten eigenen Klassenraum lassen jede gerade Genesende wanken. Trostlos schweift der Blick über die Ruinen struktureller Arbeit und landet am Ankerplatz pädagogischer Hoffnungen. Doch nirgendwo sonst kommt das Chaos, das jedes schulische Krisenmanagement unweigerlich mit sich bringt, schmerzhafter zum Vorschein als auf dem Schreibtisch. So gleicht die Rückgewinnung des liebgewonnenen Lehrerpultes der Wiedereroberung einer Stadt nach der feindlichen Übernahme barbarischer Volksstämme. Hier wurde aufs übelste geberserkert. Grundlegende Ordnungssysteme wurden von einem eilig durchgeführten Vertretungskonzept martialisch in Schutt und Asche gelegt. Einst heilige Flächen des Freiraumes zeigen sich geschändet und zerstört. Nun liegen sie da unter unordentlich zusammengefegten Notizen und Zetteln kryptischen Inhaltes. Ein kleiner Schokoladenkäfer – noch letzte Woche freudige Liebesgabe einer Zweitklässlerin – lugt traurig unter einem Papierstapel hervor, plattgedrückt vom Gewicht in Überzahl kopierter Arbeitsblätter.

Ähnlich den Anzeichen äußerlicher Zerrüttung stellt sich auch das Seelenleben der durch den Vertretungsunterricht der letzten Tage arg gebeutelten Zweitklässler dar. Es fehlt ihnen an vielem: An Hausaufgaben, Handschuhen und Herzlichkeit.

„Dass du endlich wieder da bist, Frau Weh!“, schnieft Nick in genau der richtigen Mischung aus Kummer und gelbgrünem Rotz und hinterlässt beides in einer ungestümen Umarmung auf meinem Pullover. „Dass du ENDLICH wieder da bist!“

(Als hätte ich Schiffbruch erlitten und wäre monatelang auf See verschollen und nicht ein paar Tage mit Wärmflasche im Bett gewesen.)

„Auch Lehrer werden manchmal krank“, sage ich entschuldigend und wische mit einem Papiertuch an meinem Pulli herum. Vergeblich übrigens, Kinderrotz hat die Konsistenz von industriellem Kraftkleber. Aber der Blick in Dutzende bekümmerter Welpenaugen zeigt mir, dass ich moralisch ganz daneben liege mit dieser Einschätzung, weil nicht ist, was nicht sein darf. In ihrer Unfehlbarkeit (sic!) liegt die durchschnittliche Grundschullehrerin schließlich nur knapp hinterm lieben Gott. Und hat man je gehört, dass der sich wegen eines Schnupfens von der Arbeit fernhielte? Na, eben!

Ganz eindeutig haben die Zweitklässler also nicht nur mehr gelitten als ich, sondern mich auch mehr vermisst als ich sie. Krakelige Genesungswünsche auf herzenumrankten Zetteln zeugen davon.

„Ich vermise dich so ser! Du bist einfach gut und schön und nett und schümpfst viel weniger als die Frau Dingens. Und obwol du nicht gar nicht schümpfst kannst du uns was beibringen und tust das ja auch. Das zeigt das du Herz hast und Köpfchen auch. Es ist würklich schreklich das du jetzt zu krank bist um zu uns zu kommen.“

lese ich auf einem von ihnen und fühle mich gleich ein wenig besser mit meiner roten Nase, den Ringen unter den Augen und der nach wie vor zu Hustenattacken neigenden Stimme. Wir sollten dringend was zur Lautunterscheidung I – Ü machen, denke ich, und daran merkt man ja auch, dass ich eigentlich schon wieder total gesund und unterrichtsreif bin.

„Dann fangen wir mal an, Ihr Lieben!“, rufe ich, greife mir einen der zahlreichen unsortierten Blätterstapel vom Schreibtisch und angele mit dem Fuß nach der Papiertonne. „Holt alle losen Blätter aus eurem Ranzen, wir machen mal Klarschiff!“

Und das klingt jetzt doch wieder ein bisschen wie nach glücklich überstandenem Schiffbruch. Ahoi, Matrosen!

Clean Teaching

„Und wenn ich noch einmal neu anfangen würde?“

Dieser Satz, laut ausgesprochen, schwebt über allem. Über dem auf dem Boden ausgebreiteten Material, über den Ordnerrücken, die herablassend aus den Regalreihen blicken, und über meiner immer größer werdenden Verzweiflung. Jetzt gerade ist es mir zu viel. Zu viel Zeug, zu viel abgeheftete Ideen, zu viel papiergewordene Möglichkeiten der Wissensvermittlung. Ich will ja unterrichten, natürlich, aber ich will auch locker sein und frei sein von Themensammlungen, die mich schon jahrelang begleiten und immer fetter und feister werden von all den zusätzlich hineingeschobenen Blättern und kopierten Artikeln, den zwischendurch angeschafften Themenheften und dem das kannst du bestimmt einmal verwenden.

Neu anfangen. Die Papiertonne bis zum Anschlag füllen und nur noch das abheften – oder besser noch in digitalisierter Form speichern – was wirklich zielführend ist. Dinge einfach loslassen und sich wieder mehr auf Intuition und Spontaneität verlassen statt auf immer größer werdende Stapel von Fachliteratur, die ich irgendwann einmal in Ruhe lesen möchte. Denn, wenn ich ehrlich bin, dieses irgendwann wird es wohl nie geben. Und wenn es doch einmal so weit sein wird, dass die Nachmittage wieder ruhiger und die Abende frei von Vokabelabfragen oder Abholterminen der Wehwehchen sind, werden die ganzen vermeintlich wichtigen Dinge möglicherweise nicht nur äußerlich, sondern auch inhaltlich Staub angesetzt haben. Aktuelle didaktische Diskussionen verfolge ich im Internet sowie durch Lehrerzimmerlektüre. Und beileibe nicht alles, was Trend ist, muss mein sein.

Ein Spaziergang durch unseren Schulkeller bestätigt mein Unbehagen. Dort befindet sich tonnenweise Material, eingetütet, abgeheftet, in Kisten verpackt. Möglich, dass dort wahre Schätze lagern! Doch welche Kollegin hat die Zeit und das Interesse daran, sich durch die langsam vor sich hingilbenden Hinterlassenschaften längst in Ruhestand versetzter Lehrerinnen und Lehrer zu arbeiten? Es spukt der jeweilige Zeitgeist durch zugige Flure. Und so stapelt sich die Wissensvermittlung der letzten Jahrzehnte und modert vor sich hin. Wieviel Arbeitszeit darin stecken mag? Wie viel Hektar Wald, wie viel Liter Erdöl?

Ich wünsche mir nicht die Zeit der Schiefertafel zurück (obgleich ich gegen dieselbe keinerlei Einwände habe, ist sie doch so ungleich ressourcenschonender als jeder gedruckte Schreiblehrgang), aber ich wünsche mir eine Wissensvermittlung, die mit ein bisschen weniger buntem Schnickschnack auskommt. Natürlich bin ich an dem Dilemma, in dem ich gerade stecke, gänzlich selber schuld! Schließlich bin ich diejenige, die in den letzten Jahren gekauft, gewerkelt, kopiert und für die Ewigkeit laminiert hat. Weil es schön ist, auch ein Eichhörnchenpuzzle zu haben, oder 30 Somawürfel. Weil es auf Eventualitäten vorbereitet und Differenzierung leichter scheinen lässt. Aber bin ich dadurch in meinem Unterrichten besser geworden? Wenigstens ein leichter Zweifel scheint mir angebracht.

Wie praktisch, dass gerade Januar ist. Da verkündet sowieso alle Welt, was man in diesem Jahr aber wirklich einmal richtig anpacken will. Sparen und verzichten befinden sich bekanntermaßen immer in der Top Five der guten Vorsätze. Da betrete ich zumindest kein Neuland, wenn ich mich aufmache an Material zu sparen und auf Neuanschaffungen weitmöglichst zu verzichten, Dinge aus meinem Fundus zu gebrauchen oder weiterzugeben, wenn sie sich als nicht (mehr) zweckmäßig entpuppen. Weniger Zeug in der Klasse – ist ja sowieso schon voll genug dort. Je mehr ich darüber nachdenke, desto fröhlicher werde ich. Aufräumen und entrümpeln kann ich wirklich gut und mache ich extrem gerne (Familie Weh kann ein Lied davon singen …). Also verschlanke ich dieses Jahr mein Arbeitszimmer, unterziehe mein Material einer didaktischen Detoxkur und specke künstlich aufgeblasene Unterrichtsreihen ab. Oooh, es wird so wunderbar! Und ich weiß auch schon, wie ich es nenne:

Clean Teaching statt Clean Eating!

YES! 🙂

Anarchie im Adventskalender

21.12.2015

Liebe Zweitklässler,

heute dürft ihr euch eine Aufgabe für eure Lehrerin überlegen.

Es ist gerade 8:15 Uhr, als mich der Hausmeister im Flur vor meinem Klassenraum sitzend antrifft.

„Was machst du denn hier? Solltest du nicht eigentlich da drin sein?“, nickt er in Richtung verschlossener Klassentür.

„Ich bin rausgeflogen“, antworte ich schulterzuckend.

„Ist mir auch schon passiert“, sagt er tröstend, murmelt irgendetwas von verstopftem Abfluss und geht seines Weges.

Die Zeit verstreicht. Schon 8:20 Uhr. Was die Zweitklässler jetzt wohl machen? Ob ich mal klopfen soll? Nein, das ist würdelos. Aber vielleicht mal kurz das Ohr an die Tür …? Nur ganz kurz! Ganz schön leise da drin. Sie können ja schon, wenn sie wollen. (Sie wollen nur so selten.) Und wenn sie mich jetzt die ganze Stunde vor der Türe sitzen lassen, die kleinen Seuchenvögel? Ha, dann hole ich mir einen Kaffee und das neue Lehrerheftchen vom VBE aus dem Lehrerzimmer! Da komme ich ja sonst nie zu.

Eigentlich ganz schön so … Darf ich das überhaupt? Die ganze Zeit so vor der Türe rumsitzen? Ob die sich da drinnen jetzt gerade beaufsichtigt fühlen? Hmm … die kichern doch!? Vielleicht klettern die Zweitklässler gerade alle hintenrum aus dem Fenster und lachen sich halb tot. Und ich sitze hier mit Kaffee und Schule heute und kriege nix mit. Das ist unprofessionell.

Ich hasse unprofessionell.

Doch! Die kichern! Also sind sie noch drin, das ist gut! Worüber reden die denn so lange? Meine Güte, nächstes Jahr bekommt die Klasse einen stinknormalen Adventskalender mit Süßkram, statt einen mit gruppendynamischen Aufgaben. Mir doch egal, wenn die alle überzuckern. Sind sie ja sowieso im Advent, überzuckert und überdreht! Gut, wenn ich die jetzt mal zwei Wochen nicht sehe! Da drehen einige echt hochtourig. Ganz schön anstrengend, diese Tage vor Weihnachten. Wenn die Eltern das mal wüssten … Alle überzuckert!

Ich glaube, ich bin gerade ein bisschen unterzuckert. Sind eigentlich noch Kekse im Lehrerzimmer? Aber wenn ich da jetzt noch einmal vorbeigehe, dann kriegt bestimmt der Chef mit, dass ich Unterricht schwänze. Hmm …

Aber eigentlich mache ich das gar nicht. Also schwänzen. Ich bin ja herausgebeten worden. Das ist was anderes. Der Kaffee? Ja, gut, da könnte man jetzt drüber streiten. Aber immerhin rauche ich nicht! Das wäre daneben! Aber rauchen fand ich schon immer unattraktiv. Mein erster Freund hat geraucht. Damals war das ja noch schick. Aber damals fuhr man ja auch noch Mofa. Also, die anderen fuhren Mofa. Ich hatte ein Fahrrad. Und Blockflötenunterricht. Nix mit Rauchen und so.

Gleich halb neun! Ich geh da jetzt rein! Mir doch egal, wenn die Zweitklässler noch nicht fertig sind! Die sollten sich schließlich nur eine Aufgabe ausdenken, keine neue Regierungsform initiieren.

Ah, Schritte! Ich höre Schritte!

„Frau Wehee, Sie können jetzt wieder reinkommen!“, Sophie guckt mich mit ernstem Gesicht an und deutet in den Raum.

Neugierig betrete ich den Raum und setze ich mich auf meinen Platz im Kreis. Einige Zweitklässler schauen betont streng, andere unterdrücken mühsam ein Grinsen.

„Danke, Sophie!“, sagt Nick hoheitsvoll und wendet sich mir zu. „Wir haben uns entschieden, was Ihre Aufgabe ist, Frau Weh.“

Kunstpause.

„Wir haben beschlossen, dass wir einfach mal machen dürfen, was wir wollen.“

„Hah, das macht ihr doch sowieso! Außerdem ist das keine Aufgabe für mich. Das ist eine Aufgabe für euch!“, entgegne ich spitzfindig. Und dafür saß ich jetzt ewig im kalten Flur? Wenn das mal keinen Blasenpips gibt!

Großes Gelächter erfüllt die Klasse.

„Haha, Frau Weh, witzig!“

„Der war gut, Frau Weh!“

„Haben Sie nicht verstanden, stimmt’s?“

Jetzt ist aber langsam gut. Entrüstet ziehe ich eine Augenbraue hoch und fast sofort wird es wieder ruhig in der Klasse.

„Wir haben das gerade schon gemacht. Also, was wir wollten. Und Ihre Aufgabe war mal gar nix zu machen. Das wünschen Sie sich doch. Haben Sie am Freitag noch gesagt, das Sie mal nix machen wollen. Und das“, jetzt muss sogar der so gefasste Nick glucksen, „haben Sie auch schon gerade gemacht. Also nix! Wir sind gut, ne?“

advenire

Frau Weh unter'm Weihnachtsbaum

„Hier, hab ich für dich gemalt“, nuschelt Ramon und schiebt mir einen Zettel auf den Schreibtisch.

Ramon hasst malen. Jedes Bild, das es während des Unterrichts oder als Hausaufgabe auszumalen gilt, führt unweigerlich zu einer mittelgroßen Katastrophe mit fliegenden Stiften und fliehenden Worten. Kunst ist das Fach, das er am wenigsten mag. Gleich neben Mathe und Deutsch. Und Religion. Uuh, und Englisch, da wird ja auch immer so viel geschnibbelt und geklebt. Aber jetzt ist Advent und die Zweitklässler sind Weihnachtswichtel in besonderer Mission: Sie bringen Freude (und Kekse und Weihnachts-CDs und zuckerbunte Klitzekleinigkeiten) und verteilen sie freigiebig. Ramon malt also. Das erste Mal in diesem Schuljahr.

Ich streiche ihm über den asymmetrisch geschnittenen Rambohaarschnitt. „Lass mich mal sehen.“

Die kleine Frau Weh hat nur drei Finger an jeder Hand und keine Nase. Dass sie keine Füße hat, ist nur gut, denn dann kann sie nicht weglaufen, so wie der Papa. Aber was für ein warmes Lächeln in ihrem Gesicht! Sie schwebt ein wenig über den Dingen, das hat er gut beobachtet, und auch der lange Hals, der ihr ermöglicht über alles einen wachen Blick zu haben, sagt mir zu. Die Haare sind etwas in Unordnung und könnten mal wieder einen ordentlichen Schnitt vertragen, aber vor Weihnachten kommt ja auch alles immer so geballt, wann soll man es da noch zum Friseur schaffen? Die Augen sind groß und blicken deutlich wacher als in echt, dafür ist der orange Jumpsuit etwas übertrieben. Im Original trage ich lieber was über’m Popo.

Der Weihnachtsbaum ist festlich geschmückt mit Kugeln und Lichtern und obendrauf sitzt noch ein Stern mit richtigen Zacken, obwohl die so schwer zu malen sind. Die Tannenspitzen zeigen alle nach oben, was für ein optimistischer Zug! Der Baumstamm – breit, stabil und erdverbunden – bringt Stabilität und Beständigkeit in das Bild. Auf die Frage, ob die kleine Frau Weh ein Laserschwert in der Hand halte, lacht Ramon auf und schüttelt energisch den Kopf. Das sei doch die Verbindung zum Himmel. Die trage doch jeder in sich, habe die Religionslehrerin gesagt. Und rot muss die sein wegen der Liebe. Liebe ist viel auf dem Bild, das kann ich schon erkennen.

„Schönes Bild!“, meint Marc anerkennend, als er vorbeikommt, um sich mein Klebeband auszuleihen.

„Ja, superschönes Bild!“, bestätige ich und lächle Ramon zu. Blickkontakt. Ganze 5 Sekunden. Ankommen hat viele Gesichter.

 

Alles wird gut

Es liegt an mir den Kindern Ruhe zu geben in dieser Zeit.

Ruhe, Zuversicht, Sicherheit. So ungleich wichtiger als die Vermittlung von Kompetenzen oder die Arbeit an Schulprogramm und Leistungskonzept. Viel geredet wird von den Zweitklässlern nicht über das aktuelle Zeitgeschehen. Es ist schwer, das Unbehagen der eigenen Eltern in Worte zu fassen, wenn man sieben Jahre alt ist. Aber dass in manchen Familien Thema ist, was uns als Thema aufgezwungen wurde, weil es so unfassbar und nah ist, das spüre ich daran, dass in diesen Tagen mehr Kontakt gesucht wird. Da sitzen Michelle und Samira ganz eng auf einem der kleinen Arbeitsteppiche über einem Buch. Marc begrüßt mich mit einer wortlosen Umarmung. Merve und Nick streiten über Religion und stolpern dabei über die abwertenden Verallgemeinerungen der Eltern. Ich höre zu und rücke sanft zurecht, wo Ängste in falsche Worte gekleidet werden.
Wir malen Kerzen. Für unsere Fenster, aber auch für die, in denen es dunkel ist. „Kerzen helfen“, sagt Sophie und erzählt, dass ihre Oma immer in der Kirche eine anzündet und sie das dann auch darf, mit dem langen Docht, der dort liegt, unter der Maria mit ihrem Baby.
„Warum helfen Kerzen denn?“, fragt Yasin und verharrt, den Pinsel in der Luft.
„Na, weil die doch Licht bringen und das brauchen ja alle.“, antwortet Ole und zählt an seiner Hand Pflanzen, Tiere und Menschen auf.
„Haha, das sind ja alles Nomen!“, lacht Leonie und freut sich über ihre Feststellung.
„Ist doch klar, dass das alles Nomen sind“, ärgert sich Ole. „die brauchen ja auch alle einen Namen, um zu existieren. So wie wir eben auch das Licht brauchen. Alles braucht einen Namen.“
Wie so oft staune ich über die schlichte Wahrheit, die einige Kinder zu äußern imstande sind, und argwöhne, dass so mancher Philosoph heimlich auf Schulhöfen gelauscht haben muss. Vor unserer Klassentüre mögen Kolleginnen krank sein, Elterngespräche für Unruhe sorgen oder die Welt hart auf die Bremse treten. In unserem Raum bereitet die Ruhe den Boden für Gedanken. Mir kommt das Zitat von Etty Hillesum in den Kopf, das über meinem Schreibtisch hängt:
„Das ist eigentlich unsere einzige moralische Aufgabe: sich selbst große Flächen urbar zu machen für die Ruhe, für immer mehr Ruhe, sodass man diese Ruhe wieder auf andere ausstrahlen kann. Und je mehr Ruhe in den Menschen ist, desto ruhiger wird es auch in dieser aufgeregten Welt sein.“
Diese Worte möchte ich so sehr verinnerlichen wie kaum etwas anderes. Die darin enthaltene Wahrheit verinnerlichen und weitergeben an die Menschen, die um mich herum sind. Gerade, weil sie sieben Jahre alt sind. Sieben Jahre sind ein gutes Alter für Ruhe und große Gedanken.
Ein bisschen, weil es Spaß macht, aber auch ein bisschen, weil es hilft, dem seltsamen Gefühl im Bauch zu begegnen, geben die Zweitklässlern ihren Kerzen Namen. Kraftvolle und schöne. Da gibt es die Kerze Traum und die Kerze Frieden, die Kerze Wünsche und die Kerze Wir alle. Meine Kerze heißt Alles wird gut und die Kinder nicken zufrieden, als sie es hören. „Das glaubst du immer, Frau Weh, oder? Dass alles gut wird, meine ich. Du sagst das oft!“
„Klar“, lautet meine Antwort und die lächelnde Zuversicht, die ich in meine Stimme lege, bringt die Kinder in Bewegung wie das Licht einer Straßenlaterne Nachtfalter zum Tanzen bringt. „Daran glaube ich ganz fest. Alles wird gut!“

Apfelzeit

Zum Geburtstag bekomme ich in der Regel von meiner Klasse einen Blumenstrauß. Zu Weihnachten gibt es ein Geschenk. Natürlich ein kleines oder eines, das dem Einsatz in der Schule dient. Alles andere verbietet sich ja (fast) von selbst. So weit, so gut. Dass nun die Zweitklässler vor mir stehen – mitten im Jahr und ohne erkennbaren Anlass – und zwischen sich einen Korb Äpfel balancieren, trifft mich unerwartet.

„In Amerika“, liest Luisa von einem Zettel ab, „schenken die Schüler ihrem Lehrer einen Apfel als Zeichen der Anerkennung und als Dank für die Arbeit.“ Sie schaut von ihrem Zettel auf. „Du hast ja auch manchmal Arbeit mit uns, sagt mein Papa.“ Sie überlegt. „Aber du sagst ja eigentlich immer, dass du nur Freude mit uns hast.“ Ihre Nase kräuselt sich nachdenklich. „Egal. Trotzdem haben wir alle einen Apfel mitgebracht für dich, damit du ganz gesund bleibst und froh. Hier!“ Die Zweitklässler stellen den Korb vor mir auf den Boden.

Ich schlucke ein bisschen. Und atme. Und so.

Weinst du jetzt etwa!?“, fragt Can und schüttelt fassungslos den Kopf. (Erwachsene!)

„Quatsch!“, raunze ich ihn an, „Das ist flüssige Freude.“